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Wolfgang Büscher ist zu Fuß von Berlin nach Moskau gelaufen. Allein. An die drei Monate. Im Hochsommer hat er die Oder überquert, an der russischen Grenze hat er die Herbststürme erlebt und vor Moskau dann den ersten Schnee. Büscher erkundet Menschen und Orte, erzählt von einer polnischen Gräfin, die eine der geheimnisvollsten Gestalten des Zweiten Weltkriegs war; von Schmugglerinnen, mit denen er die weißrussische Grenze überquert; von einem sibirischen Yogi, den er in Minsk kennenlernt; einem russischen Freund, mit dem er in die verbotene Zone von Tschernobyl fährt.

Produktbeschreibung
Wolfgang Büscher ist zu Fuß von Berlin nach Moskau gelaufen. Allein. An die drei Monate. Im Hochsommer hat er die Oder überquert, an der russischen Grenze hat er die Herbststürme erlebt und vor Moskau dann den ersten Schnee. Büscher erkundet Menschen und Orte, erzählt von einer polnischen Gräfin, die eine der geheimnisvollsten Gestalten des Zweiten Weltkriegs war; von Schmugglerinnen, mit denen er die weißrussische Grenze überquert; von einem sibirischen Yogi, den er in Minsk kennenlernt; einem russischen Freund, mit dem er in die verbotene Zone von Tschernobyl fährt.

Autorenporträt
Wolfgang Büscher, geboren 1951 bei Kassel, ist Schriftsteller und Autor der 'Welt'. 'Er hat der Reiseliteratur', wie es im 'Deutschlandfunk' hieß, 'zu neuem Glanz verholfen.' Zu seinen Veröffentlichungen zählen 'Berlin - Moskau' (2003), 'Deutschland, eine Reise' (2005), 'Hartland' (2011) und 'Ein Frühling in Jerusalem' (2014). Für sein Werk wurde Wolfgang Büscher vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kurt-Tucholsky-Preis, dem Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis und dem Ludwig-Börne-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.06.2003

Der Osten ist etwas, das keiner haben will
Wandern im Geschichtengrab: Mit seiner Reise von Berlin nach Moskau bewältigt Wolfgang Büscher den Rohstoff Erinnerung

Hundert Kilometer vor Minsk fragt ihn das erste Mal einer nicht, woher er komme, sondern wohin er ginge - "und als ich es ihm hersagte, Minsk, Borissow, Orscha, Smolensk, Mojaisk und irgendwann Moskau, schlug er mir auf die Schulter: ,Den Weg nehmen die Deutschen immer.'" Auch Napoleon hat diesen Weg genommen, aber seit 1941 die Heeresgruppe Mitte der deutschen Wehrmacht ihn einschlug, werden nicht mehr allzu viele Deutsche von Berlin nach Moskau marschiert sein. Vor zwei Jahren hat es dann doch einer getan, und man fragt sich im nachhinein, warum niemand früher auf diese Idee gekommen ist. Nach Lektüre von Wolfgang Büschers "Reise zu Fuß" muß man sagen: Zum Glück ist niemand früher auf die Idee gekommen. Denn dieses Buch ist ein Ereignis.

Im Hochsommer des Jahres 2001 verläßt der Journalist Büscher - er wurde 1951 in Kassel geboren, leitet bei der "Welt" das Ressort Reportage - mit einem Rucksack, handgenähten Wanderstiefeln und Grundkenntnissen des Russischen die Stadt Berlin, "so geradeaus wie möglich nach Osten". Er weiß, daß er am Anfang einer "Ungeheuerlichkeit" steht, sein Drang "Nach Moskau!" ist nicht zuletzt eine Strapaze, die er mit dem Leben bezahlen könnte: Weite Strecken seiner Route gelten nicht eben als klassisches Terrain für sentimentalische Wanderungen. Knapp dreitausend Kilometer Fußmarsch liegen vor ihm, er wird gehen, gehen, gehen. Er wird die meiste Zeit allein sein mit seinen Schritten, in menschenleeren Landschaften, in dunklen Wäldern und unter einem fremden Himmel. Viele Nächte auf schäbigen Pritschen in heruntergekommenen Herbergen. Aber er ist nicht ganz allein, ein Geist ist bei ihm, ein toter deutscher Landser, der diesen Weg vor ihm gegangen ist - Büschers Großvater, von dem niemand weiß, wie und wo er gestorben ist. Der Wanderer flüstert ihm zu: "Ich werde über dich gehen, ohne daß du es merkst. Sei ganz ruhig, ich werde durch dich hindurchgehen wie der Wind."

Schon nach zwanzig Seiten ist er an der polnischen Grenze, fällt die Tür nach Deutschland buchstäblich ins Schloß. Siebenhundert Kilometer quer durch Polen liegen vor ihm, der beschaulichere Teil der Reise. Büscher hat zunächst ein Netz von Kontaktpersonen, die ihm das Fortkommen erleichtern. Er kommt, sieht und saugt in sich auf, was an Gerüchen, Geschmäckern und Gedanken am Wegesrand liegt. Beim Gehen über die Dörfer wird er mit Schicksalen konfrontiert, die, so anrührend sie sein mögen, immer quälend verstrickt sind in die Geschichte, die hier als sehr viel lebendiger empfunden wird als im Westen. Hinter Bialystok liegt die "Grenze der Zukunft", dort wird einmal die Europäische Union enden, und der Osten wird als das große Paradoxistan dann weitergereicht werden bis nach Moskau. Aber Moskau, das ist schon wieder der Westen. Der Osten ist etwas, notiert Büscher, "das keiner haben will. Das sich jeder von der Jacke schnippt wie Vogeldreck."

Mit dem Überschreiten der polnischen Grenze beginnt der wirkliche wilde Osten, das weiße Land, das Reich des diktatorischen Präsidenten Lukaschenka. In einem Bus voller Schmugglerinnen kommt der Autor in das Reich des Bösen. Weißrußland entpuppt sich freilich als viel weniger bedrohlich, als es im Westen alle wissen wollten - es ist einfach nur ein müdes, vom Kommunismus ausgelaugtes Land. Und mit einem Mal, beim Gehen durch die "Ruine seiner lebenslangen Raserei", empfindet Büscher Mitleid mit dem Kommunismus: "Er nahm menschliche Züge an. Er war alt. Er konnte nicht mehr." Von Minsk aus fährt ihn ein Liquidator, ein ehemaliger Feuerwehrmann, der zur Evakuierung der Bevölkerung abkommandiert war, in die Todeszone von Tschernobyl. Zeichen überall: Im achten Kapitel der Offenbarung des Johannes ist die Rede vom brennenden Stern Wermut, der vom Himmel fällt und das Wasser bitter werden läßt. Im Russischen heißt der Wermutstrauch Tschernobylnik. Ein "manchmal überfeiner Sinn für die Apokalypse" ist hier am Werk, was den Reporter nicht davon abhält, sich im Dampfbad von einem Yogi mit Wermutzweigen peitschen zu lassen.

Apokalypsen auch andernorts: In einer menschenleeren Cafeteria in Witebsk zeigt ein Fernseher diese Bilder: "Ein rauchendes Hochhaus war zu sehen, dann kam ein Flugzeug und flog darauf zu, ich dachte, auch das noch, erst dieser Großbrand, dann rast auch noch ein Flugzeug hinein, wahrscheinlich die Orientierung verloren ..." Es ist der 11. September 2001, im "Geschichtengrab" des Ostens wird Weltgeschichte simultan aus dem Westen übertragen.

In der Vorrede zu seinem "Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802" hat Johann Gottfried Seume die poetische Gebrauchsanweisung für die Gattung Fußmarschliteratur ausgegeben: "In Romanen hat man uns nun lange genug alte, nicht mehr geläugnete Wahrheiten dichterisch eingekleidet, dargestellt und tausend Mahl wiederholt. Ich tadle dieses nicht; es ist der Anfang: aber immer nur Milchspeise für Kinder. Wir sollten doch endlich auch Männer werden, und beginnen die Sachen ernsthaft geschichtsmäßig zu nehmen. (...) Örter, Personen, Nahmen, Umstände sollten immer bey den Thatsachen als Belege seyn, damit alles so viel als möglich aktenmäßig würde. Die Geschichte ist am Ende doch ganz allein das Magazin unsers Guten und Schlimmen."

Büschers Magazin ist bis unters Dach voll mit historischem Wissen. Wie Seume ist er der Wahrheit verpflichtet, aber er macht keinen Hehl daraus, daß es seine private Wahrheit ist. Manchmal ist sie bitter, immer lakonisch, niemals pathetisch und ganz selten überfließend emotional, wenn sich die Wut über den "Krieg der Russen gegen sich selbst" Bahn bricht in einer Attacke auf den Schrott, den das Kriegsregime hinterlassen hat. Daß sich der Autor jegliche Wasserblasen-Wehleidigkeit verkneift, heißt nicht, er verschwiege, wie er "vertiert" und zu einem Landstreicher geworden sei. Ausgemergelt treibt es ihn immer weiter, auf niederschmetternd langen Chausseen auf Moskau zu. Die Zeit drängt: Der Winter steht vor der Tür.

"Erinnerung war neben Holz der einzig exportfähige Rohstoff dieses Landes, und aus dem Westen, wo der Stoff knapper wurde, reisten Reporter, Drehbuchautoren, Schriftsteller an, um ihn hier abzubauen." - Wolfgang Büscher hätte es sich leichtmachen und ein dickes Tagebuch abliefern können; aber er hat sich auch beim Schreiben für die schwierigere Variante entschieden. Wie nur bei wirklich großen Reportagen zu beobachten, leistet Büscher Verdichtungsarbeit: Er vereint Landschaftsbilder mit Reflexionen, Porträts mit Analysen zu einer Genauigkeit, die gelegentlich vor Aufladung nur so knistert (nicht umsonst verweigert der Band die Beigabe einer Landkarte, die man zunächst vermißt). Aus dem Reporter ist in den zweiundachtzig Tagen seiner Wanderung, an deren Ende er ekstatisch das Ortsschild von Moskau umarmt, ein Schriftsteller geworden, von dem man noch einiges erwarten darf.

Wolfgang Büscher: "Berlin-Moskau". Eine Reise zu Fuß. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. 240 S., geb., 17,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.03.2003

Die Beresina ist nur ein Rinnsal
Große Reportage: Wolfgang Büschers wundervolle Fußreise von Berlin nach Moskau
Der Autor Wolfgang Büscher ging im Sommer 2001 zu Fuß von Berlin nach Moskau. Wenn man seinen Bericht darüber gelesen hat, fällt es schwer, einen so einfachen niederzuschreiben. Am liebsten würde man ihn mit Zauberkraft ausstatten, um gleich all das an Geschichtsgefühl und Bedeutungsfülle hineinzupacken, womit Büscher diese Wanderung unternahm. Seine Erzählung ist mehr als beeindruckend, nämlich, angemessen altmodisch gesagt, unvergesslich, und sie hat gute Aussichten, einmal zu den Klassikern der Reiseliteratur zählen – noch vor Bruce Chatwins Büchern, nicht zuletzt deshalb, weil Ostmitteleuropa so unendlich viel weniger langweilig ist als Patagonien.
Büscher, heute Mitarbeiter der „Welt”, seit langem durch Reportagen in vielen großen Zeitungen bekannt, ist einer der wenigen deutschen Schriftsteller, die etwas aus der Friedensdividende des Jahres 1989 gemacht haben. 1996 erschien sein Band „Drei Stunden Null”, er handelte von Berlin, seiner Katastrophe 1945 und seiner wunderbaren Wiedervereinigung 1989. Das leichteste Stück berichtete von einer Umwanderung der Hauptstadt.
Büschers Unternehmen von 2001 ist kühner. Im Prinzip war es ja bekannt: Die Grenzen zwischen Berlin und Moskau sind offen, zwischen diesen beiden Hauptorten des Kalten Krieges liegt wenn nicht blühendes, so doch friedliches Land. Doch vor Büscher hat niemand das wörtlich genommen, und mehr als wörtlich, nämlich leiblich. Ohne Zweifel hat er sich präzise vorbereitet, er wird Karten studiert, Erkundigungen eingezogen, Sprachkenntnisse aufpoliert haben, seine Kriegskasse wird voll gewesen sein. Doch dann geht es ganz einfach los. Büscher bricht auf, und es klingt wie aus einem alten Buch: „Eines Nachts, als der Sommer am tiefsten war, zog ich die Tür hinter mir zu und ging los, so geradeaus wie möglich nach Osten. Berlin war ganz still an diesem frühen Morgen. Alles, was ich hörte, war das Pochen der eigenen Schritte auf den Dielen, dann auf Granit. Eine Süße lag in der Luft, das waren die Linden, und Berlin lag wach, aber es hörte mich nicht. Es lag wach wie immer und wartete wie immer und hing wirren, gewaltigen Träumen nach, die aufblitzten wie das Wetterleuchten dort über dem Häusermassiv.”
Das alte Buch, nach dem das klingt, muss ein zerlesener Schmöker der Zeit um 1920 sein, zwischen Klabund, Jünger und Dwinger, dem späten Wandervogel und der weltreisenden Sportlichkeit demobilisierter Weltkriegssoldaten. Hinter den Büchern der Jugendbewegung stand freilich die deutsche Romantik, die Welt des Blonden Eckbert und des Taugenichts. Es ist nicht überflüssig, daran zu erinnern, denn Büschers Bericht verrät an vielen Stellen das Bewusstsein von seinen literarischen Vorläufern.
Am Übergang zwischen Weißrussland und Russland trifft er nach einem schaurigen Regentag auf einen unerwartet freundlichen Grenzposten: „Also, nach Moskau wollen Sie gehen?”, sagt der Grenzer und fügt hinzu: „Nu dawai” – Na dann, vorwärts. „Ich hatte seinen Segen”, fährt Büscher fort. „Wir gaben uns die Hand und schieden als Freunde, was vermutlich ein Satz von Karl May ist und jedenfalls stark übertrieben, aber an jenem Weltregenabend an der russischen Grenze war es das nicht.”
Dieser Autor fällt auf sein Gefühl doch nicht herein, mag man da aufatmen. Aber es geht weiter: „Wer je einen Weg unter ähnlichen Umständen ging, weiß, dass ein Handschlag, ein einziges Wort die Macht hat, einen Verzagenden glücklich zu machen, bereit, den Weg noch einmal zu gehen und noch ein weiteres Mal, wenn es sein muss.” Schon zwei Tagesmärsche hinter Berlin – kaum aus dem Rayon der S-Bahn heraus! - findet Büscher sich nach wenigen Gesprächen am Wegrand „in einer Ernst-Wiechert-Welt, in der abtrünnige Großstadtmaler und Nachfahren des verschwundenen Landadels einander zum Tee einluden, und ich sah es jetzt klar, Wiechert war ein melancholischer Bruder von Mark Twain, die Huckleberry-Finn-Stimmung mit Katzen und Tanten und Fluss und Silberlicht war doch im Grunde sehr deutsch, wenn man Ostelbien mitbedenkt. ”
Büschers Bericht ist sentimentalisch durch und durch, aus Überlieferung und immenser historischer Kenntnis bereicherte Empfindung, dabei aber ganz unmittelbar, der Gegenwart zugewandt, weil belebt durch die Ausgesetztheit und Einsamkeit des Wanderns und all der kuriosen Dinge, die er dabei in einer sich immer noch neu formierenden Welt sieht, hört und erlebt. Sie zu resümieren ist aussichtslos, denn gemessen an der Länge der Strecke – mehr als 2500 Kilometer (warum hat der Verlag eigentlich keine Karte beigefügt? Das bleibt vollkommen unbegreiflich) – muss man den Bericht kurz nennen, er ist das Kondensat einer Fülle, die man sich im Geist leicht verzehnfachen kann.
Schon die äußeren Umstände sind oft so komisch und rührend, dass sich Novellen daraus machen ließen. Hinter der Oder, in Polen, trifft Büscher auf eine Deutschlehrerin. Sie nimmt ihn auf, versorgt ihn. Dazu gehört ein Zettel mit Telefonnummern von Kolleginnen in fernen Städten und Dörfern, die auf Büschers Wegstrecke eine hilfreiche Menschenkette nach Osten bilden. Wo immer er anruft, erreicht er eine bereits bestens orientierte Fachkraft, die mit Kost, Logis, Kontakten und Hinweisen weiterhilft.
Von solchen Geschichten und Begegnungen ist das Buch voll. Der Wandernde ist ja nicht nur der Natur unmittelbar ausgesetzt, dem Boden, dem Wetter, den Insekten, ja Raubtieren, die aus russischen Wäldern bis zu den Dörfern vordringen, sondern auch der Gesellschaft. Man wirkt schwach als Fußgänger, man erweckt Misstrauen, im Lauf der Zeit wird man immer brauner, sandiger, zerschlissener. Büscher erzählt von prekären hygienischen Zuständen, vom Abwerfen überflüssigen Gepäcks, vom Schwitzen, Trinken und Stinken, er wird äußerlich immer wilder, je tiefer er ins eurasische Innere vorrückt – und man fragt sich, wie es ihm ergangen wäre, wenn er seine Reise in umgekehrter Richtung unternommen hätte, von Moskau in den Westen. Büscher war oft vor der Gefährlichkeit seiner Fußreise gewarnt worden – Mafia und Straßenraub allerorten! -, doch das innerste Russland erwies sich für den Fremden als weniger gefährlich denn Brandenburg.
Büschers geheimes Hauptthema ist der Friede – weil er weiß, dass er den Routen von Heeren folgt, über Schlachtfelder wandert und weil er überall mit den wenigen Überlebenden spricht. Sein Großvater war in Russland gefallen. Vor Seelow geht er die „Allee der Gehenkten” entlang, an deren Bäumen die SS im Frühjahr 1945 Deserteure und Defaitisten aufknüpfte. Das zerstörte Küstrin ist ihm kein Pompeji, sondern eine absichtsvoll ausgelöschte Stätte wie im präkolumbianischen Amerika. Viel weiter, in Katyn, trifft er auf verstörte russische Veteranen. Aber Büscher denkt auch an Napoleon. Die Beresina ist nur ein Rinnsal. Den Punkt, bis zu dem Hitlers Wehrmacht gelangte, bezeichnet er voller Bitterkeit. Über all dem ist ganz wörtlich Gras gewachsen, eine heilende Natur – nur bei Tschernobyl bleibt sie vergiftet – hat die Stätten des Grauens überwuchert. In den Städten nistet sich der westliche Konsum ein – aus kommunistischem Rot wird das Rot von Coca-Cola. Doch der Wandernde in seinen praktischen Militärklamotten gedenkt, wo er kann, des einstigen Unheils.
Die Menschen – darunter nicht wenige Geistliche –, zuweilen mürrisch und verständnislos, haben ihm in ihrer Mehrzahl doch weitergeholfen. Gerührte Dankbarkeit ist der Grundton dieses historisch hochbewussten Textes, und das Aufatmen nach dem Entronnensein. In Weißrussland stößt Büscher immer wieder auf die „viel zu gewaltigen, viel zu klobigen, viel zu gezackten” Propaganda- Denkmäler der sowjetischen Ära. „Wenn das Land etwas im Überfluss hatte, waren es Monumente, die Erinnerung wog nach Tonnen.” Man müsse fürchten, sie werde einfach im weichen, sumpfigen Boden verschwinden – „so heillos und hilflos, dass ich plötzlich etwas wie Mitleid mit dem Kommunismus empfand. Er nahm menschliche Züge an. Alt war er. Ich ging durch sein gefallenes Reich, durch die Hallen wehte der Wind, Unkraut wuchs in seinen Sälen.”
In Vitebsk sieht der Wanderer nach langer Zeit wieder einen Fernseher. Er steht auf einer Bar. „Ich stellte mich davor. Ein rauchendes Hochhaus war zu sehen, dann kam ein Flugzeug und flog darauf zu, ich dachte, auch das noch, erst dieser Großbrand, dann rast auch noch ein Flugzeug hinein, wahrscheinlich die Orientierung verloren, die Rauchentwicklung war ja enorm, dann gab es eine Explosion, und das Flugzeug tauchte auf der anderen Seite wieder auf.” Es ist der traurigste Moment des Buches, denn er zeigt uns, wie wenig wir das Geschenk von 1989, den großen Frieden genutzt, ja überhaupt nur wahrgenommen haben; und er lässt uns fragen, über welche Schlachtfelder eine künftige Fußreise führen muss.
GUSTAV SEIBT
WOLFGANG BÜSCHER: Berlin-Moskau. Eine Reise zu Fuß. Rowohlt Verlag, Berlin 2003. 237 Seiten, 17,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Soweit die Füße tragen
Da geht einer drei Monate zu Fuß von Berlin über Polen und Weißrussland in die russische Metropole. Oft ganz allein mit sich, mit Durst und Dreck, und weiß doch eine Menge zu erzählen. Der Journalist Wolfgang Büscher hat gute und schlechte, langweilige und bemerkenswerte Menschen getroffen, über die er flott und lebendig schreibt. Jüngere europäische Geschichte verpackt er geschickt in seinen Erzählungen. Und manche Schilderung des Alltags klingt, als hätte es in den russischen Weiten einen Zeiten- und Systemwechsel nie gegeben.
Farbige Berichte
Büscher war in Kaschemmen und Hotels, auf Straßen und in einsamen Wäldern. Farbig wird sein Reisebericht, wenn er Schicksale schildert. Wie das der Gräfin Mankowska, die als Polin während des Zweiten Weltkrieges zwischen die Fronten gerät, erst in die Obhut, dann aber in die Fänge der Deutschen, schließlich auch der Russen. Eine Frau, die kämpft, um die Familie, um ihr Land und für die Liebe. Der Autor ist ein guter Beobachter, der freundlich, nie ironisch schildert, wie Frauen ihre in Polen zentnerweise gekaufte Ware mit kräftigem Obolus an den Zoll in die Heimat schleppen, oder aber den Kahlschlag am eigenen Kopf durch eine Perückenmacherin in Minsk.
Der Weg der Deutschen
In der weißrussischen Stadt Nowogrudok wird Büscher zum ersten Mal nicht gefragt, woher er komme, sondern danach, wohin er gehe. Er sagt: Minsk, Borissow, Orscha, Smolensk, Mojaisk und irgendwann Moskau. Die Antwort des Einheimischen mit Nike-Kappe und US-Army-Hemd: "Den Weg nehmen die Deutschen immer."
(Mathias Voigt, literaturtest.de)
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"Reiseerfahrungen, die zum Besten gehören, was in den letzten Jahren in deutscher Sprache erschienen ist." - Der Spiegel
Dieses Buch ist unvergesslich und hat gute Aussichten, einmal zu den Klassikern der Reiseliteratur zu zählen - noch vor Bruce Chatwins Büchern. Süddeutsche Zeitung