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Produktdetails
  • Verlag: Fackelträger Verlag
  • Seitenzahl: 383
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 560g
  • ISBN-13: 9783771615406
  • ISBN-10: 3771615402
  • Artikelnr.: 23914739
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2010

Der Schuh auf dem Tablett

Knigge im Fettnäpfchen und Knigge als Anwalt von Weltläufigkeit und Toleranz: Eine neue Werkausgabe und ein Briefwechsel belegen Vielseitigkeit und Temperament des adeligen Aufklärers.

Von Alexander Kosenina

Bei Hofe ist der Trick alt: Die einfachste Art eine Ehe zu erzwingen, ist deren öffentliche Ankündigung durch eine hohe Person, die keiner durch Widerworte Lügen strafen will. In Schillers "Kabale und Liebe" wird so etwas versucht, im Leben des Freiherrn Knigge ist es aber auch gelungen - vorausgesetzt, die berühmte Anekdote stimmt, die jetzt im Vorwort zu einer wundervollen Werkausgabe von der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff dankbar aufgegriffen wird: Knigge, der für so manche Narretei bekannt war, soll bei Tisch einer Hofdame, die sich ihres drückenden Schuhs entledigte, diesen heimlich entwendet haben. Anschließend servierte ihn ein Diener auf einem Tablett. Der Spaß nahm ein böses Ende. Die Landgräfin von Hessen-Kassel ließ die Verlobung Knigges mit der düpierten Adligen verbreiten. So kam er unfreiwillig zu Frau und Kind, die er als Kammerherr und Maître de Plaisir glücklos nach Weimar und Hanau, dann als freier Schriftsteller nach Frankfurt, Heidelberg, Hannover und zuletzt als Oberhauptmann nach Bremen mitzuführen hatte.

Die Anekdote zerstreut prägnant das beliebte Vorurteil von Knigge als dem steifen Hüter deutscher Etikette. Sein Erfolgsbuch "Über den Umgang mit Menschen" (1788), so ist auch in dieser Zeitung immer wieder betont worden (F.A.Z. vom 28. Mai 1998 oder 3. März 2003), hat mit namensdiebischen Knigge-Benimmfibeln wenig zu tun. Dazu hat man das Werk gerne "verkleinert und verspießert", wie auch Lewitscharoff meint. In Wirklichkeit handelt es sich beim Original aber um großartige Essays zur Lebensphilosophie und zum ,Esprit de conduite' im Zeitalter einer neuen Anthropologie.

Knigge lässt sich darin über Gesprächsideale und Herzenstakt aus, über den Umgang mit Mächtigen und Gesinde, mit Charakteren jeder Couleur. Vor allem wirbt er für Weltläufigkeit und Toleranz, wobei ihm das in Abschnitten etwa über Frauen oder Juden nicht immer gelingt. Insgesamt fallen einem eher Gedankenexperimente Montaignes oder Chamforts als höfische Sittentraktate oder politische Klugheitslehren ein, wenn man nach Vorbildern in der Tradition suchen will.

Das Hauptwerk "Über den Umgang mit Menschen", das selbst im Reclamkanon verfügbar ist, darf im neuen Knigge natürlich nicht fehlen. Doch der Pfiff der Edition ist dessen fulminante Rahmung. Nicht, dass es Werkausgaben nicht schon gegeben hätte: Unübertroffen, aber eben unerschwinglich ist der Nachdruck in 24 Bänden (1978 und 1992), besorgt von Paul Raabe, dem unermüdlichsten Knigge-Anwalt, der auch jetzt wieder dabei ist. Dasselbe gilt für Wolfgang Fenner, Herausgeber einer allen Antiquariatsfreunden geläufigen, weil nach kürzester Zeit verramschten zehnbändigen Auswahl (1991 bis 1996). Das Publikum für Knigge scheint also nicht allzu groß zu sein, denn selbst "Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien" (F.A.Z. vom 13. Juli 2006) stapelt sich trotz des charmanten Vorworts von Prinz Asfa-Wossen Asserate längst im Ausverkauf. Der Wallstein Verlag lässt sich davon nicht schrecken und legt mit den gediegenen, bordeauxroten Leinenbänden einen kraftvoll-kompakten Knigge vor, noch dazu - dank der Wüstenrot Stiftung und der Darmstädter Akademie - zu einem sensationell wohlfeilen Preis.

Allen Reclam-Besitzern, aber nicht nur ihnen, darf man diesen vierflügeligen Knigge sehr empfehlen: Erstens summieren sich die mitlaufenden Nachworte und Kommentare zu einer eigenen hübschen Monographie, zweitens werden die Menschenlehre sowie der Abyssinien-Roman in den Bänden zwei und drei sinnreich gerahmt durch die frühe "Geschichte Peter Clausens" im ersten sowie durch fünf kritisch-launige Prosatexte im letzten Teil. Die Erstausgabe der "Geschichte Peter Clausens" entsteht während Knigges Ordenstätigkeit im Geheimbund der Illuminaten (1780 - 1784), die auch sein anthropologisches Werk berührt. Denn in beiden Bereichen geht es um Erziehung und Selbstverwirklichung im Zeichen der Aufklärung - intellektuell, gesellschaftlich und politisch. Entsprechend neigt sich dieser schelmische Roman auch in Richtung bildungsgeschichtlicher Lehrjahre. Wie in seiner Lebensphilosophie gilt Knigges psychologisches Interesse der Frage, "warum der Mensch so und nicht anders gewandelt ist". In seinem zweiten Roman "Geschichte Ludwigs von Seelberg" (1787) sucht er erneut eine Antwort darauf. Zu schade, dass dieses Werk keine Aufnahme in die neue Ausgabe fand.

Solchen Erzählungen über Menschenbildung stehen im letzten Band komische Zeitromane gegenüber. Besonders köstlich ist "Die Reise nach Braunschweig", wo 1788 gerade der Ballonfahrer Jean-Pierre Blanchard mit seiner "Luft-Kutschier-Maschine" aufsteigen sollte. Doch die skurrile Reisegesellschaft verpasst das Ereignis, weil sie sich unterwegs im Wirtshaus im gelehrten Geschwätz vertrödelt. Nicht besser kommt der Pinselorden in der politischen Satire "Conrad von Schaafskopf" (1791) weg, mit der Knigge als Anhänger der Französischen Revolution gegen Reaktionäre, Jesuiten und Geheimbündler zu Felde zieht. Gar als einen Demokraten im heutigen Sinne charakterisiert ihn Pierre-André Bois im Nachwort zu "Joseph von Wurmbrands politischem Glaubensbekenntnis" (1792).

Knigges Beziehungen zum Theater kommen in der Ausgabe höchstens durch einige Ratschläge über den Umgang mit Schauspielern zur Geltung. Von seinen eigenen und übersetzten Bühnenstücken, die er seit einem Dramenwettbewerb im Jahre 1775 gelegentlich verfasste, zeigt sich hier nichts. Diese Lücke füllt Michael Rüppel, der die Menschenkunde editorisch betreut und soeben eine umfangreiche Biographie über den Schauspieler, Dramatiker und Theaterleiter Gustav Friedrich Wilhelm Großmann vorgelegt hat. Mit dem sorgfältig kommentierten Briefwechsel zwischen Knigge und Großmann ergänzt er die Edition um unbekanntes Material. Die Bekanntschaft reicht bis in Knigges Hanauer Jahre zurück, als Großmann das Hoftheater in Bonn leitete. Intensiviert hat sie sich aber erst in den gemeinsamen Jahren in Hannover und Bremen. Knigge beteiligt sich an der Gründung eines Liebhabertheaters in Bremen und gibt in Hannover "Dramaturgische Blätter" (1788/89) heraus, mit denen er nicht nur Großmanns Spiel auf dem Hoftheater begleitet, sondern auch selbst zur Schauspielkunst Stellung nimmt.

Rüppel flankiert die Korrespondenz mit einer Auswahl solcher Theaterschriften und Rezensionen. Erneut zeigt sich hier der Menschenkundler in Aktion: Knigge blickt auf die Bühne wie ins Publikum, vor allem fragt er, wie man "den Weg zu des Zuschauers Seele" finden könne. Sein Kampf gegen französische Konventionen und sein Plädoyer für die Menschendarstellung der Engländer, die ihre Bühnencharaktere wie Shakespeare "nicht erzählen, sondern handeln" lassen, spiegeln den zu seiner Zeit beliebten naturgetreuen Bühnenstil. Seine Ausführungen bleiben absehbar und bewegen sich im Mittelfeld des geordneten bürgerlichen Geschmacks. Überspanntheiten, etwa des Sturm und Drangs, waren seine Sache nicht. Im anthropologischen Hauptwerk warnt er Jünglinge vor den dargestellten "Narrheiten der Menschen", vor "Liebes-Rausch", Laster und Greuel sowie der Sittenlosigkeit schauspielernder "Abentheurer" und "Buhlerinnen". Offenbar vermochte auch Freiherr Knigge, der in einer demokratischen Anwandlung das "von" aus seinem Namen tilgte, nicht über seinen Schatten zu springen.

Adolph Freiherr Knigge, Gustav Friedrich Wilhelm Großmann: "Briefwechsel 1779-1795". Hrsg. von Michael Rüppel. Wallstein Verlag Göttingen 2010. 216 S., geb., 29,90 [Euro].

Adolph Freiherr Knigge: "Werke." Hrsg. von Pierre-André Bois, Wolfgang Fenner, Günter Jung, Paul Raabe, Michael Rüppel, Christine Schrader. Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 4 Bde. in der Kassette, zus. 1835 S., geb., 49,- [Euro].

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