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»Herausragend - Frank Trentmanns große Geschichte der sich wandelnden Mentalitäten der Deutschen und der moralischen Herausforderungen seit der NS-Zeit ist ein Meisterwerk«, so Ian Kershaw.
Frank Trentmann gelingt eine neue, einzigartige Perspektive auf die deutsche Geschichte der letzten 80 Jahre - wie kam es dazu, dass die Deutschen nach Shoah und Vernichtungskrieg im Jahr der »Willkommenskultur« 2015 als moralisch geläutert galten? Wie gelang der Weg vom Volk der Täter zum anerkannten Partner in der Welt?
Auf Basis von zahlreichen individuellen Stimmen aus der Bevölkerung zeigt Frank
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Produktbeschreibung
»Herausragend - Frank Trentmanns große Geschichte der sich wandelnden Mentalitäten der Deutschen und der moralischen Herausforderungen seit der NS-Zeit ist ein Meisterwerk«, so Ian Kershaw.

Frank Trentmann gelingt eine neue, einzigartige Perspektive auf die deutsche Geschichte der letzten 80 Jahre - wie kam es dazu, dass die Deutschen nach Shoah und Vernichtungskrieg im Jahr der »Willkommenskultur« 2015 als moralisch geläutert galten? Wie gelang der Weg vom Volk der Täter zum anerkannten Partner in der Welt?

Auf Basis von zahlreichen individuellen Stimmen aus der Bevölkerung zeigt Frank Trentmann, wie dieser Weg quasi »von unten« gesehen und beschritten wurde, beginnend mit der Schlacht von Stalingrad 1941/42. Der Blick der Deutschen auf den Krieg veränderte sich, Fragen von Schuld und Verantwortung kamen auf, Ausgangspunkt für einen Aufbruch des Gewissens. Von der »Entnazifizierung« über Wirtschaftswunder und 68er bis zur Umweltbewegung, von der Erinnerungspolitik bis zu Migration und Asyl, von der Friedensbewegung bis zum Krieg in der Ukraine führt Frank Trentmann die Vielfalt der Haltungen vor Augen.

Dabei geht es um die Bundesrepublik genauso wie um die DDR und das wiedervereinte Deutschland. Wie »lernten« die Deutschen im Westen Demokratie? Wie gingen sie in der DDR mit dem Widerspruch zwischen dem Versprechen einer neuen Gesellschaft und der Realität der Diktatur um? Wie wurde in beiden Staaten und nach der Wende über Krieg und Frieden debattiert, über Arbeit und Kindererziehung, über Pflichterfüllung, Nation oder Heimat?

Immer wieder erzählt Frank Trentmann von den Menschen selbst, von ihren Einstellungen, Ängsten und Wünschen, von Liebe und Hass, Ehrgeiz und Mitgefühl. Zu Wort kommen deutsche Soldaten und jüdische Überlebende, Vertriebene, die um Anerkennung kämpfen, Jugendliche, die sich in der Kriegsgräberfürsorge engagierten, Studentinnen und Studenten der 68er-Bewegung, Migrantinnen und Geflüchtete, Umweltaktivistinnen und Bergleute, Konservative und Liberale.

So entsteht ein lebendiges, unterhaltsam zu lesendes Porträt der deutschen Gesellschaft in ihrer ganzen Bandbreite, in dem sich viele Leserinnen und Leser wiedererkennen werden, und das zahlreiche überraschende Details und Erkenntnisse bietet. Mit 42 teils farbigen Abbildungen und farbigen Karten im Einband das ideale Geschenk für alle, die sich für die deutsche Geschichte interessieren.

Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste von Die ZEIT, Deutschlandfunk Kultur und ZDF im Dezember 2023 und im Januar 2024

»Wie Frank Trentmann Geschichte schreibt, wie er das Kleine mit dem Großen und die Analyse mit der Erzählung verbindet, ist großartig.«
Bernhard Schlink

»Ein fesselndes Buch, das uns ins Zentrum des deutschen Selbstverständnisses führt und dabei elegant Politik, Wirtschaft, Kultur und individuelle Haltungen der Menschen zu einem Gesamtbild fügt.«
Christopher Clark

»Ein großes Panorama, eine Geschichte Deutschlands nach dem Krieg, die gerade recht kommt in einer krisenhaften Zeit.« Benjamin Ziemann, Professor für Neuere deutsche Geschichte, University of Sheffield

»Brillant und fesselnd zeigt das Buch, was die Deutschen seit 1942 erreicht haben - und wo sie gescheitert sind.« Suzanne L. Marchand, Boyd Professorin für Europäische Geschichte
Autorenporträt
Frank Trentmann, geboren 1965, ist Professor für Geschichte am Birkbeck College der University of London und an der Universität von Helsinki. Zuvor war er Assistant Professor an der Princeton University. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, u.a. den Humboldt-Preis für Forschung der Alexander von Humboldt-Stiftung. Sein Buch 'Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute' wurde 2018 in Österreich als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet. Er studierte an der Universität Hamburg, der London School of Economics und der Harvard University. Frank Trentmann lebt in London.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Herfried Münkler ist grundsätzlich skeptisch, was Mentalitätsgeschichten anbetrifft. Frank Trentmanns in vier Zeitabschnitte geteilter Versuch, den Deutschen zwischen 1942 und 2022 auf den Zahl zu fühlen, scheint ihm aber mindestens diese Erkenntnis bereitzuhalten: Dass die Deutschen, je weiter sie sich vom Zweiten Weltkrieg entfernen, den europäischen Nachbarn immer ähnlicher werden. Dass die Deutschen Meister der Selbstbeobachtung und des "fishing for compliments" sind, wie Trentmann anhand von Selbstzeugnissen konstatiert, aber immer wieder auch konterkariert, wusste Münkler längst.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.11.2023

Als die Deutschen
„gut“ sein wollten
Frank Trentmanns monumentale, 80 Jahre umfassende
Moralgeschichte folgt zahllosen Menschen zwischen
Selbstrechtfertigung und Selbstvergewisserung.
VON FRANK BIESS
Im Jahr 1957 reichte ein damals 49-jähriger Lehrer bei der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit den Entwurf für ein Theaterstück ein. Darin macht sich ein hasserfüllter Jude auf den Weg, die Ermordung seiner Frau bei einer Massenexekution zu rächen. Es stellt sich jedoch heraus, dass der vermeintliche Täter, ein SS-Mann, Juden gerettet und den Lagerkommandanten erschossen hatte. Das fiktive Theaterstück endet damit, dass sich die Tochter des Juden und der Sohn des SS-Mannes ineinander verlieben. Der rachsüchtige Jude war von einem guten Deutschen gerettet worden. Derartige „Wunscherfüllungsfantasien“ stehen im Zentrum der monumentalen, den Zeitraum von 1942 bis 2022 umfassenden „Moralgeschichte der Deutschen“ des am Londoner Birkbeck College lehrenden Historikers Frank Trentmann.
Zunächst auf Englisch verfasst und von einem Übersetzerteam in flüssiges Deutsch übersetzt, rückt „Aufbruch des Gewissens“ das Bestreben der Nachkriegsdeutschen in den Mittelpunkt, wieder „gut“ zu sein. Eine gewaltige Aufgabe für eine Gesellschaft, deren Selbstbild durch die totale Niederlage massiv erschüttert worden war. Die Deutschen mussten ihr individuelles Selbstverständnis mit neuen kollektiven Normen – einer demokratischen Moral im Westen, einer sozialistischen im Osten – in Einklang bringen. Dies bemerkenswerte Buch bietet eine historische Rekonstruktion der vielfältigen und oft widersprüchlichen Formen, mit denen die Deutschen ihren moralischen Kompass neu auszurichten versuchten.
Dankenswerterweise erzählt Trentmann keine geradlinige Erfolgsgeschichte der Verwandlung von bösen Nazis in gewissenhafte Staatsbürgerinnen und -bürger. Er beschreibt stattdessen eine „Fundamentalmoralisierung“, die aber immer auch gegenläufige Tendenzen hervorbrachte. Die Entstehungszeit des Buches fällt zwischen zwei Momente, in denen diese Moralisierung der Politik besonders deutlich hervortrat: Angela Merkels Offenhalten der deutschen Grenzen in der Flüchtlingskrise von 2015 und Olaf Scholz’ Proklamation einer Zeitenwende angesichts des Kriegs in der Ukraine im Jahr 2022.
Trentmanns Geschichte beginnt in den letzten Kriegsjahren, als die drohende Niederlage und das zunehmende Wissen um die Nazi-Verbrechen die Deutschen dazu zwangen, ihr Gewissen zu erforschen. Viele Wehrmachtsoldaten empfanden sich durchaus als „rein und tugendhaft“. Anhand einer Fülle von subjektiven Quellen wie Tagebüchern und Briefen beschreibt Trentmann, wie sich viele Deutsche vom NS-Regime zu distanzierten versuchten, ohne dabei ihre Selbstachtung zu verlieren. Ein Arzt aus Waiblingen begann im Jahr 1943 Briefe an seinen vermissten Sohn zu schreiben und berichtete vom Grauen der Bombennächte, aber auch davon, dass „das tapfere junge Volk …. nur hingeopfert wird“. Andere Tagebuchschreiber schämten sich angesichts des Massenmords an den Juden, „Deutscher zu sein“, sorgten sich darüber, wie „das einmal gesühnt werden würde“, und verzweifelten am „Sinn unseres Kampfes“, entschlossen sich aber dennoch zum „Mund halten und weiter dienen.“ Die Selbstgespräche der „heimlichen Tagebücher jener dunklen Jahre“ (Axel Eggebrecht) zeigen, wie sich die Ablösung vom NS-Regime vor allem im Privaten vollzog.
Mit Gründung der Bundesrepublik veränderte sich die moralische Landschaft grundlegend. Das von Bundeskanzler Adenauer gegen die Stimmen der eigenen Partei durchgesetzte Wiedergutmachungsabkommen mit Israel übertrug die Aufarbeitung der Schuld dem neu gegründeten Staat, aus „Schuld“ wurden „Schulden“. Die Übernahme der moralischen Verantwortung durch den Staat erlaubte es vielen Deutschen, sich vor allem mit ihren eigenen Leiden zu beschäftigen. Denn in den Passivkonstruktionen vom „Unrecht“, das den Juden „angetan wurde“, kamen die deutschen Täter kaum mehr vor. Wie in einem Nürnberger Mahnmal für die deutschen Bombenopfer, in dessen Grundstein die Überreste der örtlichen Synagoge eingemauert waren, wurde das jüdische im deutschen Leiden begraben. Zurück blieb eine oft stille Scham, eine nagende Kluft zwischen dem eigenen Selbstbild und der Zugehörigkeit zu einem schuldig gewordenen nationalen Kollektiv.
Die moralische Fähigkeit, die Leiden anderer zu erkennen, entstand erst in den 1960er-Jahren. Die jungen Mitglieder der 1959 gegründeten evangelischen Aktion Sühnezeichen kümmerten sich um die Opfer und Bedürftigen im europäischen Ausland und in Israel, zuweilen auch, um die „Schuld der Väter“ zu übernehmen, wie ein Freiwilliger 1965 bekannte. Dabei ging es hier wie in anderen Hilfsaktionen immer auch um die Kultivierung der eigenen Psyche, um ein oft selbstgerechtes Bedürfnis des Gut-sein-Wollens. Trentmann zeichnet die wachsende Sensibilisierung der westdeutschen Gesellschaft nach, wie sie sich in kirchlichen Initiativen für die Dritte Welt oder auch im Einsatz für Behinderte zeigte. Doch dieser Gewissensaufbruchs blieb begrenzt. Spenden für die Entwicklungshilfe flossen nur spärlich, Hilfsaktionen provozierten Klagen über „faule Afrikaner“, und ein bayerischer CSU-Lokalpolitiker sprach von einem Behindertenheim als „Idiotenpark“.
Diese Grenzen des eigenen Gewissens zeigten sich vor allem im Verhältnis gegenüber Fremden. Es ist ein Verdienst dieses Buches, Migration und die Präsenz von nicht-ethnischen Deutschen zu zentralen Themen der deutschen Nachkriegsgeschichte zu machen. Trentmann wendet sich gegen die selbstgefällige Erzählung einer gelungenen und schnellen Integration der Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen. Gängige Schimpfwörter wie „Sauflüchtling“ oder im Osten „Umsiedlerschwein“ verdeutlichten den Hass gegenüber den Neuankömmlingen. Die eigentliche Integration vollzog sich in Nachbarschaften, Vereinen und in einer wachsenden Zahl von Ehen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen. Auch „Gastarbeiter“ und Asylsuchende blieben Bürger zweiter Klasse, nicht zuletzt aufgrund der langanhaltenden Lebenslüge der Bundesrepublik, „kein Einwanderungsland“ zu sein. Dazu trug auch die westdeutsche Erinnerungskultur bei. Denn „der Holocaust blieb“, wie Trentmann schreibt, „fest in deutscher Hand“. Es gab kaum Versuche, die NS-Erinnerung der Zuwanderungsgesellschaft zugänglich zu machen, und die Auseinandersetzung mit Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus fand erst spät statt. In der DDR entstand unter dem Deckmantel der sozialistischen Solidarität mit der Dritten Welt eine Art „sozialistischer Apartheid“ (Wolfgang Thierse).
Auch wenn das Buch keine vollständige vergleichende Geschichte liefert, untersucht Trentmann auch die Versuche der DDR, jenseits des Eisernen Vorhangs eine eigene „sozialistische Moral“ zu begründen. Das sozialistische Kollektiv beanspruchte hier ein Mitspracherecht selbst bei intimen Fragen, etwa wenn eine Arbeitsbrigade einem Mann die Scheidungsabsicht ausredete. Letztlich jedoch konnte der sozialistische Staat die von ihm selbst geweckten Erwartungen nicht erfüllen. Diese Enttäuschungserfahrung setzte sich für viele Ostdeutsche nach 1989 fort. In der Hierarchie der Vereinigungsgesellschaft blieb den „Ossis“ nur der Kampf um „Platz zwei“ mit den zugewanderten Türken, hinter den privilegierten und selbstsicheren „Wessis“.
Nirgendwo manifestierte sich der deutsche Gewissenswandel so deutlich wie im Hinblick auf Krieg und Frieden. Eine individuelle Gewissensethik vermischte sich zunehmend mit einer übergeordneten Verantwortungsethik und übertraf diese sogar gelegentlich. Die Friedensbewegungen akzentuierten die Verpflichtungen gegenüber dem individuellen Gewissen und Kriegsdienstverweigerer waren gefordert, ihre individuellen Gewissensnöte in Prüfungen zu beweisen. Doch nicht alle ehemaligen Nazi-Militaristen wurden zu friedensbewegten Bürgern. Reaktionäre Tendenzen blieben präsent im Umgang mit NS-Verbrechern, bei millionenfach besuchten Kameradschaftsabenden, innerhalb der Bundeswehr oder auch im anhaltenden Militarismus des „roten Preußens“ im Osten.
Die Wendung des Gewissens nach innen erschwerte es der Berliner Republik, größere internationale Verantwortung zu übernehmen, bis hin zu der angeblich zögernden Militärhilfe für die Ukraine. Möglicherweise unterschätzt Trentmann hier die Beiträge der Bundesrepublik zu den globalen Konflikten der vergangenen Jahrzehnte. Doch die Innenorientierung der Moral lief zweifellos der der globalen Verflechtung der Bundesrepublik entgegen. Und wenn sie den Interessen der Bundesrepublik widersprach, blieb die Moral gelegentlich ganz auf der Strecke, etwa bei den Handelsbeziehungen mit autoritären Staaten wie China und Russland. Das von der Bundesrepublik angehäufte moralische Kapitel war somit nicht handlungsleitend für den Einsatz des wirtschaftlichen Kapitals.
Den Abschluss des Buches bilden drei thematisch orientierte Längsschnitte zur Sparkultur der Deutschen, zur sorgenden Gesellschaft und zum Verhältnis zur Natur. Hier treten die Aporien des Aufbruchs des Gewissens nochmals besonders deutlich zutage. So koexistierte das „typisch deutsche Sparen“ mit einer weitverbreiteten Neigung zur Kreditaufnahme – in den 1950er-Jahren wurde jedes vierte Hemd auf Pump gekauft. Die sorgende Gesellschaft führte einerseits zu einem massiven Anstieg der Sozialausgaben, erwartete anderseits aber, dass soziale Arbeit von Familienangehörigen und vor allem von Frauen geleistet wird. Und auch wenn sich die Bundesrepublik heute im Hinblick auf Umweltschutz und grüne Technologien als globaler moralischer Vorreiter sieht, bleibt das Verhältnis zur Natur ambivalent. So werden CO&sub2;-Emissionen im Inland reduziert, gleichzeitig aber über Importe von Gas und Lebensmitteln nach außen verlagert. Auch die Unfähigkeit, ein Tempolimit einzuführen, konterkariert den Anspruch der Bundesrepublik als moralische Instanz im Klimaschutz.
Der für den „Aufbruch des Gewissens“ notwendige Lesefleiß wird belohnt mit einem originellen und in dieser Form einzigartigen Einblick in die gelebte Geschichte der Deutschen, ihrer vielfachen Strategien zur Selbstrechtfertigung und Selbstvergewisserung. Auch wenn einige Themen ausgespart bleiben – der Menschenrechtsdiskurs, die ausländerfeindlichen Pogrome und Morde der 1990er-Jahre –, gelingt es diesem Buch wie keiner anderen Gesamtdarstellung, die Vielzahl und Bandbreite subjektiver Stimmen mit einer übergeordneten Erzählung zu verbinden. Dieses anregende, überaus materialreiche und trotz der Länge gut lesbare Buch erzählt von den oft quälenden, immer widersprüchlichen, zuweilen auch bewundernswerten Versuchen der Deutschen, ihr Selbstbild als gute Menschen wieder zu gewinnen. Und es zeigt, wie das zuweilen selbstgerechte Bestreben der Deutschen, „gut“ zu sein, immer wieder an seine Grenzen stieß.
Damit bietet das Buch vielleicht auch Einsichten für unsere leidvolle Gegenwart. Denn so verständlich und lobenswert das Bedürfnis der Deutschen nach eindeutiger moralischer Positionierung auch gewesen sein mag, es lief immer Gefahr, die darin unweigerlich enthaltenen Widersprüche aus dem Blick zu verlieren. Die Deutschen mussten nach 1945 feststellen, dass ein moralischer Absolutheitsanspruch in der gelebten Realität oft schwer einzuhalten ist und einer komplexen Welt nur selten gerecht wird.
Frank Biess lehrt deutsche und europäische Geschichte an der University of California, San Diego. Sein Buch „Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik“ erschien 2019
Das 1000-Seiten-Werk
beginnt im Jahr 1942
und endet 2022
Die Lebenslüge,
kein Einwanderungsland
zu sein, hielt lange
Moralische Instanz
beim Klimaschutz?
Jedenfalls ohne Tempolimit
Frank Trentmann:
Aufbruch des Gewissens.
Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute. Übersetzt von K. Schuler, S. Reinhardus, H. Dedekind, H. Lutosch und F. Reinhart. S.-Fischer-Verlage, Frankfurt 2023. 1036 Seiten, 48 Euro.
Aus den Augen, aus dem Sinn? Nach dem Zweiten Weltkrieg wird in Trier unter US-Aufsicht eine Adolf-Hitler-Straße wieder zur Bahnhofstraße.
Foto: Vereinigung „Freunde des Amerika-Hauses“
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Er schöpft die Quellen voll aus und lässt die Zeitzeugen ausführlich zu Wort kommen. Alexander Weinlein Das Parlament 20240203

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2024

Abrechnung mit deutschen Selbstdarstellungen
Lust am Konterkarieren: Frank Trentmann versucht sich an einer Mentalitätsgeschichte der Deutschen der letzten achtzig Jahre

Einige deutsche Politiker und Politikerinnen - und keineswegs nur sie - haben die Neigung, die jüngere Geschichte ihres Landes als eine große Konversion zu erzählen, als die Verwandlung eines Volkes, das, sei es aus Kadavergehorsam oder einer Mischung aus Brutalität und Bosheit, einem Verbrecher an der Spitze des Staates bis zu dessen Selbstmord im Führerbunker gefolgt sei und sich in den anschließenden Jahrzehnten zu einem fürsorglichen Akteur in Europa und der ganzen Welt entwickelt habe. Demgemäß stellen sie diese moralische Besserung, wo auch immer sie hinreisen, als Vorbild für andere heraus und legen den Betreffenden nahe, dem deutschen Vorbild zu folgen, beginnend bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und endend bei der vorsorgenden Aufmerksamkeit für andere.

Dem deutsch-britischen Historiker Frank Trentmann geht diese selbstgefällige Konversionserzählung erkennbar auf die Nerven, und so konterkariert er in seiner die letzten achtzig Jahre behandelnden Mentalitätsgeschichte der Deutschen ein ums andere Mal einen solchen Blick der Deutschen auf sich selbst. Es ist eine Geschichte der durchgängigen Ambivalenz, die Trentmann erzählt, eine, in der sich Großzügigkeit mit Kleinlichkeit, die Einsicht in eigene Schuld und Verantwortung mit wehleidigem Reklamieren der Opferrolle paart, die Hilfe für andere mit wohlberechnetem Eigeninteresse verbindet und bei der das Urteil immer davon abhängig ist, zu welchem Zeitpunkt man auf welche Personengruppe schaut.

Man kann diese Ambivalenz der Einstellungen und des Verhaltens als Selbstverständlichkeit ansehen, weil schließlich, je größer eine Gruppe ist, desto variantenreicher das Ensemble der anzutreffenden Mentalitäten ausfällt. Ebenso kann man aber fragen, ob es überhaupt möglich ist, nationalspezifische Mentalitäten zu identifizieren, oder ob man dabei allein schon wegen der verfügbaren Quellenlage immer bei einer bestimmten sozialen Schicht endet, nämlich der, die Briefe und Tagebücher schreibt und sie über Generationen hinweg aufbewahrt: also der Mittelschicht. Wie viele solcher Selbstzeugnisse braucht man, um nach ihrer Auswertung sagen zu können, man sei der nationalen Grundstimmung habhaft geworden? Oder kann man sich nur auf demoskopische Erhebungen verlassen, die unter den Vorgaben der Repräsentativität erstellt worden sind?

Trentmann behandelt diese methodologischen Fragen nur am Rande und konzentriert sich auf das verfügbare Material, unterstellend, dass das, was in den Selbstzeugnissen mehrheitlich zu finden ist, die vorherrschende Grundstimmung einer Gesellschaft beziehungsweise Nation wiedergibt. Wer ihm darin nicht zu folgen bereit ist, der wird die Lektüre des tausendseitigen Werks mit allzu vielen Fragezeichen versehen, um den darin zusammen-getragenen Beobachtungen etwas abgewinnen zu können. Obendrein stellt sich die Frage, ob Trentmann womöglich zu einem anderen Resümee gelangt wäre, wenn er seine Darstellung zu Beginn der 10er-Jahre unseres Jahrhunderts beendet und den Aufstieg des rechtspopulistisch befeuerten Nationalprotektionismus nicht mehr einbezogen hätte.

Aber nicht nur das Ende des Untersuchungszeitraums hat Folgen für den Blick auf die Mentalität der Deutschen, sondern auch dessen Anfang: In den meisten Darstellungen - zumindest von deutschen Historikern der vorherigen Generation - beginnt die Beschäftigung mit der Mentalität der Deutschen bei der Bismarck'schen Reichsgründung und dem Theorem des Obrigkeitsstaates, von dem aus dann eine Linie zur Hitlerdiktatur gezogen wird. Gehorsam und bedingungslose Folgebereitschaft sind dann das dominante Signum deutscher Mentalität. Indem Trentmann mit dem Jahr 1942 beginnt, der Niederlage von Stalingrad und den beginnenden strategischen Bombardements deutscher Städte durch die Westalliierten, geraten sehr viel stärker ideologische Antriebe, Antisemitismus, die Idee einer eigenen rassischen Überlegenheit oder auch die Vorstellung von slawischen "Untermenschen" und einem dekadenten Materialismus des Westens in den Fokus. Die Behauptung, man habe ja nur Befehlen gehorcht, tritt dann erst nach 1945 wieder stärker hervor, als es darum ging, die eigene Verantwortung für Kriegsverbrechen und den Genozid an den europäischen Juden herunterzuspielen und auf andere abzuwälzen.

Trentmann hat sein Buch in vier große Kapitel gegliedert: die zweite Hälfte des Krieges und seine retrospektive Thematisierung, als die Deutschen in die Opferrolle schlüpften und dabei wenig Aufmerksamkeit für diejenigen hatten, die sie zu Opfern gemacht hatten; die lange Phase von 1949 bis 1989, als Deutschland geteilt war und in den beiden Staaten unterschiedliche Mentalitäten entstanden, die des "Wirtschaftswunders" und die des "neuen sozialistischen Menschen", dazu die Auseinandersetzung mit einer Wiederbewaffnung und der Umgang mit der sich entwickelnden Pluralität im Westen und der geforderten Einheitlichkeit im Osten; sodann die Zeit vom Mauerfall bis zum Jahr 2022, als die Deutschen wieder zusammenfinden mussten und damit sehr viel größere Probleme hatten als erwartet; und schließlich, gewissermaßen als Konklusion, die Mentalität des Gut-sein-Wollens, unter der Trentmann die Wirtschaftsmentalität der Sparsamkeit versteht, dazu die soziale Mentalität des gesellschaftlichen Zusammenhalts beziehungsweise die Klage über dessen Erosion, das Schwinden von Solidarität und Gemeinsinn, nicht zuletzt die Besorgnis um die Natur, die Rettung des Waldes, zumal des "deutschen Waldes", die Abkehr von der Atomenergie im eigenen Land und die Skepsis gegenüber einigen technologischen Entwicklungen.

Bei all dem fällt auf, dass die Ähnlichkeiten mit den europäischen Nachbarn umso größer werden, je weiter der Zweite Weltkrieg zurückliegt. Inhaltlich machen die Deutschen mit einiger Zeitverzögerung mehrheitlich alles mit, was auch für die Amerikaner und die westlichen sowie südlichen Nachbarn in Europa typisch war und ist. Was sie von diesen jedoch unterscheidet, ist eine das Selbstbild durchgehend begleitende Selbstbeobachtung und Selbstthematisierung, die Herausstellung des moralischen Fortschritts, das Haschen nach der Anerkennung durch die anderen und, darauf aufbauend, ein mitunter aufdringliches Bedürfnis, diese darüber zu belehren, worin ein moralisch richtiges Leben besteht und wie man dahin gelangt.

Ein ums andere Mal konterkariert Trentmann diese Selbstbilder, indem er zeigt, in welchem Maße schnöde Interessen die Stützpfeiler der moralischen Fassaden sind und welche Selbsttäuschungen mit den jeweiligen Selbstbildern verbunden waren und sind. Was Trentmann nicht thematisiert, sind die politischen Kosten dieser Selbsttäuschungen: das Defizit an strategischer Klarheit des politischen Blicks und der mittelfristigen Umsetzung des als richtig Angesehenen. Das Gut-sein-Wollen kann auch als Wille zur politischen Kurzsichtigkeit verstanden werden - aber das ist ein anderes Thema als das von Trentmann bearbeitete. HERFRIED MÜNKLER

Frank Trentmann: "Aufbruch des Gewissens". Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute.

Aus dem Englischen von H. Dedekind u. a.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023. 1036 S., geb., 48,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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