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Der evangelische Pfarrer Wolfgang Weißgerber in Darmstadt-Eberstadt (1900 - 1984) hatte zwei Leidenschaften: seine Jugend- und seine Pressearbeit. Als die Nationalsozialisten 1933 darangingen, sich alle Lebensbereiche in Deutschland zu unterwerfen, glaubte er, durch Paktieren mit der NSDAP seine bis dahin sehr erfolgreiche Arbeit schützen zu können. Er trat in die SA ein und wurde Mitglied der NS-gesteuerten Reichsschriftumskammer. Aber binnen eines Jahres war seine Gemeindejugend in die HJ eingegliedert, und sein Gemeindeblatt geriet unter immer stärkeren Druck. Weißgerber leistete keinen…mehr

Produktbeschreibung
Der evangelische Pfarrer Wolfgang Weißgerber in Darmstadt-Eberstadt (1900 - 1984) hatte zwei Leidenschaften: seine Jugend- und seine Pressearbeit. Als die Nationalsozialisten 1933 darangingen, sich alle Lebensbereiche in Deutschland zu unterwerfen, glaubte er, durch Paktieren mit der NSDAP seine bis dahin sehr erfolgreiche Arbeit schützen zu können. Er trat in die SA ein und wurde Mitglied der NS-gesteuerten Reichsschriftumskammer. Aber binnen eines Jahres war seine Gemeindejugend in die HJ eingegliedert, und sein Gemeindeblatt geriet unter immer stärkeren Druck. Weißgerber leistete keinen Widerstand, sondern passte sich an und schrieb bis zum Ende seines Gemeindeblatts 1941 immer härtere Leitartikel im Sinne der NS-Propaganda. Als nach dem Krieg einer seiner Text in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht wurde, tat er das als "Verumglimpfung von kommunistischer Seite zur Herabwürdigung der Kirche" ab. Fast 40 Jahre lang predigte er seiner Gemeinde das Erbarmen Gottes für den reuigen Sünder. In eigener Sache bleib er bis zu seinem Tod stumm - wie fast alle seiner Generation.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.2020

Hitler als Vollender der Reformation
DARMSTADT Buch über Pfarrer in der Nazizeit

Der 25. März ist für Darmstadt ein geschichtsträchtiges Datum. Vor 75 Jahren marschierten an diesem Tag die amerikanische 8. Infanteriedivision und die 4. Panzerdivision in Eberstadt ein und markierten damit für die Stadt das Ende des Zweiten Weltkrieges. Kein Wunder also, dass die Hans Erich und Marie Elfriede Dotter-Stiftung diese Woche das Buch "Auf rechter Straße - Pfarrer Weißgerber Eberstadt" vorstellen wollte. Eine, wie die Stiftung schreibt, bemerkenswerte Publikation über die jüngere Eberstädter Geschichte mit einem besonderen Bezug zu dem historischen Datum des Kriegsendes, sei doch der begabte, sozial engagierte und beliebte Pfarrer Wolfgang Weißgerber in die "Fänge des Nationalsozialismus" geraten.

Das von dem ehemaligen Oberkirchenrat Joachim Schmidt geschriebene, fast 300 Seiten umfassende Buch ist diese Woche erschienen. Wenn die Buchhandlungen wieder öffnen, wird es für 12,95 Euro zu erwerben sein. Die Dotter-Stiftung hat eine Erstauflage von 1000 Exemplaren finanziert und die Evangelische Kirche von Hessen und Nassau dem Justus von Liebig Verlag einen Zuschuss gewährt in der Hoffnung, dass der theologische Irrweg Weißgerbers während der NS-Zeit auch über Eberstadt hinaus Leser interessiert.

Dass die protestantischen Amtsträger spätestens nach 1933 in der Mehrheit nationalsozialistisch orientiert waren, ist keine Neuigkeit. Zu dem traurigsten Höhepunkt der Evangelischen Landeskirche von Nassau-Hessen gehört die 1941 veröffentlichte Bekanntmachung, alle "Glieder der deutschen Volksgemeinschaft" befänden sich in einem "historischen Abwehrkampf", weshalb auch zum Protestantismus konvertierte Juden keinen Raum mehr in der evangelischen Kirche hätten.

Der damalige Landesbischof Ernst Ludwig Dietrich ist dafür ein Beispiel für die Nähe zum Nationalsozialismus: 1930 schon hielt er Referate über die "völkische Stellung" zum Judentum, 1932 trat er der NSDAP bei, kämpfte für das Führerprinzip in der Kirche und sorgte 1933 dafür, dass ein als "Halbjude" klassifizierter Mitarbeiter aus dem Kirchendienst entfernt wurde.

Schmidts Untersuchung wirft einen Blick auf die Mechanismen von Verführung und Verdrängung. Über weite Teile stellt seine Biographie des Eberstädter Pfarrers das Psychogramm eines Dorfpfarrers dar, der, getrieben von der Furcht vor der bolschewistischen Gefahr und der Sehnsucht nach autoritärer Ordnung, die Reformation umdeutete in eine "deutsche Bewegung", die sich für ihn mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten vollendete. "In der Reformation ist zugleich der Grund gelegt worden für die Staatsauffassung, die im heutigen nationalsozialistischen Staat ihre höchste Prägung gefunden hat", schrieb der am 10. August 1900 geborene Weißgerber in seinem Gemeindeblatt.

Weißgerber hat, wie Schmidts Recherchen ergaben, zunächst versucht, seine Gemeindearbeit 1933 durch einen Pakt mit den Nazis zu retten. Nachdem seine jungen Gemeindemitglieder in die Hitlerjugend und den Bund deutscher Mädel eingegliedert worden waren, trat er 1934 in die SA ein. Weil er Angehöriger eines geistlichen Berufs war, musste er die Organisation 1938 aber wieder verlassen. Sein Aufnahmeantrag in die NSDAP kam 1937 nicht zum Zug.

All diese Versuche, Teil der "Bewegung" zu werden, hat Schmidt nicht sonderlich verwundert. Außer Frage stehe, dass dieser kluge und sozial hochengagierte Pfarrer wie viele andere Kirchenleute mit der NS-Diktatur anfangs große Hoffnungen verbunden habe, sich ihr dann anpasste, zu Diensten war und keinen erkennbaren Widerstand leistete, wie es auch sonst nur wenige seiner Darmstädter Kollegen getan hätten.

Aber die von Schmidt in seinem Buch sorgfältig dokumentierten Beiträge Weißgerbers im Mitteilungsblatt der Gemeinde zeigen deutlich, dass er nicht nur Mitläufer war, sondern den Nationalsozialismus tatsächlich religiös verklärte und theologisch rechtfertigte. Das erklärt vermutlich sein Pathos. Im April 1935, wenige Tage nachdem Hitler mit einem Autotross durch Eberstadt gefahren war, hat er in dem von ihm verantworteten "Gemeindeboten" Sätze geschrieben wie diesen: "Unendliche Freude und Dankbarkeit strömte dem Führer aus unseren Herzen entgegen."

Der Geistliche, der von seiner Kanzel Woche für Woche dem reuigen Sünder die Gnade eines gnädigen Gottes zusprach, hat nach dem Krieg über die braune Zeit kein Wort verloren. Stattdessen vergrub er sich als älterer Mann in die historische Forschung und schrieb beispielsweise heimatkundliche Berichte über Eberstadt im Dreißigjährigen Krieg. Dass seine Moralvorstellungen weiter denen der Kaiserzeit entsprachen, zeigt eine Begebenheit aus dem Jahr 1952, als er einer schwangerer Frau verbot, bei der Vermählung mit dem Vater ihres Kindes ein weißes Hochzeitskleid zu tragen.

Weißgerber sei nach 1945 den Weg gegangen, den so gut wie alle Deutschen in jener Zeit gegangen seien. "Ich bin da kein Staatsanwalt. Eine der mächtigsten Triebfedern des Menschen ist einfach die Angst." Was den Autor freut, sind die bisherigen Reaktionen auf seine Untersuchungen. "Manche haben mir gesagt, sie empfänden es befreiend, endlich genauer zu wissen, wie es eigentlich war. Insbesondere die Enkelgeneration geht damit anders und freier um."

Die Dotter-Stiftung hat auch dieses Jahr wieder das Projekt "Stadtteil-Historiker" ausgeschrieben. Wie Steffen Meder als Leiter für Kunst und Kultur mitteilt, wurden von der Jury alle eingereichten Vorschläge angenommen. Die Themen betreffen Zwangsarbeit in Eberstadt, die Geschichte der Heeresmunitionsanstalt, der Gesangsvereine, der Sportvereine und der Oberstraße sowie Eberstadt im Dreißigjährigen Krieg, in der bildenden Kunst und während der Industrialisierung. Die zweite Staffel beginnt im Sommer und endet im Dezember 2021.

RAINER HEIN

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