Es war ein Leben voller Spannungen und unerwarteter Wendungen, das den Sohn eines österreichisch-jüdischen Kaufmanns aus dem Wien Kaiser Franz Josephs über Sagan, Rom und das Berlin der abgründigen Zwanziger Jahre schließlich in das Paris der Surrealisten führte. 1938 gelang Wolfgang Paalen mit seinen Rauchbildern (Fumagen) und der Zusammenarbeit mit Marcel Duchamp bei der berühmten 'Exposition Internationale du Surréalisme' in Paris der Durchbruch. 1939 ging er auf Einladung Frida Kahlos ins Exil nach Mexiko und brachte seine Gedanken in einer Reihe explosiver Essays zu Papier, die er in der eigenen Zeitschrift DYN publizierte. Paalen leitete damit eine Revolution künstlerischen Denkens ein, mit der er zur geheimen Leitfigur der jungen amerikanischen Malerei der 1940er Jahre aufstieg. Obwohl er 1945 kurz nach Jackson Pollock in Peggy Guggenheims Galerie 'Art of the Century' in New York ausstellte, geriet er nach dem Durchbruch der Abstrakten Expressionisten in Vergessenheit. Deramerikanische Maler Robert Motherwell sprach 1991 von einer 'Verschwörung des Schweigens' bezüglich Paalens innovativer Rolle im New York der 1940er Jahre. Nach einem Intermezzo in Paris nahm er sich in Mexiko 1959 das Leben. In seiner minuziös recherchierten Biografie gelingt Andreas Neufert ein tiefer Einblick in ein übersehenes Kapitel der Moderne, das mit Paalens lebenslanger Passion für matriarchale Mythen und ihrem Einfluss auf die amerikanische Avantgarde der 1940er Jahre einen roten Faden erhält.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.2015Der Impresario für Wasser und Buschwerk
Ein junger Wiener im Kreis der Surrealisten um André Breton: Andreas Neufert porträtiert den Künstler Wolfgang Paalen als interessante Randfigur und letzten Romantiker.
Wie kein anderes Ereignis steht heute die Pariser Exposition Internationale du Surréalisme Anfang 1938 für die künstlerische Ausdruckskraft der Surrealisten um André Breton: Nur ein kleiner Ofen verbreitete warmes Licht in dem ansonsten dunklen Hauptraum der Ausstellung im Palais des Beaux-Arts, dessen Decke mit alten Kohlesäcken abgehängt war. Die Besucher mussten sich den Weg mit Taschenlampen leuchten. Sie passierten nicht nur Malerei, Collagen und surrealistische Objekte vor dunkelroten Wänden, sondern auch vier Betten, auf denen die Tänzerin Hélène Vanel die Symptome der pathologischen Hysterie performte.
Im neu verlegten unebenen Holzboden war ein Becken eingelassen, ein Teich mit Seerosen und Schilf. Um den Teich herum wateten die Besucher durch eine matschige Moorlandschaft, simuliert durch knöcheltiefes, nasses Laub, frisch angekarrt vom Friedhof Montparnasse. Verantwortlich für "Wasser und Buschwerk" war laut Ausstellungskatalog der 1905 in Wien geborene Wolfgang Paalen. Zu der legendären Schau steuerte er außerdem mehrere Gemälde, eine moosbewachsene Puppe mit Fledermauskopfschmuck sowie weitere surrealistische Objekte bei. Trotzdem spielt er in der kunsthistorischen Rezeption, die sich auf Max Ernst, Salvador Dalí oder eben André Breton konzentriert, eine untergeordnete Rolle. Nun hat der Kunsthistoriker Andreas Neufert eine umfangreiche Biographie Wolfgang Paalens vorgelegt.
Paalen wächst in einer großbürgerlichen Familie erst in Wien, später in Italien und Schlesien auf. Der Vater, Wiener Kaufmann mit mährisch-jüdischen Wurzeln, verhilft modernen Erfindungen wie der Thermosflasche, dem Durchlauferhitzer oder der Leuchtreklame sowohl im österreichisch-ungarischen als auch im deutschen Kaiserreich zum Durchbruch. Um seinen rasanten Aufstieg zu adeln, erwirbt er zusammen mit seiner Frau Emilie ein altes schlesisches Rittergut in Sagan, das Wolfgang Paalen zum Märchenschloss verklärte.
Mitte der zwanziger Jahre zieht es den jungen Paalen von Berlin nach Paris, wo er sich in den dreißiger Jahren der postkubistischen Malergruppe "Abstraction-Création" anschließt. Immer wieder macht er Urlaub in Cassis an der Côte d'Azur, wo sich ein illustrer Künstlerkreis versammelt. Dort lernt er Georges Braque, aber auch André Breton und Paul Éluard kennen. Er kreiert die Fumage, bei der sich der Ruß einer brennenden Kerze auf die Ölfarbe eines Bildes absetzt. Einblicke erhält der Leser auch in die Affären von Paalens erster Frau Alice. Sie bandelt nicht nur mit der französischen Dichterin Valentine Penrose an und ist vor und neben Dora Maar die Geliebte Picassos, sondern später auch die der mexikanischen Malerin Frida Kahlo.
Im mexikanischen Exil ab 1939 fördert Paalen den südamerikanischen Surrealismus. In seiner Zeitschrift "DYN" verbreitet er bis nach New York und Paris eine an der Quantenphysik und totemistischen Kunst entwickelte Kunsttheorie, die sich weit von Breton entfernt. Nach Neuferts Auffassung übt seine dort formulierte Idee der Malerei als Möglichkeitsraum starken Einfluss auf den Abstrakten Expressionismus aus. Paalens nun wieder abstrakten Bilder, die er bei Peggy Guggenheim 1945 in New York ausstellt, scheitern allerdings bei den Kritikern.
Neuferts These ist, dass Paalen in seiner Lebensführung wie in seiner Kunst der "Zurücknahme des Männlichen bei gleichzeitiger Raumgabe für die weibliche Entfaltung" verpflichtet war. Ansatz dafür ist ein Brief, den der Neunzehnjährige an seine rund zwanzig Jahre ältere Geliebte Helene "Aya" Meier-Graefe schrieb, zweite Frau des Kunsthistorikers Julius Meier-Graefe. Ihr gegenüber erwähnt er seine kindliche Phantasie eines "Kults der blinden Mutter". Diesen Kult habe Paalen, bestärkt durch die Lektüre unter anderen von Johann Jakob Bachofens "Das Mutterrecht", zu einer tiefen Verehrung des Weiblichen ausgebaut.
So wird der Hauptraum der Exposition Internationale du Surréalisme mit seiner Moorlandschaft bei Neufert zu einem "Raum exzessiver Weiblichkeit", der auf das Geburtstrauma rekurriere, während das bekannte surrealistisches Objekt "Nuage articulé" - ein aufgespannter Regenschirm, der umgedreht und mit natürlichen Schwämmen überzogen ist - das männlich konnotierte bürgerliche Utensil zu einem organischen Blütenkelch mit befruchtendem Stempel umdeute. Nicht immer trennt Neufert zwischen nachweisbaren Bezugnahmen von Paalen und eigener Interpretation, eine Schwachstelle seines ideengeschichtlichen Ansatzes, der teilweise zu freien, fast schwelgerischen Exkursen in die Geistesgeschichte der ersten Hälfte der zwanzigsten Jahrhunderts führt.
1959 nimmt sich Wolfgang Paalen, in dem Breton einen der letzten Romantiker sah, das Leben. Andreas Neufert hat seit den achtziger Jahren Quellen zu seiner Lebensgeschichte erschlossen und Berichte von Zeitzeugen gesammelt. Der Versuch, sie alle in einem Buch zusammenzuführen, hätte etwas mehr Konzentration vertragen.
PAULA SCHWERDTFEGER
Andreas Neufert: "Auf Liebe und Tod". Das Leben des Surrealisten Wolfgang Paalen.
Parthas Verlag, Berlin 2015. 680 S., Abb., geb., 40,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein junger Wiener im Kreis der Surrealisten um André Breton: Andreas Neufert porträtiert den Künstler Wolfgang Paalen als interessante Randfigur und letzten Romantiker.
Wie kein anderes Ereignis steht heute die Pariser Exposition Internationale du Surréalisme Anfang 1938 für die künstlerische Ausdruckskraft der Surrealisten um André Breton: Nur ein kleiner Ofen verbreitete warmes Licht in dem ansonsten dunklen Hauptraum der Ausstellung im Palais des Beaux-Arts, dessen Decke mit alten Kohlesäcken abgehängt war. Die Besucher mussten sich den Weg mit Taschenlampen leuchten. Sie passierten nicht nur Malerei, Collagen und surrealistische Objekte vor dunkelroten Wänden, sondern auch vier Betten, auf denen die Tänzerin Hélène Vanel die Symptome der pathologischen Hysterie performte.
Im neu verlegten unebenen Holzboden war ein Becken eingelassen, ein Teich mit Seerosen und Schilf. Um den Teich herum wateten die Besucher durch eine matschige Moorlandschaft, simuliert durch knöcheltiefes, nasses Laub, frisch angekarrt vom Friedhof Montparnasse. Verantwortlich für "Wasser und Buschwerk" war laut Ausstellungskatalog der 1905 in Wien geborene Wolfgang Paalen. Zu der legendären Schau steuerte er außerdem mehrere Gemälde, eine moosbewachsene Puppe mit Fledermauskopfschmuck sowie weitere surrealistische Objekte bei. Trotzdem spielt er in der kunsthistorischen Rezeption, die sich auf Max Ernst, Salvador Dalí oder eben André Breton konzentriert, eine untergeordnete Rolle. Nun hat der Kunsthistoriker Andreas Neufert eine umfangreiche Biographie Wolfgang Paalens vorgelegt.
Paalen wächst in einer großbürgerlichen Familie erst in Wien, später in Italien und Schlesien auf. Der Vater, Wiener Kaufmann mit mährisch-jüdischen Wurzeln, verhilft modernen Erfindungen wie der Thermosflasche, dem Durchlauferhitzer oder der Leuchtreklame sowohl im österreichisch-ungarischen als auch im deutschen Kaiserreich zum Durchbruch. Um seinen rasanten Aufstieg zu adeln, erwirbt er zusammen mit seiner Frau Emilie ein altes schlesisches Rittergut in Sagan, das Wolfgang Paalen zum Märchenschloss verklärte.
Mitte der zwanziger Jahre zieht es den jungen Paalen von Berlin nach Paris, wo er sich in den dreißiger Jahren der postkubistischen Malergruppe "Abstraction-Création" anschließt. Immer wieder macht er Urlaub in Cassis an der Côte d'Azur, wo sich ein illustrer Künstlerkreis versammelt. Dort lernt er Georges Braque, aber auch André Breton und Paul Éluard kennen. Er kreiert die Fumage, bei der sich der Ruß einer brennenden Kerze auf die Ölfarbe eines Bildes absetzt. Einblicke erhält der Leser auch in die Affären von Paalens erster Frau Alice. Sie bandelt nicht nur mit der französischen Dichterin Valentine Penrose an und ist vor und neben Dora Maar die Geliebte Picassos, sondern später auch die der mexikanischen Malerin Frida Kahlo.
Im mexikanischen Exil ab 1939 fördert Paalen den südamerikanischen Surrealismus. In seiner Zeitschrift "DYN" verbreitet er bis nach New York und Paris eine an der Quantenphysik und totemistischen Kunst entwickelte Kunsttheorie, die sich weit von Breton entfernt. Nach Neuferts Auffassung übt seine dort formulierte Idee der Malerei als Möglichkeitsraum starken Einfluss auf den Abstrakten Expressionismus aus. Paalens nun wieder abstrakten Bilder, die er bei Peggy Guggenheim 1945 in New York ausstellt, scheitern allerdings bei den Kritikern.
Neuferts These ist, dass Paalen in seiner Lebensführung wie in seiner Kunst der "Zurücknahme des Männlichen bei gleichzeitiger Raumgabe für die weibliche Entfaltung" verpflichtet war. Ansatz dafür ist ein Brief, den der Neunzehnjährige an seine rund zwanzig Jahre ältere Geliebte Helene "Aya" Meier-Graefe schrieb, zweite Frau des Kunsthistorikers Julius Meier-Graefe. Ihr gegenüber erwähnt er seine kindliche Phantasie eines "Kults der blinden Mutter". Diesen Kult habe Paalen, bestärkt durch die Lektüre unter anderen von Johann Jakob Bachofens "Das Mutterrecht", zu einer tiefen Verehrung des Weiblichen ausgebaut.
So wird der Hauptraum der Exposition Internationale du Surréalisme mit seiner Moorlandschaft bei Neufert zu einem "Raum exzessiver Weiblichkeit", der auf das Geburtstrauma rekurriere, während das bekannte surrealistisches Objekt "Nuage articulé" - ein aufgespannter Regenschirm, der umgedreht und mit natürlichen Schwämmen überzogen ist - das männlich konnotierte bürgerliche Utensil zu einem organischen Blütenkelch mit befruchtendem Stempel umdeute. Nicht immer trennt Neufert zwischen nachweisbaren Bezugnahmen von Paalen und eigener Interpretation, eine Schwachstelle seines ideengeschichtlichen Ansatzes, der teilweise zu freien, fast schwelgerischen Exkursen in die Geistesgeschichte der ersten Hälfte der zwanzigsten Jahrhunderts führt.
1959 nimmt sich Wolfgang Paalen, in dem Breton einen der letzten Romantiker sah, das Leben. Andreas Neufert hat seit den achtziger Jahren Quellen zu seiner Lebensgeschichte erschlossen und Berichte von Zeitzeugen gesammelt. Der Versuch, sie alle in einem Buch zusammenzuführen, hätte etwas mehr Konzentration vertragen.
PAULA SCHWERDTFEGER
Andreas Neufert: "Auf Liebe und Tod". Das Leben des Surrealisten Wolfgang Paalen.
Parthas Verlag, Berlin 2015. 680 S., Abb., geb., 40,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Paula Schwerdtfeger ist in erster Linie froh, dass mit Andreas Neuferts Buch "Auf Liebe und Tod" endlich eine Biografie über den surrealistischen Künstler Wolfgang Paalen erschienen ist. Zwar weniger bekannt als Salvador Dali oder Andre Breton war Paalen Mitglied der französischen Surrealisten, entwickelte etwa die Fumage, förderte ab 1939 aber vor allem den postkubanischen Surrealismus und entfernte sich durch seine der Quantenphysik und totemistischen Kunst entlehnten Kunsttheorie immer weiter von Breton, informiert die Kritikerin. Interessiert hat sie darüber hinaus von den zahlreichen Affären von Paalens erster Frau Alice gelesen. Allerdings vermisst die Rezensentin eine saubere Trennung zwischen Neuferts eigenen Interpretationen und nachweisbaren Bezugnahmen von Paalen. Außerdem hätte dem material- und quellenreichen Buch ein wenig mehr Konzentration gut getan, schließt Schwerdtfeger.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Der Impresario für Wasser und Buschwerk
Ein junger Wiener im Kreis der Surrealisten um André Breton: Andreas Neufert porträtiert den Künstler Wolfgang Paalen als interessante Randfigur und letzten Romantiker.
Wie kein anderes Ereignis steht heute die Pariser Exposition Internationale du Surréalisme Anfang 1938 für die künstlerische Ausdruckskraft der Surrealisten um André Breton: Nur ein kleiner Ofen verbreitete warmes Licht in dem ansonsten dunklen Hauptraum der Ausstellung im Palais des Beaux-Arts, dessen Decke mit alten Kohlesäcken abgehängt war. Die Besucher mussten sich den Weg mit Taschenlampen leuchten. Sie passierten nicht nur Malerei, Collagen und surrealistische Objekte vor dunkelroten Wänden, sondern auch vier Betten, auf denen die Tänzerin Hélène Vanel die Symptome der pathologischen Hysterie performte.
Im neu verlegten unebenen Holzboden war ein Becken eingelassen, ein Teich mit Seerosen und Schilf. Um den Teich herum wateten die Besucher durch eine matschige Moorlandschaft, simuliert durch knöcheltiefes, nasses Laub, frisch angekarrt vom Friedhof Montparnasse. Verantwortlich für "Wasser und Buschwerk" war laut Ausstellungskatalog der 1905 in Wien geborene Wolfgang Paalen. Zu der legendären Schau steuerte er außerdem mehrere Gemälde, eine moosbewachsene Puppe mit Fledermauskopfschmuck sowie weitere surrealistische Objekte bei. Trotzdem spielt er in der kunsthistorischen Rezeption, die sich auf Max Ernst, Salvador Dalí oder eben André Breton konzentriert, eine untergeordnete Rolle. Nun hat der Kunsthistoriker Andreas Neufert eine umfangreiche Biographie Wolfgang Paalens vorgelegt.
Paalen wächst in einer großbürgerlichen Familie erst in Wien, später in Italien und Schlesien auf. Der Vater, Wiener Kaufmann mit mährisch-jüdischen Wurzeln, verhilft modernen Erfindungen wie der Thermosflasche, dem Durchlauferhitzer oder der Leuchtreklame sowohl im österreichisch-ungarischen als auch im deutschen Kaiserreich zum Durchbruch. Um seinen rasanten Aufstieg zu adeln, erwirbt er zusammen mit seiner Frau Emilie ein altes schlesisches Rittergut in Sagan, das Wolfgang Paalen zum Märchenschloss verklärte.
Mitte der zwanziger Jahre zieht es den jungen Paalen von Berlin nach Paris, wo er sich in den dreißiger Jahren der postkubistischen Malergruppe "Abstraction-Création" anschließt. Immer wieder macht er Urlaub in Cassis an der Côte d'Azur, wo sich ein illustrer Künstlerkreis versammelt. Dort lernt er Georges Braque, aber auch André Breton und Paul Éluard kennen. Er kreiert die Fumage, bei der sich der Ruß einer brennenden Kerze auf die Ölfarbe eines Bildes absetzt. Einblicke erhält der Leser auch in die Affären von Paalens erster Frau Alice. Sie bandelt nicht nur mit der französischen Dichterin Valentine Penrose an und ist vor und neben Dora Maar die Geliebte Picassos, sondern später auch die der mexikanischen Malerin Frida Kahlo.
Im mexikanischen Exil ab 1939 fördert Paalen den südamerikanischen Surrealismus. In seiner Zeitschrift "DYN" verbreitet er bis nach New York und Paris eine an der Quantenphysik und totemistischen Kunst entwickelte Kunsttheorie, die sich weit von Breton entfernt. Nach Neuferts Auffassung übt seine dort formulierte Idee der Malerei als Möglichkeitsraum starken Einfluss auf den Abstrakten Expressionismus aus. Paalens nun wieder abstrakten Bilder, die er bei Peggy Guggenheim 1945 in New York ausstellt, scheitern allerdings bei den Kritikern.
Neuferts These ist, dass Paalen in seiner Lebensführung wie in seiner Kunst der "Zurücknahme des Männlichen bei gleichzeitiger Raumgabe für die weibliche Entfaltung" verpflichtet war. Ansatz dafür ist ein Brief, den der Neunzehnjährige an seine rund zwanzig Jahre ältere Geliebte Helene "Aya" Meier-Graefe schrieb, zweite Frau des Kunsthistorikers Julius Meier-Graefe. Ihr gegenüber erwähnt er seine kindliche Phantasie eines "Kults der blinden Mutter". Diesen Kult habe Paalen, bestärkt durch die Lektüre unter anderen von Johann Jakob Bachofens "Das Mutterrecht", zu einer tiefen Verehrung des Weiblichen ausgebaut.
So wird der Hauptraum der Exposition Internationale du Surréalisme mit seiner Moorlandschaft bei Neufert zu einem "Raum exzessiver Weiblichkeit", der auf das Geburtstrauma rekurriere, während das bekannte surrealistisches Objekt "Nuage articulé" - ein aufgespannter Regenschirm, der umgedreht und mit natürlichen Schwämmen überzogen ist - das männlich konnotierte bürgerliche Utensil zu einem organischen Blütenkelch mit befruchtendem Stempel umdeute. Nicht immer trennt Neufert zwischen nachweisbaren Bezugnahmen von Paalen und eigener Interpretation, eine Schwachstelle seines ideengeschichtlichen Ansatzes, der teilweise zu freien, fast schwelgerischen Exkursen in die Geistesgeschichte der ersten Hälfte der zwanzigsten Jahrhunderts führt.
1959 nimmt sich Wolfgang Paalen, in dem Breton einen der letzten Romantiker sah, das Leben. Andreas Neufert hat seit den achtziger Jahren Quellen zu seiner Lebensgeschichte erschlossen und Berichte von Zeitzeugen gesammelt. Der Versuch, sie alle in einem Buch zusammenzuführen, hätte etwas mehr Konzentration vertragen.
PAULA SCHWERDTFEGER
Andreas Neufert: "Auf Liebe und Tod". Das Leben des Surrealisten Wolfgang Paalen.
Parthas Verlag, Berlin 2015. 680 S., Abb., geb., 40,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein junger Wiener im Kreis der Surrealisten um André Breton: Andreas Neufert porträtiert den Künstler Wolfgang Paalen als interessante Randfigur und letzten Romantiker.
Wie kein anderes Ereignis steht heute die Pariser Exposition Internationale du Surréalisme Anfang 1938 für die künstlerische Ausdruckskraft der Surrealisten um André Breton: Nur ein kleiner Ofen verbreitete warmes Licht in dem ansonsten dunklen Hauptraum der Ausstellung im Palais des Beaux-Arts, dessen Decke mit alten Kohlesäcken abgehängt war. Die Besucher mussten sich den Weg mit Taschenlampen leuchten. Sie passierten nicht nur Malerei, Collagen und surrealistische Objekte vor dunkelroten Wänden, sondern auch vier Betten, auf denen die Tänzerin Hélène Vanel die Symptome der pathologischen Hysterie performte.
Im neu verlegten unebenen Holzboden war ein Becken eingelassen, ein Teich mit Seerosen und Schilf. Um den Teich herum wateten die Besucher durch eine matschige Moorlandschaft, simuliert durch knöcheltiefes, nasses Laub, frisch angekarrt vom Friedhof Montparnasse. Verantwortlich für "Wasser und Buschwerk" war laut Ausstellungskatalog der 1905 in Wien geborene Wolfgang Paalen. Zu der legendären Schau steuerte er außerdem mehrere Gemälde, eine moosbewachsene Puppe mit Fledermauskopfschmuck sowie weitere surrealistische Objekte bei. Trotzdem spielt er in der kunsthistorischen Rezeption, die sich auf Max Ernst, Salvador Dalí oder eben André Breton konzentriert, eine untergeordnete Rolle. Nun hat der Kunsthistoriker Andreas Neufert eine umfangreiche Biographie Wolfgang Paalens vorgelegt.
Paalen wächst in einer großbürgerlichen Familie erst in Wien, später in Italien und Schlesien auf. Der Vater, Wiener Kaufmann mit mährisch-jüdischen Wurzeln, verhilft modernen Erfindungen wie der Thermosflasche, dem Durchlauferhitzer oder der Leuchtreklame sowohl im österreichisch-ungarischen als auch im deutschen Kaiserreich zum Durchbruch. Um seinen rasanten Aufstieg zu adeln, erwirbt er zusammen mit seiner Frau Emilie ein altes schlesisches Rittergut in Sagan, das Wolfgang Paalen zum Märchenschloss verklärte.
Mitte der zwanziger Jahre zieht es den jungen Paalen von Berlin nach Paris, wo er sich in den dreißiger Jahren der postkubistischen Malergruppe "Abstraction-Création" anschließt. Immer wieder macht er Urlaub in Cassis an der Côte d'Azur, wo sich ein illustrer Künstlerkreis versammelt. Dort lernt er Georges Braque, aber auch André Breton und Paul Éluard kennen. Er kreiert die Fumage, bei der sich der Ruß einer brennenden Kerze auf die Ölfarbe eines Bildes absetzt. Einblicke erhält der Leser auch in die Affären von Paalens erster Frau Alice. Sie bandelt nicht nur mit der französischen Dichterin Valentine Penrose an und ist vor und neben Dora Maar die Geliebte Picassos, sondern später auch die der mexikanischen Malerin Frida Kahlo.
Im mexikanischen Exil ab 1939 fördert Paalen den südamerikanischen Surrealismus. In seiner Zeitschrift "DYN" verbreitet er bis nach New York und Paris eine an der Quantenphysik und totemistischen Kunst entwickelte Kunsttheorie, die sich weit von Breton entfernt. Nach Neuferts Auffassung übt seine dort formulierte Idee der Malerei als Möglichkeitsraum starken Einfluss auf den Abstrakten Expressionismus aus. Paalens nun wieder abstrakten Bilder, die er bei Peggy Guggenheim 1945 in New York ausstellt, scheitern allerdings bei den Kritikern.
Neuferts These ist, dass Paalen in seiner Lebensführung wie in seiner Kunst der "Zurücknahme des Männlichen bei gleichzeitiger Raumgabe für die weibliche Entfaltung" verpflichtet war. Ansatz dafür ist ein Brief, den der Neunzehnjährige an seine rund zwanzig Jahre ältere Geliebte Helene "Aya" Meier-Graefe schrieb, zweite Frau des Kunsthistorikers Julius Meier-Graefe. Ihr gegenüber erwähnt er seine kindliche Phantasie eines "Kults der blinden Mutter". Diesen Kult habe Paalen, bestärkt durch die Lektüre unter anderen von Johann Jakob Bachofens "Das Mutterrecht", zu einer tiefen Verehrung des Weiblichen ausgebaut.
So wird der Hauptraum der Exposition Internationale du Surréalisme mit seiner Moorlandschaft bei Neufert zu einem "Raum exzessiver Weiblichkeit", der auf das Geburtstrauma rekurriere, während das bekannte surrealistisches Objekt "Nuage articulé" - ein aufgespannter Regenschirm, der umgedreht und mit natürlichen Schwämmen überzogen ist - das männlich konnotierte bürgerliche Utensil zu einem organischen Blütenkelch mit befruchtendem Stempel umdeute. Nicht immer trennt Neufert zwischen nachweisbaren Bezugnahmen von Paalen und eigener Interpretation, eine Schwachstelle seines ideengeschichtlichen Ansatzes, der teilweise zu freien, fast schwelgerischen Exkursen in die Geistesgeschichte der ersten Hälfte der zwanzigsten Jahrhunderts führt.
1959 nimmt sich Wolfgang Paalen, in dem Breton einen der letzten Romantiker sah, das Leben. Andreas Neufert hat seit den achtziger Jahren Quellen zu seiner Lebensgeschichte erschlossen und Berichte von Zeitzeugen gesammelt. Der Versuch, sie alle in einem Buch zusammenzuführen, hätte etwas mehr Konzentration vertragen.
PAULA SCHWERDTFEGER
Andreas Neufert: "Auf Liebe und Tod". Das Leben des Surrealisten Wolfgang Paalen.
Parthas Verlag, Berlin 2015. 680 S., Abb., geb., 40,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main