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"Nie hätte ich jemals geglaubt, dass ich noch einmal an die Adresse Arcisstraße 12 einen Brief richten würde. Es war an die fünfzig Jahre lang die Adresse meiner Großeltern." Golo Mann 1984 in einem Schreiben an den Präsidenten der Musikhochschule München Unter der Adresse Arcisstraße 12 wurden einige wichtige Kapitel der Münchner Geschichte geschrieben. Die Umgebung des Königsplatzes war im 19. Jahrhundert eine attraktive Wohngegend, in der wohlhabende Künstler wie Richard Wagner, Franz von Lenbach oder Paul Heyse residierten. 1890 bezog der Mathematiker und bedeutende Kunstsammler Alfred…mehr

Produktbeschreibung
"Nie hätte ich jemals geglaubt, dass ich noch einmal an die Adresse Arcisstraße 12 einen Brief richten würde. Es war an die fünfzig Jahre lang die Adresse meiner Großeltern." Golo Mann 1984 in einem Schreiben an den Präsidenten der Musikhochschule München
Unter der Adresse Arcisstraße 12 wurden einige wichtige Kapitel der Münchner Geschichte geschrieben. Die Umgebung des Königsplatzes war im 19. Jahrhundert eine attraktive Wohngegend, in der wohlhabende Künstler wie Richard Wagner, Franz von Lenbach oder Paul Heyse residierten. 1890 bezog der Mathematiker und bedeutende Kunstsammler Alfred Pringsheim mit seiner Familie eine Neo-Renaissance-Villa mit der Anschrift Arcisstraße 12 (heute am südlichen Ende des Gebäudes Meiserstraße 10). In die Geistesgeschichte ist Pringsheim vor allem als Schwiegervater Thomas Manns eingegangen. Die Nationalsozialisten sahen im klassizistischen Rahmen des Königsplatzes einen geeigneten Standort für ihre Selbstinszenierung. Im September 1937 wurden zwei neu errichtete zentrale Parteigebäude an der Kreuzung Arcisstraße/Brienner Straße eingeweiht, das südliche für die Verwaltung, das nördliche als so genannter "Führerbau" für Hitler und seinen Stab - es bekam die Anschrift Arcisstraße 12. Ab Mai 1945 war ein Central Art Collecting Point in der Arcisstraße 12 untergebracht, dessen Aufgabe in der Rückführung geraubter und enteigneter Kunstwerke an die ursprünglichen Eigentümer bestand. Von 1948 bis 1957 befand sich in der Arcisstraße 12 das Amerika Haus, seit 1957 ist das Gebäude Sitz der Hochschule für Musik und Theater München. Alexander Krause recherchiert in diesem Bändchen mit zahlreichen Abbildungen die wechselvolle Geschichte der Adresse Arcisstraße 12 - nicht nur ein Stück Münchner Kultur- und Geistesgeschichte, sondern auch ein trauriges Kapitel der Weltgeschichte.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.09.2005

Denn sie wissen nicht, wo sie spielen
Kultur und Nazibarbarei: Alexander Krause hat die Geschichte der Arcisstraße 12 aufgeschrieben
Die Bücherwand in dunkelbraunem Nussbaum zieren lückenhafte Reihen knallroter Ordner, davor stehen in die Ecke gestapelte Stühle, daneben kreuz und quer Xylophone und Notenständer. Vor dem Marmorkamin an der gegenüberliegenden Seite lagern die verschiedensten Instrumentenkoffer, und unter dem klassisch gediegenen Deckenleuchter in der Mitte des Raums ist ein Pianoforte platziert, ein elektronisches jedoch mit Plastikkabel. Regelrecht angenehm ist dieser leicht improvisierte Eindruck in einem Raum, bei dessen ursprünglicher Gestaltung ein kleinbürgerlicher Geist sichtlich um ehrwürdigen Ernst bemüht war. Es ist Zimmer 105, Proberaum für Ensemblemusik an der Hochschule für Musik und Theater München. „90 Prozent unserer Studenten wissen nicht, wo sie eigentlich studieren”, schätzt etwas provokativ Alexander Krause, Kanzler der Hochschule. Bücherwand, Marmorkamin und Deckenleuchter waren schon 1938 zur Stelle, damals in Hitlers Arbeitszimmer, wo das fatale „Münchner Abkommen” unterzeichnet wurde. Nach dem Krieg hat man nur die Wand mit dem Bücherschrank um eine Fensterachse verschoben - man wollte, wie auch an anderen Stellen des auf weiträumige Repräsentation angelegten Baus, ein zusätzliches Zimmer gewinnen.
In ihrer Unkenntnis sind die Musikstudenten nicht allein: Wer ahnt schon, dass er nicht an einer romantisch überwucherten Gartenmauer, sondern am Fundament eines einstigen Nazi-Tempels vorbeischlendert, wenn er von der Brienner in die Arcisstraße einbiegt und dabei nicht gerade über die erst Mitte der Neunziger errichtete, sich im Grünstreifen zurückhaltende Infotafel stolpert? Dem Kenntnisnotstand schafft Alexander Krause nun mit seinem Buch „Arcisstraße 12” (Alliteraverlag) Abhilfe. Es ist das Produkt einer Selbsthilfe; auch der Autor, seit 1967 in München lebend, bekennt sein lange währendes Unwissen: „Ich halte mich da für völlig durchschnittlich. Keiner hat einem gesagt und man hat lange Zeit gar nicht realisiert, dass hier ein altes Nazigebäude steht.” Seine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Hauses begann Krause vor acht Jahren, als er an die Musikhochschule kam. Er führte zunächst kleinere Gruppen durchs Haus: „Dabei wurde ich immer wieder gefragt, wo man nachlesen könnte, was ich bei den Führungen erzähle.” So entstand sein Buch über die wechselvolle Geschichte einer Adresse zwischen Kultur und Barbarei.
Die Hausnummer gehörte zunächst, von 1889 bis 1933, dem Palais Pringsheim und ganz den Künsten: Musiker und Maler gingen ein und aus in jenem Haus, wo Thomas Mann um die Hand von Katia Pringsheim anhielt. Als sich die braune Bewegung in ihrer Hauptstadt immer breiter machte, musste das Palais dem nationalsozialistischen Protzprojekt rund um den Königsplatz weichen. 1937 wurde - zusammen mit seinem Zwilling, dem Verwaltungsbau südlich der Brienner Straße - der „Führerbau” als Repräsentations- und Dienstgebäude für Hitler und seinen Parteistellvertreter eingeweiht. Es erhielt die Adresse des abgerissenen Palais’ Pringsheim: Arcisstraße 12. Unter dieser Anschrift hat heute Alexander Krause sein Arbeitszimmer, im ehemaligen Fernmelderaum. Der offizielle Dienstraum des Hitlerstellvertreters (Hess, später Bormann) trägt heute die Nummer 202 und ist das Zimmer des Rektors.
Krause bedauert, dass er bislang noch keine Zeitzeugen befragen konnte. Aber das wäre ja ein Projekt für die Zukunft: „Ich habe mal überlegt, eine Anzeige in die Zeitung zu setzen, auch bezüglich dieser Plünderungsaktion. Es wäre interessant, jemanden kennen zu lernen, der dabei war.” Diese Plünderungsaktion, der „Münchner Kunstraub”, ist wohl eines der kuriosesten Kapitel in der Geschichte der Arcisstraße 12: Hier wurden die Räuber ausgeraubt. Der Führerbau war zugleich das Depot für jene Bilder, die die Nazis für das geplante Führermuseum in Linz ‚beschlagnahmt’, also geraubt hatten. Gegen Kriegsende hat man die Mehrzahl dieser Bilder in Salzbergwerken versteckt, 723 Gemälde aber blieben in den Luftschutzkellern der Arcisstraße zurück. Als die letzte SS-Wachmannschaft floh und München bis zum Einmarsch der Alliierten polizeilich verwaist war, brach die Münchner Bevölkerung in den Führerbau ein. Sie hoffte auf Lebensmittel und fand Kunstwerke von Canaletto bis Rembrandt. Einige der unschätzbaren Meisterwerke landeten als Dichtungen in Fensterrahmen oder als provisorische Decken in Münchner Betten. Bis heute sind noch etwa 500 dieser Bilder verschollen und schlummern als zweifach geraubte Schätze möglicherweise unerkannt in Münchner Familienbesitz. In dieser Hinsicht könnte es durchaus sinnvoll sein, „mal bei der Oma unterm Bett nachzuschauen”, so Krause.
Führer- und Parteiverwaltungsbau zählten nach dem Krieg zu den wenigen unversehrten Großgebäuden in München, weshalb sie von der US-Verwaltung genutzt statt zerstört wurden. Am 12. Juli 1948 eröffnete im südlichen Teil der Arcisstraße 12 das Amerika Haus: Damit wurde der Münchner Bevölkerung wieder ein offenes Haus für Kunst und Kultur, für Bibliotheken, Film- und Theateraufführungen, Kurse, Vorträge und Konzerte geschenkt. Die Geschichte dieser glücklichen Umwidmung setzt sich mit der Musikhochschule fort, die 1957 das Gebäude übernahm. Man sprach von einem „Exorzismus durch Musik”, der nach Ansicht Krauses gelungen ist: „Wenn man so ein Gebäude vorfindet, muss man es mit anderem Leben erfüllen. Dafür ist eine Musikhochschule ideal: Man hat hier Jugend, Internationalität und schließlich die Musik.” Der Exorzismus kennt keine Berührungsängste: „Wir nutzen Hitlers Arbeitszimmer wie jedes andere Zimmer auch”, meint Krause, räumt jedoch ein: „Der Raum selbst wirkt aber noch oft gespenstisch.”
Dem Spuk ein Ende und die historische Wirklichkeit greifbar machen, wird auch das NS-Dokumentationszentrum im Umkreis des Königsplatzes (so es denn endlich errichtet wird). Auch Alexander Krause fordert nachdrücklich eine Dokumentation des NS-Terrors am Ort des Geschehens. Doch fürchtet er, es könnten dann andere Geister ihr Unwesen in der Arcisstraße 12 treiben: „Es graust mir ein bisschen vor der Vorstellung, dass dann Tausende von Besuchern zu den Originalschauplätzen kommen wollen und am Ende hier die Klinken abschrauben, weil die der Führer berührt hat”. Dieser neue Ungeist lässt sich wohl vertreiben, indem junge Musiker aus aller Welt sich Hitlers Türklinke in die Hand geben wie jede andere Türklinke dieser Welt auch.
CHRISTOPH KAPPES
Inszenierung der Nazi-Gewalt: die Einweihung der „Ehrentempel” an der Arcisstraße am 9. November 1935.
Foto: oh
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