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Sarah Hermanson Meister is Curator, Department of Photography, The Museum of Modern Art, New York. Max Kozloff is a New York-based writer and photographer.

Produktbeschreibung
Sarah Hermanson Meister is Curator, Department of Photography, The Museum of Modern Art, New York. Max Kozloff is a New York-based writer and photographer.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2017

Wie ein Kinofilm mit Starbesetzung

Die 1967 in New York gezeigte Schau "New Documents" zählt zu den wichtigsten Fotoausstellungen der Geschichte. Mit fünfzig Jahren Verspätung ist jetzt ein großartiger Katalog erschienen.

Unter den Fotografieausstellungen, die Geschichte geschrieben haben, steht "New Documents" weit oben. Niemand nennt sie, ohne Begriffe wie "legendär", "epochemachend" oder "Meilenstein" zu bemühen. Er wolle, hatte John Szarkowski, der damals noch junge Direktor der Fotoabteilung des Museum of Modern Art, im Frühjahr 1966 in einem Exposé darlegt, das Werk jener jungen Fotografen zeigen, "die die Ästhetik der Dokumentarfotografie aufgreifen, jedoch in einer Absicht, die letztlich weder sozial noch mahnend ist, sondern persönlich."

Das war eine Abkehr ebenso von den engagierten Arbeiten eines Walker Evans und einer Dorothea Lange, die in den dreißiger Jahren die Armut im Süden der Vereinigen Statten dokumentiert hatten, wie von der humanistisch bis an die Grenze des Kitsches ausgerichteten Bilderschau "The Family of Men" aus den Fünfzigern, einer Art globaler Verbrüderung im Anschluss an den Weltkrieg über den Umweg der Fotografie. Beide Richtungen waren eng mit dem MoMA verknüpft.

Nun sollte es anders werden. Und "New Documents" gab reichlich Stoff für nachdenkliche Berichte in der Presse und aufgeregte Kommentare im Gästebuch des Museums. Aber eine Zäsur war die Ausstellung nicht. Vielmehr griff sie eine Stimmung auf und vor allem eine Ästhetik, die sich zurückverfolgen ließ bis zu Robert Franks Fotoband "Die Amerikaner" - in Europa bereits 1958 erschienen, in Amerika ein Jahr später.

Ursprünglich als eine Übersichtsausstellung angekündigt, verschlankte John Szarkowski bis zur Eröffnung im Februar 1967 die Liste der Fotografen auf Diane Arbus, Lee Friedlander und Garry Winogrand. Dass die drei heute als die Fixsterne am Himmel der amerikanischen Fotografie der sechziger Jahre gelten und für immer zu einer Art Dreifaltigkeit verschmolzen sind, hat nicht zuletzt mit "New Documents" zu tun. Doch hat Szarkowski diese Fotokünstler mitnichten entdeckt. Lee Friedlander, der jüngste unter ihnen, war Anfang dreißig, Diane Arbus schon Mitte vierzig. Alle hatten sie ein Guggenheim-Stipendium erhalten oder sogar mehrere - ein Adelsbrief für Künstler -, und von allen dreien hatte das MoMA bereits etliche Arbeiten gezeigt und angekauft.

Weshalb also dieser Mythos um "New Documents", dieser Glaube an einen Paukenschlag, mit dem eine neue Zeitrechnung in der Fotografie begonnen habe? So paradox es klingt, die Antwort könnte sein: Weil damals kein Katalog erschienen ist. Es blieb nichts übrig von der Schau als eine Handvoll Rezensionen und ein Faltblatt, das man zu einer verknappten Auswahl von Bildern gedruckt hatte, die als Wanderausstellung an gut einem Dutzend Stationen in Amerika haltmachte, zumeist in den kleinen Ausstellungsräumen von Universitäten und Colleges. Das Titelbild freilich gleicht heute dem Plakat für einen Kinofilm mit Starbesetzung. Das war Nährboden genug für Legendenbildung.

Jetzt, im Jubiläumsjahr, ein halbes Jahrhundert nach der ersten Präsentation, hat sich das MoMA die Mühe gemacht, die Ausstellung für ein Buch detailliert zu rekonstruieren. Es ist ein wunderbarer Band, der nun auch auf Deutsch mit Übersetzungen der meisten der zusammengetragenen Zeugnisse und Dokumente vorliegt. Denn es handelt sich keineswegs um ein reines Bilderbuch. Vierundneunzig Motive hatte John Szarkowski damals in Absprache mit den Fotografen für die Schau ausgewählt - und Bild für Bild werden sie im Buch gezeigt, das meiste bekannt und vieles darunter, was heute den Status von Ikonen genießt: die Zwillinge von Diane Arbus etwa und der junge Mann mit den Lockenwicklern, Lee Friedlanders Selbstporträt als Schatten im Fellmantel einer Passantin in New York und Garry Winogrands Aufnahme einer Frau, die ihm vom Ende der Schlange eines Friedensmarsches aus keck in die Kamera lächelt. Alle diese Schwarzweißaufnahmen sind 1966 entstanden, also unmittelbar vor der Ausstellung, und bezeugen damit Szarkowskis Geschmackssicherheit im Umgang mit Fotografien. Zugleich wird das Wesen der drei Fotografen trotz der überschaubaren Auswahl überzeugend analysiert und dargestellt: Wie sie gnadenlos im Umgang mit den Motiven und mit einer teils radikalen Bildsprache neue, visuelle Metaphern für ein unheroisches, verlorenes Amerika fanden. Bis heute ist die Wucht ihrer Aufnahmen spürbar, einen Schock aber lösen sie kaum noch aus. Den achtzig Farbfotografien Garry Winogrands, die offenbar eher stümperhaft in Endlosschleife an die Wand projiziert wurden, wird im Buch leider kaum Platz eingeräumt. Umso spannender wird es deshalb dort, wo es sich mit der Ausstellung selbst und deren Drumherum beschäftigt.

Das beginnt mit Aufnahmen der Präsentation. Sie war von solch ernüchternder Schlichtheit, aufgeteilt auf zwei notdürftig renovierte Nebenräume, dass man sich wundert, wie es dem MoMA gelungen ist, dass neben der "New York Times" auch "Newsweek" und das "Arts Magazine" über die Schau berichteten - wenngleich nicht durchgehend begeistert. Dabei legt das Archivmaterial zur Vernissage nahe, dass man durchaus Großes erwartete. "Ich bin nicht maßlos", schrieb Diane Arbus an John Szarkowskis Assistentin, "ich möchte nur, dass es eine tolle Party gibt" - und fügte eine Liste bei, auf der unter anderem die Namen und Adressen von Künstlerkollegen wie Jenny Holzer, Lucas Samaras und Frank Stella stehen, aber auch von Gloria Vanderbilt.

Noch glanzvoller ist die vollständige Einladungsliste des Museums: Von Berenice Abbott über Robert Indiana, Helen Levitt und Norman Mailer bis zu Andy Warhol wurde die Kunst- und Fotografenszene der Stadt nahezu lückenlos berücksichtigt. Doch am Ende, so legen es die seitenweise ausgebreiteten Kontaktstreifen mit Schnappschüssen des Abends nahe, schaute nur Jim Dine vorbei. War es ein rauschendes Fest? Drei Hostessen, so geht aus einer Rechnung hervor, schenkten Getränke im Wert von 150,83 Dollar aus. Ihr Stundenlohn von zwei Dollar setzt die Zahl in eine gewisse Relation. Dass sich die Gäste beim Empfang vor allem vor wandfüllenden Gemälden tummelten, legt den Verdacht nahe, sie seien schnellstmöglich aus den Kabinetten geflohen.

Das Buch zeugt mit seinen vielen Dokumenten, Illustrationen und Zeitungsausrissen von buchhalterischem Fleiß mit reichlich Material, aus dessen Fülle von Mosaiksplittern man einen epochalen Roman stricken könnte. Besonders ergiebig ist es immer dort, wo die Poesie der Fotokunst auf die Prosa des Kassenwarts stößt. So mussten gleich mehrfach jeweils fünfundsiebig Dollar für gestohlene Abzüge von Diane Arbus in Rechnung gestellt werden. Die Fotografin zeigte sich amüsiert: "Es ist in gewisser Hinsicht ein Kompliment, und ich staune über den Wagemut. Manche Dinge würde ich gerne haben, aber ich würde mich nicht trauen."

FREDDY LANGER

"Arbus, Friedlander, Winogrand - New Documents 1967". Hrsg. von Sarah Hermanson Meister. Mit einem Text von Max Kozloff.

Schirmer/Mosel Verlag, München 2017. 180 S., Abb., geb., 39,80 [Euro].

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