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Produktdetails
  • Verlag: DuMont Buchverlag
  • Seitenzahl: 271
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 470g
  • ISBN-13: 9783770148226
  • ISBN-10: 3770148223
  • Artikelnr.: 24362414
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.06.1999

Pausenpoesie
Gert Neumanns Weg durch das Unterholz · Von Mark Siemons

Wenn es einen DDR-Schriftsteller gibt, der jeglicher DDR-Nostalgie unverdächtig ist, dann Gert Neumann. Er ist das lebende Beispiel dafür, daß man in der DDR eine intellektuelle Existenz führen konnte, die von deren Geschichtsphilosophie vollkommen unberührt war. Der wahre Sozialismus interessierte ihn so wenig wie der falsche; die Kategorien der führenden Partei wurden dem 1969 aus der SED ausgeschlossenen Neumann so fremd, daß er schließlich nicht mehr gegen sie opponierte. Aber er verließ das Land nicht. Er nahm in einem Leipziger Kaufhaus eine Stelle als Betriebsschlosser an, bei der er weitgehend für sich arbeiten konnte. Jeden Tag zog er sich zur Pause um elf Uhr zurück und notierte seine Gedanken. "Ganz allein die Fortführung des Wahrheitsdialogs vermag die Diktatur aufzulösen", schrieb er am 7. März 1977, und: "Hier, beschloß ich, will ich endlich dem Anspruch der Diktatur, aus der Wirklichkeit ein Kunstwerk gemacht zu haben, auf der von ihr gewählten Ebene begegnen."

Man merkt, hier geht es nicht um weniges. Gegen den historischen Materialismus, der selbst die kritischeren unter seinen Kollegen mit der DDR verband, bot Neumann die prinzipiellste aller Fragen auf: Was ist Wahrheit? Neumanns Kampfbericht aus der Produktion erschien 1981 unter dem Titel "Elf Uhr" im Westen (siehe F.A.Z. vom 14. April 1981) und wurde jetzt wieder neu aufgelegt. 1983 setzte sich Franz Fühmann, der die gesammelten Meditationen für den "DDR-Roman par excellence" hielt, in der Ostberliner Akademie der Künste für Neumann ein: Er sei einer "der bedeutendsten Romanciers und Prosaiker, die in der DDR überhaupt wirken", und es sei ein Skandal, daß er in seinem Land nicht veröffentlicht werden dürfe. Da ihn in der DDR kaum jemand lesen konnte, wurde Neumann zur legendären Figur. Heute hat er in Martin Walser einen Fürsprecher, der ihn vor den Zumutungen des westlichen Literaturbetriebs bewahren will. Was Walser mit Fühmann und beide mit Neumann verbindet, ist das gebrochene Verhältnis zu den politischen und sprachlichen Konventionen ihrer Umgebung. Sie wollen sich die Deutung des eigenen Lebens nicht von fremden Mustern vorgeben lassen.

Die Wahrheitssuche ist bei Neumann auch ein Akt der Selbstbehauptung. Als Sohn der staatlich anerkannten Schriftstellerin Margarete Neumann richtete er seine Fundamentalopposition gegen die Behauptung, die mit dem Wort "Realismus" verbunden war. Seine verschachtelten Sätze sperren sich gegen jede Selbstverständlichkeit; an die Stelle der robusten Sprache treten bei ihm filigrane Konstruktionen, die auf eine Gegenwelt verweisen. So werden noch die banalsten Erlebnisse mit Brigadeversammlungen, rumänischen Wochen und Küchenfrauen zum Vorschein des ganz anderen. Die DDR ist für Neumann ein negativer Gottesbeweis.

Komik nimmt der Mystiker im Sozialismus dabei in Kauf. Seine Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Sprache liest sich bisweilen wie eine Donquichotterie, ein Kampf mit Windmühlen. Als er in der "Leipziginformation" seine grundstürzenden Reflexionen zu Papier bringt, bescheidet ihm eine Frau: "Meester, schreib deine Mämoaren woandersch; das geht einem ja auf den Keks!" Neumann fügt hinzu, daß die Frau "mit bewußt sächsischem Mund" sprach. Das realsozialistische Leben bekommt in diesem "Roman" ein neues Ansehen: wegen der zahlreichen Alltagsbeobachtungen, aber auch durch den ungewohnten Rahmen, in den sie gestellt sind. Indem der Blick die Schein-Plausibilität der vertrauten Begriffe hinter sich läßt, wird er freier.

Was geschieht mit dem Neumannschen "Wahrheitsdialog", nachdem er die Diktatur besiegt hat? Da jetzt gleichzeitig mit "Elf Uhr" Neumanns neues Buch "Anschlag" erschienen ist, läßt sich seine Entwicklung beobachten. Der DDR begegnete er bei der Arbeit; die Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik findet in einer Freizeitsphäre statt. Der Ich-Erzähler aus dem Osten spaziert mit einem Westdeutschen, der ihm bislang unbekannt war, zum Kloster Chorin in der Uckermark; aus dem Hintergrund dringen die Geräusche eines "Mittelalterspektakels" an ihr Ohr. Wieder handelt es sich um das Protokoll einer Therapie: Der Ausflug wird als "Genesungsreise" gekennzeichnet, so wie der Autor die Tätigkeit im Kaufhaus als Erholung von der Menschenverachtung beschrieben hatte, auf die er in einem DDR-Theater gestoßen war. Wovon will er nun genesen?

Wieder soll es um eine metaphysische Rekonstruktion der Wirklichkeit gehen, diesmal im Angesicht der westdeutschen Deformierungen. Neumann unternimmt eine Bestandsaufnahme der ost-westlichen Sprachlosigkeit; er will ihren im Wesen der Sprache angelegten Bedingungen auf die Spur kommen. Er zielt so hoch wie möglich: Die ständigen Referenzen auf Kleist und Kafka deuten auf einen Reflexionsraum hin, der das Anekdotische der Tagespolitik auf ein überzeitliches deutsches Verhängnis hin überschreitet. Neumanns Pointe ist, daß er erst in der Bundesrepublik bemerkt, wie stark seine mystische Sprach- und Wirklichkeitsbetrachtung von der DDR geprägt war. An dem Wort "feindselig" geht ihm auf, daß am Feind etwas selig sein kann. Doch was dies ist, bleibt lange unklar. Zwischen dem Westdeutschen und ihm entwickelt sich ein Verhältnis, das zwar "Gespräch" genannt wird, tatsächlich aber wortlos bleibt, aus unausgesprochenen Erwartungen im Kopf des Ich-Erzählers besteht. Eine äußere Handlung ist bei "Anschlag" kaum vorhanden: Zwei Männer tappen durchs Unterholz, brechen in seltsame Exaltationen aus und nehmen, als sie merken, daß der andere gar nicht reden will, voneinander Abschied.

Die Handlung besteht in den Imaginationen des Ich-Erzählers, die sich im wesentlichen bei der Sprache aufhalten. Einige Formulierungen werden als typisch westdeutsch erkannt, so das in einer schrillen Drei-Ton-Melodie hinausposaunte "Alles kla-har!" oder das knappe "Ah-ja?!" Doch Neumann unternimmt keine systematische Gegenüberstellung der beiden Sprach- und Bedeutungswelten; expliziten Thesen versagt er sich. Statt dessen umschreibt er, wie er der Welt gegenübertreten will. Das Zauberwort heißt "Widerstand", und damit meint er in eigenen Worten: "Das Abenteuer des Widerstands, von dem in meiner Erzählung, ohne das Zuhören natürlich kaum, die Rede sein wollte - bestand darin, die denkbare Lage eines von einem Geschehen Betroffenen so zu verwandeln, daß einem traurig in seinen Zeichen gewöhnlich allein sich verwirklichenden Geschehen die Gerechtigkeit poetischer Ergänzung widerfahren kann."

Dies ist ein mittelschwerer Neumann-Satz, nicht einer der komplizierteren. Neumann will die Wirklichkeit aus dem Gefängnis ihrer nach außen dringenden Zeichen befreien, durch die sie nur unvollkommen, ungerecht erkannt werden könne. Indem er durch Poesie ergänzt, was den Zeichen an Wahrheit fehlt, will er "Widerstand" leisten gegen ihre Tyrannei, die das Leben trostlos macht. Der Widerstand richtet sich dabei gegen jede allzu durchsichtige Organisation der Zeichen. Neumann mißtraut den Üblichkeiten des Satzbaus und der Interpunktion. Seine Vorliebe für Attribut-Ballungen und ineinander verkeilte Einschübe mit schwerer Bedeutung spricht jeder Stilkunde Hohn. Fast jeder Satz ist mit Stolpersteinen bestückt, die das flüssige Lesen behindern. Walser bezeichnet die Neumannschen Satzbauten als "reine Seelenarchitekturen"; oder er attestiert ihnen "reine Geschriebenheit". Doch dies ist womöglich ihr Fluch: Hinter ihrer Zertrümmerung der konventionellen Sprache wird keine Wirklichkeit sichtbar, es wird nur eine Leerstelle umkreist.

Neumann denunziert sogar die Neugier des Westlers auf die Wahrheit des Ostens, indem er sie indirekt mit der Neugier der Stasi-Mitarbeiter vergleicht. Auch diese "Erkenntnismüden" waren ja an der poetischen Widerstandsarbeit interessiert, doch die Ergebnisse sprengten ihre Kategorien. Die vermeintlich allmächtige Lenkungsinstanz konnte letzten Endes nichts ausrichten in bezug auf das, was geschah oder nicht geschah. Und der Ich-Erzähler will, wie gegen Ende herauskommt, konsequenterweise nicht darüber reden.

Auf abstraktem Niveau wiederholt der "Anschlag" ein Muster der Ost-West-Kommunikation: Ehemalige DDR-Bürger empfinden die Attribute, mit denen Westler ihr Leben bedenken, als ergänzungsbedürftig, ohne das Fehlende benennen zu können. Die Westler wundern sich, warum die Ostler nicht glücklich sind. In der Mitte der Mißverständnisse klafft ein Loch. Das Wesentliche soll unsagbar sein.

So gehören die DDR-Reminiszenzen zu den konkreten Elementen des Buchs: die Suche nach dem angeblich verhafteten Sohn, die Arbeit an der Leipziger Literaturzeitschrift "Anschlag", die dem Buch seinen Namen gibt. Zwar stellt Neumann seine Gedanken in das Bild des Lennéschen Landschaftsgartens bei Chorin; doch dieses Motiv eines Übergangs von Kunst zur Natur wird nicht anschaulich. Der Ort und die beiden Personen werden entwirklicht, um der angestrebten Allgemeingültigkeit nicht im Wege zu stehen. Neumann will programmatisch im Programmatischen steckenbleiben. Der "Widerstand", den er in der DDR lernte und als poetisches Prinzip etablieren möchte, scheint in der Bundesrepublik keine Früchte hervorzubringen. Er genügt sich selbst.

Mag der Wille, die Poesie gegen die DDR, die westliche Pseudonormalität oder gegen welche Verhältnisse auch immer zu verteidigen, auch sympathisch sein: Die Sterilität aus Prinzip, die als Philosophie ausgegebene Erkenntnisverweigerung, ist auf Dauer schwer erträglich. Die Sprachverstopfung von "Anschlag" ist eine andere als die von "Elf Uhr". Der Kampf damals war nicht souverän; die Spannung der um Befreiung ringenden Sätze resultierte daraus, daß ein Ende nicht abzusehen war. Heute leidet der Kampf daran, daß er, darin bundesrepublikanisch, sich einen über-souveränen Gestus gibt. Keine Gedankenwindung will dieses Bewußtsein verpassen. Aus einer solchen Anmaßung kann keine Bewegung hervorgehen, die des Erzählens wert wäre.

Gert Neumann: "Elf Uhr". DuMont Verlag, Köln 1999. 432 Seiten, geb., 39, 80 DM.

Gert Neumann: "Anschlag". DuMont Verlag, Köln 1999. 272 Seiten, geb. 39,80 DM.

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