Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 3,50 €
  • Broschiertes Buch

Mit 14 lernt die Autorin zum ersten Mal ihren Vater kennen. Er zeigt für sie zuerst eine Sympathie, die in einer inzestuösen Beziehung endet, aus welcher sich das Mädchen nur sehr schwer befreien kann. Diese prägende Erfahrung hat die Autorin in diesem Buch niedergeschrieben, das in Frankreich einen Skandal verursachte. Eine neue kontroverse Schwester von Houellebecq ist geboren.

Produktbeschreibung
Mit 14 lernt die Autorin zum ersten Mal ihren Vater kennen. Er zeigt für sie zuerst eine Sympathie, die in einer inzestuösen Beziehung endet, aus welcher sich das Mädchen nur sehr schwer befreien kann. Diese prägende Erfahrung hat die Autorin in diesem Buch niedergeschrieben, das in Frankreich einen Skandal verursachte. Eine neue kontroverse Schwester von Houellebecq ist geboren.
Autorenporträt
Christine Angot, geboren 1959 in Chateauroux, musste nach dem Erscheinen ihres Buches "Inzest" ihren Wohnort Montpellier verlassen. Sie lebt heute zusammen mit ihrer Tochter Leonore in Paris.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.2002

Die Libertinage ist ein extrem kontrolliertes Spiel
Unsere Generation kannte noch Verbote und entdeckte die Lust der Übertretung: Ein Gespräch mit Christine Angot und Catherine Millet / Von Ingeborg Harms

Die französischen Autorinnen Christine Angot und Catherine Millet haben im vergangenen Jahr durch recht freizügige Bücher Furore gemacht. Während Angot im autobiographischen Roman "Inzest" von lesbischer Liebe und einer erotischen Beziehung zu ihrem Vater erzählt, berichtet die Kunstkritikerin Millet von libertinären Swinger-Kreisen und anonymen Gruppensex-Erfahrungen. Beide Werke gehören in eine Tradition literarischer Konfessionen, die den Moment des Schreibens als den Moment der Klarsicht, Ordnung und Erleuchtung feiert. Das Schreiben befreit von der Moral - hierin liegt ein Grundaxiom der französischen Belletristik, die seit Augustinus im Zeichen der Beichte steht: Wer die beschämende Wahrheit bekennt, der entledigt sich ihrer, der wird von Sünde frei.

Zur Beichte gehört nicht nur, daß die anderen erfahren, was sie immer vermutet haben, sondern auch, daß ihre Vorstellung durch die Zeugenschaft über den Haufen geworfen wird. Beide Autorinnen unterstreichen im Gespräch emphatisch das Wahrhaftige ihres Unternehmens: "Gemeinsam ist uns, daß wir nicht täuschen, nicht verführen wollen", erklärt Angot: "Wir suchen beide die Wahrheit. Wer verführt, der verzaubert, der spielt ein Spiel, spielt Theater. Die Wahrheit ist das genaue Gegenteil. Selbst wenn mein Schreiben Sie gefesselt hat, so war es keine Raffinesse, die das bewirkt hat, kein Kalkül."

Millet beeindruckt durch eine charmante, leicht gelangweilte Indifferenz, während Angot über jede Formulierung wacht und leicht zu alarmieren ist. "Warum sagen Sie, daß es verschiedene Schichten einer Person gibt? Warum sagen Sie das?" echauffiert sie sich: "Alles hängt zusammen! Deshalb ist es auch so kompliziert, ein menschliches Wesen zu sein. Denn ein menschliches Wesen ist ein Kompositum. Ich bestehe nicht aus verschiedenen Persönlichkeiten, ich bin nicht unterteilbar. Lebendigsein heißt, sich mit allem, was man ist, zu transportieren." Diese - inzestuöse - Qualität des Ungetrennten, sturzbachartig Fließenden und in sich Verschränkten versucht Angot auch ihrem Schreiben mitzuteilen: "Es gilt, eine Kombination von Sätzen zu finden, die das Komplexe ausdrückt. Im Moment des Schreibens kann es sein, daß ich wieder und wieder scheitere, und dann gelingt es mir plötzlich, und die Dinge treten in das richtige Verhältnis."

Für solche Stimmigkeit gebraucht Angot den Begriff der Ecriture, der Schrift, die im dekonstruktiven Denken einen über das organisierende Bewußtsein hinausgehenden Mehrwert bezeichnet, eine erkenntnisfördernde Potenz, die im Akt der Niederschrift selbst liegt: "Das ganze Problem der Ecriture ist, daß es keine Ebenen gibt. Das ganze Problem der Ecriture besteht darin, die Ebene zu finden. Und in jedem gegebenen Moment gibt es nur eine, auf der hängt alles zusammen. Statt dieser, der und jener Schicht gibt es nur eine einzige Sache, die eine Aura besitzt. Und es handelt sich auch nicht um latente Seinsmöglichkeiten, sondern darum, daß in einem Augenblick die Fülle existiert." Angot bezeichnet das Schreiben als "fleischlich"; in ihm findet sie eine Freiheit, die der Sinnlichkeit zu ihrem Recht verhilft und die Fessel des Inzest-Wissens löst.

Anders als Angot will Millet eine bestimmte Form der Seinsfülle nicht schreibend bannen, sondern an sie erinnern: "Als individuelles Zeugnis ist mein Buch ein Einspruch gegen das Kollektiv. Das macht seine politische Dimension aus. In den Echos, die es nach sich gezogen hat, habe ich den Eindruck gewonnen, daß es dazu diente, eine Losung wiederzubeleben, die die sexuelle Befreiung betrifft. Von vielen Leuten meiner Generation habe ich zu hören bekommen: Aber ja, es ist wahr, das haben wir alles gemacht. Es war phantastisch. Es war wirklich La Belle Epoque! Man darf das nicht fallenlassen. Das war wirklich wichtig. Und die Jüngeren staunen: Ach, das habt ihr wirklich gemacht! Und auch sie fühlen sich wie wachgeküßt."

Bei ihrer Buchvorstellung nimmt Millet die Position der Weisen ein, der man nichts mehr vormachen kann. Ihr Werk ist eine Veröffentlichung nach der Veröffentlichung, sie ratifiziert, was in der "Generation Woodstock" längst geschehen ist. Ihre Erfahrungen handeln von der Masse der Lustsuchenden, von libertinären Veranstaltungen, die dem demokratischen Prinzip der Gleichheit gehorchten: "Im libertinären Milieu werden Menschen aus allen Schichten akzeptiert, das gehört sogar zur Spielregel; es gibt den Bourgeois neben jemandem, der noch nie in einem Restaurant gegessen hat. Unter den erotischen Umständen, die ich schildere, findet man ganz im Gegenteil sogar an solchen Diskrepanzen Gefallen, denn sie sind Teil der Perversion."

Für Angot hat die Publikation ihres Romans "Inzest" einen ganz anderen Stellenwert. Sie gerät in Aufregung über die Verkaufszahlen und schreibt ein zweites Buch, "Die Stadt verlassen", in dem sie dieser Erregung nachgeht: "Ich war ganz allein und plötzlich waren da 50 000! 50 000! Das ist die Geschichte, die ,Die Stadt verlassen' erzählt. Der Umstand, daß es in einem bestimmten Moment gelingt, sich an andere zu richten, zu sprechen, von Angesicht zu Angesicht, sagen zu können, was es zu sagen gibt, das ist ein Glückszustand, eine enorme Befriedigung, die vielleicht weniger mit bloßem Genuß, aber viel mit wahrem Glück zu tun hat. Denn, wer weiß, vielleicht wird man sich berühren." Den Moment der allgemeinen Berührung, der kollektiven Sinnlichkeit soll bei Angot das Buch erst auslösen. Inzest ist bei ihr nicht nur eine Chiffre für den Verstoß gegen das ödipale Gesetz, der Ausdruck steht auch für den gesellschaftlichen Ausnahmezustand, für die Intimität mit völlig Fremden.

Hellsichtig hat sie in Millets Gruppensex-Szenen, deren Sinn die anonyme, erotische Begegnung ist, ihr eigenstes Motiv entdeckt. In einem von der französischen Zeitschrift "Epok" gedruckten Gespräch stellt sie ihrer Kollegin die Frage, ob sie es nicht für wichtig halte, daß ihr angesichts eines kollektiven Beischlafs der Gedanke in den Sinn kam, sie würde ihren Vater nicht erkannt haben, wäre er dabeigewesen: "Gibt es demnach nicht statt zwei oder drei gesellschaftlichen Verboten nur eines, das die anderen imitieren?" - "Wollen Sie sagen, daß die anderen nur seine Deklination sind?" fragt Millet skeptisch. Denn gerade im "nur" scheint der Unterschied zu liegen. Am Anfang von Catherine Millets sexueller Biographie liegt die Beugung des Inzests, seine Verschiebung auf andere, zweite und dritte Personen.

Was Angot erträumt, aber nicht vollbringt, die Stadt zu verlassen, also ihre Herkunft zurückzulassen, aufzubrechen und zu vergessen, das ist Millets Initialerlebnis. Kleinbürgerliche Verhältnisse diktierten in ihrer Kindheit eine eng gestrickte Familienstruktur. Daß Catherine das Bett mit ihrer Mutter teilen mußte, führte in ihrem Fall jedoch nicht zum Inzest, sondern zu größtmöglicher Distanz. Im engen Raum, der sie von ihrer Erzeugerin trennte, keimt die erotische Fantasie: "Vielleicht entwickelte sich meine Vorstellungskraft im Zwang, mich mehr durch Fantasien zu erregen als durch direktes Streicheln." Der lautlose Eigenwille, der sich dem elterlichen Machtmonopol entzieht, mündet in einen Moment der Emanzipation, "als ich Claudes Einladung annahm und aus der Tür meiner Eltern ging". Millet mußte, wie sie schreibt, "große Entfernungen zurücklegen, um Zugang zu meinem eigenen Körper zu finden".

Während der Inzest jeden Zwischenraum vernichtet, die Fantasie erstickt, ist für Millet physische Liebe "mit einer Eroberung des Raums" verbunden. Und dieser Raum ist nie ganz empirische Topographie, sondern immer schon Terrain der Einbildungskraft. So erklärt sich vielleicht auch die stupende Lethargie, mit der Catherine M. die sexuellen Exzesse über sich ergehen läßt - hierin verrät sich keine typisch weibliche Passivität, wie Millet selber meint, sondern die starre Haltung des fantasierenden Kindes, das der Mutter verbirgt, was in ihm vorgeht. An einer Stelle ihres Buches kommt die Autorin der imaginären, von den Laken des Kinderbettes gestifteten Textur ihrer erotischen Abenteuer besonders nahe. Sie fragt sich, "ob die Männer der Wäldchen, der Parkplätze durch ihre Zahl und ihr schattenhaftes Dasein nicht aus demselben Stoff sind wie der Raum, ob ich mich nicht an den Tuchfetzen der Luft rieb, deren Schußfäden nur dort so dicht sind".

Der französische Schriftsteller und Kritiker Philippe Sollers mag an solche Passagen gedacht haben, als er anläßlich des Erscheinens von "Das sexuelle Leben der Catherine M." in "Le Monde" verkündete, daß sich in der Welt des Genusses "eine neue Unschuld, eine wilde und raffinierte Treue gegenüber der Kindheit" manifestiere. Sie habe bei ihren sexuellen Eskapaden den Zustand des Kindes gesucht, sekundierte ihm Millet bei einer Lesung in München, "ganz früh, bevor es begriffen hat, daß ein Unterschied existiert zwischen ihm selbst und der Welt".

Damit ordnet sie die Lust einer Sphäre zu, in der das Wirkliche sich noch nicht von der Vorstellung unterscheidet. Zu dieser Sphäre gehört der Traumplatz neben der Mutter; er ist eine erste Ausprägung des öffentlichen Raums - vor jeder politischen Bestimmung. Denn er zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß er nicht von den Ansprüchen der anderen besetzt ist. Der Libertin findet diese Wildnis, die auf seine Projektionen wartet, in Parkplätzen, Baugruben, Autobahnböschungen, Vorstadtwäldern und Friedhöfen, "Nicht-Orte" nennt sie Millet. Denn in der verwalteten - man könnte auch sagen: in der inzestuösen - Welt ist der öffentliche nicht mehr der repräsentative Raum: der Marktplatz, das Marsfeld -, sondern die Zone, die der Beobachtung entgeht, das unsichtbare, vergessene, nutzlose, gleichsam innerliche Zwischenreich, das aus dem kollektiven Bewußtsein herausfällt.

Millet hat zu libertinären Kreisen gefunden, weil in ihnen nicht der zwanghafte Sexus, sondern die üppige Einbildungskraft regiert. Das Traumzeithafte ihrer Sinnlichkeit findet ein Echo in den Ballettmeistern der heimlichen Zusammenkünfte: "Man muß wissen, daß im libertinären Milieu die Regeln von den Männern festgelegt worden sind. Die Frauen waren ihre Schachfiguren. Die Libertinage ist ein extrem kontrolliertes Spiel. Man gibt einen Rahmen vor, den man nicht überschreitet. Das heißt, man verliert sich nicht. Natürlich gibt es diesen sexuellen Selbstverlust. Ich habe mich immer für sexuelle Gewalttäter interessiert. Sie folgen einem Trieb, den sie nicht kontrollieren können. Das ist das genaue Gegenteil des Libertins."

Auch wenn er für sich eine aktive Position entwirft, genießt er gleichsam mit den geschlossenen Augen des Tagträumers: "Der Libertin hat kein Bewußtsein der vergehenden Zeit. Der Körper ist immer der gleiche für ihn. Das hat auch Vorteile, denn eine Frau kann altern, ohne daß er es wahrnimmt. Das liegt daran, daß das Begehren etwas zutiefst Unbewußtes ist. Ich habe beobachtet, daß starke sinnliche Emotionen mir über Jahrzehnte viel gegenwärtiger bleiben als etwas, das mir gestern widerfahren ist. Und ich denke, daß diese Verzerrung der Zeit auch eine des Erzählens sein muß."

Millets Memoiren verfahren nicht streng chronologisch, sondern verwandeln sich unterderhand in einen Katalog der sinnlichen Topographien, sie reflektiert über die Vorteile, die bestimmte Plätze haben, Nischen, Treppenhäuser, Landschaften. Dabei mutiert ihre erotische Vergangenheit zu einer Folge suggestiver Bühnenbilder. Die Autorin läßt durchblicken, daß auch sie die Regeln festgelegt hat, daß ihre Fantasien mit denen der Spielleiter Inzest trieben: "Die aktive Spinne in der Mitte des Netzes, dieser Platz gefiel mir." An anderer Stelle nennt sie sich auch eine "Bienenkönigin, die über ihre Arbeiter herrschen konnte". Diese Neuinterpretation der libertinären Zusammenkünfte kann erklären, warum ihre männlichen Vertrauten "Das sexuelle Leben der Catherine M." mit Mißfallen quittierten: "Ich muß sagen, daß einige meiner Freunde sehr reserviert auf mein Buch reagiert haben, obwohl sie, weiß Gott, nicht prüde sind. In dem Moment, als ich über die Treffen geschrieben habe, habe ich sie einer Meisterschaft beraubt, die sie zu haben glaubten. Denn ich habe nie ein sexuelles Treffen organisiert. Frauen tun das nie."

Millets Buch rührt nicht nur am Klischee weiblicher Passivität, sondern auch am Mythos frauentypischer Monogamie. Ihr Eros huldigt entschlossen der Zahl und begrüßt die wachsende "Sicherheit, in allen Situationen und mit allen Leuten, die es wollten, Sex haben zu können". In ihrer Solidarität mit dem anderen Geschlecht geht sie sogar noch einen Schritt weiter, indem sie die Vermutung ausspricht, daß die männliche Sehnsucht nach gleichgeschlechtlicher Liebe in libertinären Kreisen "über die Frau als Medium" ausgelebt wurde. Damit macht sich die Französin zur Allegorie jener Fantasie, die den inzestuösen Selbstbezug ersetzt, ja, in gewisser Weise stilisiert sie sich zur neuen Marianne der sexuellen Revolution.

Bei Angot fehlt die Sphäre der spielerischen Einbildungskraft, in der die Sexualität die Inzestdrohung überwindet. Deshalb haben alle Körper zunächst etwas Widerwärtiges für sie. Das gilt auch für ihre Geliebte, Marie-Christine: "Im Fall meines Buches war es kein homosexueller Ekel, sondern ein Ekel vor dem Körper. Aber wenn man diesen Ekel aushält und überwindet, dann kann es passieren, daß man in der Folge dem als abstoßend empfundenen Körper sehr verbunden ist. Es ist also nicht nur der Ekel vor dem Körper, sondern der Ekel vor dem Anderen, der ein Begehren verbirgt. Der Ekel ist etwas Lebendiges, wie das Verlangen. Er signalisiert eine Gefahr. Der Ekel ist eine Maske." In der inzestuösen Welt gibt es keine Alternative zu Abstoßung und Verschmelzung, die Emotion schaltet zwischen diesen Haltungen hin und her. Für Millet hingegen ist der Ekel nur von sekundärer Bedeutung, er beeinflußt den imaginären Kern der sexuellen Erfahrung nicht: "Es gab für mich Männer, die mich in gewissen Dingen abstießen, aber das spielte keine Rolle für den sexuellen Genuß, denn man teilte die Schmutzigkeit."

Ihrem eigenen Ausgangspunkt entsprechend, ist Angot nicht auf den Raum, sondern auf die Zeit verpflichtet: "Der Unterschied zwischen uns ist, daß Catherine beschreibt, was sie gesehen hat, ich hingegen konzentriere mich auf das Ohr, auf das, was ich höre und gehört habe." Während Millet den imaginären Augenblick der Lust ins Unendliche dehnen möchte, geht es Angot darum, den unerträglichen Moment des Inzests in der Zeit zu relativieren. Ihre Texte kreisen um ihn, machen die Hörigkeit zu einer Kunstform: "Ich war ein Hund, ich war auf der Suche nach einem Herrn." Weil es den Raum der Einbildung für sie nicht gibt, drehen sich ihre Monologe um Worte, um Zeitungsartikel, Telefonate, Gespräche, Literatur. Angot kommt es darauf an, was sie den Worten der anderen entgegenzusetzen hat: "Nur auf mich selbst zu horchen ist die Grundlage meines Geschäfts." Die Sprache ist eine Kampfzone, in der sich entscheidet, wer wem hörig ist. Auf diese Weise zieht Angot ihre Leser in das Familiendrama hinein, in eine Appellstruktur, die kein Entkommen kennt, sondern nur eine Verlagerung der Gewichte von Schuld und Unschuld, Verantwortung, Liebe und Haß.

Ihre Ecriture ist radikal privat, auch das Öffentlichste, die Buchpublikation, wird von der Autorin nicht mit professioneller Nüchternheit begleitet, sondern als Fortsetzung der inzestuösen Tragödie inszeniert und als drohende Ich-Auslöschung erfahren: "Es gibt ein elementares Verhältnis zwischen Körper und Schrift. Aber wenn das Buch auf den Markt kommt, dann wird es gefährlich. Denn es gibt Menschen, die dich zu ersetzen versuchen, die sagen, es handele sich um sie, sie seien im Buch, nicht ich."

Angots fast mystisch anmutendes Bekenntnis zur Dimension der Schrift führt es mit sich, daß sie sich in ihr ausliefert. Das scheint auch Catherine Millet zu tun, wenn sie von privatesten erotischen Vorlieben und gelebten Exzessen handelt. Und doch hat sie ein diametral entgegengesetztes Verhältnis zu ihrem Text. Für diese cartesianische Denkerin ist die kritische Öffentlichkeit nur eine weitere Bühne, auf der ihre Einbildungskraft das Programm vorgibt: "Ich habe das Gefühl, daß ich in meinem Buch der Öffentlichkeit eine Puppe ausgeliefert habe, die mich repräsentiert. Die Kritiken lassen mich ziemlich gleichgültig. Denn sie stürzen sich ja nur auf diesen Fetisch. Ich selber werde nicht berührt. Die kritische Nadeln stechen nur die Puppe. Das Buch ist für mich ein Schirm. Außerdem lebt man weiter, man ist schon ganz woanders, wenn es erscheint. Ich lasse denen, die sich für mich interessieren, gern ein Stück von mir, aber ich selber ziehe weiter. Das trifft auch auf meine sexuellen Beziehungen zu: Ich gab etwas von mir, einen abgelösten Teil, einen Körper, der mir schon nicht mehr ganz gehörte. Mit dem Buch mache ich das gleiche." An dieser Stelle markiert Angot den entscheidenden Unterschied zu Millet: "Bei mir ist das ganz anders. Ich kann absolut nicht sagen, daß mein Buch eine abgelöste Repräsentation ist. Im Gegenteil. Was man als Text liest, das bin ich. Ob mein Leben oder nicht, der Text jedenfalls bin ich: C'est moi, le texte. Wenn man Nadeln ins Buch sticht, dann werde ich getroffen. Wenn das Buch nur ein Moment meines Lebens wäre, dann könnte ich mich besser schützen."

Im "Epok"-Gespräch hat Angot die Meinung zum Ausdruck gebracht, daß Millet nicht schreibe, sondern erzähle, "so wie die Vögel musizieren, ohne Musiker zu sein", oder wie ein Bote vom Schlachtfeld berichtet. Ihre Kollegin ist zu galant, um sich gegen das ihr zugesprochene Zwitschern zu wehren, betont aber, daß es in ihrem Schreiben eine künstliche Ordnung gibt, "die nichts mit dem zeitlichen Nacheinander der Ereignisse zu tun hat". Eher ließe sich die persönliche Ecriture, in der Angot "etwas Elementares, Maschinelles" erkennt, wenn nicht mit dem Vogelgesang, so doch mit der erregten Rede des Unglücksboten vergleichen. Gerade sie, die durchdringende Stimme, macht für Millet den Schriftsteller aus: "Auch wenn sie längst tot sind, hört man immer noch ihre Schreie ..."

Mit Blick auf ihr eigenes Werk betont die Kunstkritikerin hingegen die "symbolische Distanz", in der sich die Möglichkeit eröffnet, "das Reale zu interpretieren". Hier trifft sie sich mit dem Libertin, der für seine Choreographien einen Rahmen beansprucht, ein Gesetz, das seine Imaginationen beflügelt: "Wenn alles erlaubt ist, gibt es kein Vergnügen mehr. Ich gehöre einer Generation an, die ihr Glück in der Übertretung gefunden hat. Die Menschheit hat es gelernt, gerade die Widerstände, die sich ihrem Genuß entgegenstellen, zu genießen."

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.05.2001

Aufbruch in die Kampfzone
Christine Angot hat mit ihrem autobiografischen Roman „Inzest” offenbar die Regeln der Schicklichkeit verletzt
„Er war unschlagbar, was die Regeln der Höflichkeit angeht, die Regeln der Grammatik, in allen Sprachen, die Regeln der Aussprache, der Anwendung, er war sehr gebildet. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass er auf bestimmten Gebieten alles wusste.” Ja: „wenn man bei einer Bergwanderung jemanden trifft, den man nicht kennt, grüßt man ihn.”
Er arbeitet als Dolmetscher bei der EU, ist ein Sprachengenie und Benimmexperte, ist Vater und hat seine Tochter missbraucht. Seit er sie, im Alter von vierzehn Jahren, zum ersten Mal sah. Im Hotel, auf dem Platz vor dem Supermarkt, im Auto. Bis Marc, ein Freund von ihr, ihn zwei Jahre später darauf hingewiesen hat, dass das „nicht gehe”. Ihn, Herrn Angot, der seine Christine doch immer mit Bewunderung überschüttete: Wie schön sie sei, wie intelligent, um was für wundervolle Männer sie später werben könne und so weiter.
Als die Schriftstellerin Christine Angot der Zeitschrift Le Matricule des Anges im Herbst 1997 ein langes Interview gab, tat sie das in einem Café in Montpellier, wo sie zu dieser Zeit wohnte. Während des Gesprächs kommen Menschen vorbei, die die Schriftstellerin grüßen. Angot ist, will die Journalistin andeuten, bekannt in der Stadt und geschätzt.
Nach „Inzest”, einem Buch, das in Frankreich 1999 erschien, veränderte sich die Lage entschieden. Einige Einwohner Montpelliers verärgerte das Buch so sehr, dass sie Angot persönlich belästigten, Leserbriefe forderten ihre Internierung: Die Schriftstellerin fühlte sich als Aussätzige. Sie verließ die Stadt, zog mit ihrer Tochter Léonore nach Paris, schrieb ein neues Buch: „Quitter la ville”.
Der Skandal, den „Inzest” (Tropen-Verlag, Köln 2001; aus dem Französischen übersetzt von Christian Ruzicska und Colette Demoncey, 186 Seiten, 32Mark) in Frankreich ausgelöst hat – immerhin wurden 1500 Bücher pro Tag verkauft –, hat die Ursache, dass es sich bei der Geschichte um eine identifizierbare handelt. Das Ganze ist im Wesentlichen so geschehen: Der „Vater” ist der Vater. Die „Ärztin” ist die Ärztin aus Montpellier, mit der Christine eine Liebesbeziehung hatte: „Es langweilt mich, die Namen geändert zu haben. Das macht das Buch weniger gut. Dennoch ziehe ich es vor. Besser als eine Anklage.”
Der entscheidende Satz ist: „Das macht das Buch weniger gut.” Nimmt man ihn als Aussage der Autorin, was hier nahe liegt, muss man sich fragen, ob Christine Angot nicht einem Missverständnis unterliegt: Noch kein belletristisches Buch wurde besser oder schlechter durch die „richtigen” Namen. Fantasie, Sprache spielen da eine größere Rolle. „Anders” allerdings wird das Buch, wenn Meier wirklich Meier heißt. Es erhält eine andere Funktion, eine dominant soziale, hinzu. Was zur Frage führt, ob es nicht ein Missverständnis ist, „Inzest” als literarisches Werk zu beurteilen. Angot thematisiert es selber: „Ich versuche es ihnen zu erzählen, ich gehe darauf ein (...) literarische Ausformulierungen wird es dann keine mehr geben, vielleicht wird es keine Literatur mehr geben.” Und doch sagt sie, sich selbst stilisierend auch: „Alle Schriftsteller machen nichts anderes als dieses: , Madame Bovary, c’est moi.‘”
Dazu muss man wissen, dass Christine Angot, am 9. Februar 1959 im Städtchen Châteauroux in der Champagne geboren, keine Autorin ist, die mit einem Buch zur Welt kam, in dem sie ihre persönliche Leidensgeschichte erzählt, um dann wieder mit ein paar Francs mehr zu verschwinden. Vor „Inzest” hat Angot ein Theaterstück und sechs Romane geschrieben, seither einen Roman, zwei Erzählungen.
Begonnen hat die Veröffentlichungsgeschichte der damals 31-Jährigen 1990, mit „Vue du Ciel”, einem schmalen Roman, erschienen bei Gallimard. Die Unterschiede zu und die Ähnlichkeiten mit „Inzest” sind aufschlussreich: „Vue du Ciel” ist spielerischer, aber auch mysteriöser, makabrer. Die Geschichte wird von einem Engel erzählt, der Christine beschützt. Zum Schutzengel ist er geworden, weil er einmal ein Mädchen war, das von einem Mann vergewaltigt wurde. Er erzählt, dass er mit Christine Mitleid hat. Und sie mit ihm. Aber das Verhältnis ist gegenseitig: Was genau mit Christine geschehen ist, erfährt man nicht. Nur, dass es sich um einen Freund der Mutter gehandelt habe, dass Christine mindestens zwölf gewesen sei damals. Rückblickend ist es nicht allzu schwer, „Vue du Ciel” zu interpretieren. Als ersten Versuch, sich einem Thema zu nähern – objektivierend weggerückt, literarisiert durch die Nähe zu einem neoromantischen Zauberspiel.
Eines der nächsten Bücher, „Les Autres” von 1997, macht deutlich, warum Angot, leicht irreführend, schon mit Houellebecq verglichen worden ist: Männer und Frauen erzählen in lockerer Folge aus ihrem Leben, eine ganz normale Perversion nach der anderen: Liebe, Gewalt. Quasi soziologisch sucht „Les Autres” das Breitenphänomen. Man fühlt sich, ein Jahr vor der „Ausweitung der Kampfzone”, schon in Houellebecqs Swinger Clubs, in seine Provinzstädte, an seine Ferienorte versetzt, billiger und reißerischer, weniger kühl dargestellt.
Was bei Angot im Verlauf ihrer Veröffentlichungen als Entwicklungslinie sichtbar wird, ist die zunehmende Auflösung des Kunstanspruchs. Immer weniger Masken dürfen stehen bleiben. Immer mehr „Wahrheit” soll in die Texte. Plötzlich steht einfach „Inzest” auf einem Buch, das Thema, um das die anderen Texte nur kreisen.
Paradoxerweise ist „Inzest” von seiner Struktur her kein Bestseller. Angot irritiert nicht nur Liebhaber von geradlinigen Plots mit leidenschaftlichem, exaltiert-geschwätzigem Bekennertum, das jede Geschichte zerstört. Wie die Ärztin und Christine es einfach nicht schaffen, „ruhig und glücklich zu sein”, so sind es auch die Sätze nicht. Frei nach verschiedenen psychologischen Lehrmeinungen wird der Inzest, der Macht- und emotionale Strukturen vermischt, dessen Verbot eine fundamentale Regel der meisten Zivilisationen ist, auch als das für die Persönlichkeit Christines („meine mentale Struktur ist inzestuös') und für die Textstruktur wichtigste Ereignis angesehen: Demonstrativ wird ein Chaos der Sätze ausgestellt: „Überhaupt keine Ordnung, alles ist durcheinandergebracht.”
Auch der analytische, hilfswissenschaftlich psychologisierende Teil des Texts ist ein Aspekt des Programms: Seitenlang reportiert Angot aus Roudinescos Psychologie-Lexikon, um ihre eigene Situation zu verstehen.
Ist „Inzest” ein Buch der Selbsttherapie? Nicht nur. Auch der Leser soll „verstehen, wie ich verrückt geworden bin”. Auch sei sie, sagt die Ich- Erählerin, nicht bereit, einen Satz zu schreiben, der „nicht diffamierend” ist. Und diese diffamierenden Sätze sollen auch noch wahr und individuell sein. Das ist ein bisschen viel. Das Buch wirkt überkonstruiert, es ist eines von Angots schwächeren.
Und doch dieser ganze Aufruhr? „Das Problem?”, schreibt Angot, „das Problem entsteht, wenn einer ganz alleine, nur für sich spricht, dafür verurteilt man ihn. Weil er ganz allein in seinem Eck schreibt, über Themen, die er sich ganz allein gewählt hat, und weil er in und mit seinem Namen spricht. Das genügt schon, um verfolgt zu werden.” Es gehe darum, „die Wahrheit beim Namen zu nennen”. Sie schreibe nicht „gegen die Gesellschaft, gegen die Vereinheitlichung. Alle Literatur schreibt gegen die Gesellschaft. Alle Literatur, die ausspricht, was ganz ist, unteilbar ist und unbehandelbar, ist Literatur.”
Also doch Literatur? In seiner pathetisch-großmäuligen Sprengung der Gattungsgrenzen, in seinem Aufklärungswillen, ist „Inzest” ein tief romantisches und ein modernes Buch zugleich. Doch es ist nicht einfach, das Chaos von Stilen und Ansprüchen in „Inzest” als Ausdruck des „Unteilbaren” zu verstehen. Eher ist es der leidenschaftlich-unökonomische, hektisch- analytische Ausdruck von dessen Zerstörung.
Christine Angots Vater, der schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Inzest” an Alzheimer litt, ist inzwischen gestorben.
HANS-PETER
KUNISCH
Christine Angot
Foto: John Foley / Opale
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr