Produktdetails
  • rororo Taschenbücher
  • Verlag: Rowohlt TB.
  • Seitenzahl: 333
  • Gewicht: 310g
  • ISBN-13: 9783499225543
  • ISBN-10: 3499225549
  • Artikelnr.: 08640911
Autorenporträt
Grit Poppe wurde 1964 in Boltenhagen an der Ostsee geboren. Sie studierte in Leipzig am Literaturinstitut und engagierte sich 1989 bis 1992 in der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" und arbeitete als deren Landesgeschäftsführerin für Brandenburg. Heute ist sie freie Schriftstellerin und veröffentlichte Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Sie erhielt verschiedene Stipendien und Preise - u. a. den Gustav-Heinemann-Friedenspreis für "Weggesperrt". Weitere Infos: www.grit-poppe.de
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998

Kein Kuß für Prinzen
Grit Poppe hat es gern prall / Von Kristina Maidt-Zinke

Wer in Ingo Schulzes simplen Storys die Ästhetik der "Lindenstraße" wiedererkennt, wird beim Romandebüt von Grit Poppe, die 1964 in Mecklenburg geboren wurde und in Potsdam lebt, an ganz andere Serien denken müssen. Ihre Geschichte beginnt im Anflug auf San Francisco, geht über Leichen und endet auf einem Highway, der ins Ungewisse führt. Was dazwischen erzählt wird, in Rückblenden von durchaus fernsehreifer Dramaturgie, streift den ostdeutschen Alltag vor und nach dem Mauerfall nur wie eine pflichtschuldig aufgebaute Staffage. Wer glaubt, daß die jüngere Schriftstellergeneration der seligen DDR aus dem historischen Umbruch eine Überfülle an Stoff und Zündstoff gewinnen müßte, wird enttäuscht. Dort, wo Jahrzehnte der Amerikanisierung des Lebensstils in wenigen Jahren nachgeholt wurden, herrschen auch in literarischer Hinsicht längst "Andere Umstände".

Vordergründig bezieht sich der Romantitel auf den leicht hysterischen Kinderwunsch einer jungen Frau und auf Gegebenheiten, die der Wunscherfüllung im Weg stehen, also kurzerhand beseitigt werden müssen. Die Heldin, die auf den schöntönenden Namen Mila Rosin hört, biegt sich ihre Lebensbedingungen zurecht, indem sie Männer um die Ecke bringt oder per Mordversuch vergrault. Dort, wo sie nicht selbst Hand anlegt, findet im richtigen Moment ein Verkehrsunfall statt. So hat Mila nach vollzogener Wende genau das, was sie immer wollte: ein rosiges Baby, freie Sicht auf die amerikanische Autobahn und niemanden mehr, der ihr Idyll stören könnte.

Ernste Gemüter mögen darin das Ende der Utopie einer mit legalen Mitteln erreichbaren weiblichen Selbstbestimmung erblicken, also womöglich sogar eine Abrechnung mit sozialistischen Verhältnissen und Verheißungen. Grit Poppes Erzählton in seiner wohlkalkulierten Balance zwischen Naivität und Abgebrühtheit läßt ebensogut den Schluß zu, daß marktstrategische Berechnung im Spiel war: Morde verkaufen sich besser als gewendete Frauenprobleme, so wie die Golden Gate Bridge immer noch zuverlässiger Effekt macht als eine ostdeutsche Kleinstadt. Mischt man aber alle vier Zutaten und schüttelt kräftig durch, so erhält man einen Cocktail, der einen Klappentext voller Reizwörter garantiert.

Zwischen den Deckeln überzeugt das Rezept weniger. Gewiß portioniert Grit Poppe ihren Stoff so forsch, flott und flüssig, als habe es am Leipziger Literaturinstitut schon vor der Wende Kurse in der Kunst des Creative Writing gegeben. Ihre knappen Sätze haben einen schönen Schwung, und ihr Humor weist kleidsame schwarze Stellen auf. Aber sie liefert weder für den Gebärdrang noch für die Tötungsbereitschaft ihrer Ich-Erzählerin ein plausibles Motiv, so daß deren Reaktion auf milde Frustrationen wie der sprichwörtliche Kanonenschuß auf Sperlinge anmutet: etwas albern.

Das Milieu, in dem Mila als Scheidungshalbwaise aufwächst, ist "normal, so normal wie die Berliner Mauer und der Untergang des Kapitalismus". Die Mutter arbeitet als Krankenschwester und läßt es dem Kind an nichts fehlen; der Vater, ein enorm fruchtbarer Frauenheld, hat sich politisch wie erotisch frühzeitig nach Westen orientiert. Seiner pubertierenden Tochter, einer unter mehreren, schenkt er Jack Londons Erzählungen, ein dolchscharfes Taschenmesser und den Sponti-Spruch: "Nutze die Energie deiner Wut".

Mila nimmt sich den väterlichen Rat auch bald zu Herzen und schlachtet zwei Lehrkräfte ab, die ihre Liebe verschmäht haben. Ein anhänglicher Schulfreund wird beinahe Opfer ihrer Fischküche, nachdem begründete Zweifel an seinem Zeugungsvermögen aufgekommen sind. Schlimmere Mißstände als beziehungs- und fortpflanzungsunfähige Männer scheint es in dieser Vorwende-DDR, in der Papi mit der Stasi lustig Verstecken spielt, jedenfalls nicht zu geben.

Kein Wunder, daß Fräulein Milas Gespür für den Wandel der Zeiten sich vorwiegend in der Unterleibsgegend bemerkbar macht. Auch so kann man eine Versammlung des Neuen Forums in den Schicksalstagen der verröchelnden Republik beschreiben: "Ich saß auf den harten Schenkeln eines Mannes, halb betäubt von seinem Duft, und hörte kaum auf das, was da vorn geredet wurde. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Alles änderte sich. Das ganze Leben. Die Menschen erwachten aus ihrem Dornröschenschlaf, und der Prinz saß direkt unter mir und hielt mich umschlungen." Der Prinz, symbolkräftig Viktor genannt, zieht später ebenfalls Milas mörderischen Zorn auf sich, aber zuvor gelingt es ihm, ihre Schein- und Möchtegern-Schwangerschaften in pralle Realität zu überführen. Auch ist er nach Jack London der zweite, der ihre Sehnsucht nach Amerika schürt. So sehen wir die Heldin, deren Kühle beim Anblick ihres Säuglings stets in milchzuckersüße Euphorie umschlägt, als Kreuzung zwischen Madonna, Todesengel und Rucksacktouristin auf den Spuren des "Wolfsblut"-Dichters, erbarmungslos gewillt, die eigene Blutspur ins Unendliche zu verlängern.

Die vierundzwanzig Kapitel des Romans tragen die Namen von Speisen und Getränken, deren Zusammenstellung kein delikates Menü ergibt, sondern einem Einkaufszettel für den Familienausflug zum Supermarkt gleicht: Cornflakes und Schnitzel, Marmelade und Avocado, Joghurt und Dampfheringe, Kaffee und Bananen. Bekömmlich kann ein solches Durcheinander wohl nicht sein. Daß das Buch mit "Käse" anfängt und mit "Cheese" aufhört, hat indes keine ominöse Bedeutung. Denn so schlecht ist es nun auch wieder nicht.

Grit Poppe: "Andere Umstände". Roman. Berlin Verlag, Berlin 1998. 302 S., geb., 36,- DM.

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