Federballnetz aufgespannt ist. Und weiter: Die Katze balanciert inzwischen schon auf den Brettereinfassungen der Gemüsebeete. Im nächsten Bild schaut sie den Fischen im Gartenteich zu, während die beiden Kinder von Stein zu Stein zur Mitte der Wasserfläche hüpfen, dort angekommen hinunterschauen - und sich selbst sehen.
Einen Garten, wie ihn Reto Crameri für sein wortloses Bilderbuch "Alula" entworfen hat, kann man jedem Kind nur wünschen: abwechslungsreich und inspirierend, in feiner Balance zugleich verwunschen und vertraut. Und abenteuerlich ganz nach Bedarf: Die beiden haben sich nicht nur den Baumstamm vor den Rankbohnen erobert oder balancieren auf dem Schatten, den das Federballnetz auf den Boden wirft, sondern hangeln auch an der Leine mit den Hemden, Hosen, Socken, um den gefährlich aussehenden Wäscheklammern zu entkommen, die unten lauern. Wenn das mal hält!
Und doch ist der Weg durch den Garten, den sich der 1975 geborene Schweizer Illustrator für seine beiden Helden ausgedacht hat, nur die Hälfte der Geschichte. Wenn überhaupt. Das Buch lässt sich nämlich umdrehen und auch von der anderen Seite aus lesen. Hier ist der Druck auf dem Einband gelb statt rot, hier sieht man die beiden statt der Katze einen Schmetterling bestaunen, und statt "Garten" ist "Urwald" in Spiegelschrift zu lesen. Doch beide Bilder spielen mit der Frage (und auf die Frage an), von welcher Seite aus man dieses Buch betrachten will: Der Schmetterling sitzt auf den Wurzeln eines Baumes, der nach oben blattlos breiter wird. Hält man das Buch auf den Kopf, werden aus den Wurzeln kahle, verwachsene Äste, wie auf der anderen Seite die Katze auf etwas sitzt, das auf den Kopf gedreht viel näherliegend als zwischen Farnen gewachsene Palme erkennbar ist.
Im Urwald jagen die beiden Kinder dem Schmetterling hinterher, Chamäleons haben sich den Farben großer Farne angepasst, aus den Baumstämmen scheinen Augenpaare zu blicken, eine Schlange scheucht die Abenteurer auf einen Baumstamm, auf dem sie geradewegs den Krokodilen entgegentreiben. Da helfen nur Lianen, an denen sich die beiden bis zu einer Höhle hangeln, auf deren anderer Seite ein Spinnennetz nur durch einen gewagten Balanceakt überwunden werden kann, bevor es an geheimnisvollen Statuen vorbei zu einer Wasserfläche kommt, auf der ein paar riesige Steine kaum von nicht minder riesigen Flusspferdköpfen zu unterscheiden sind. Todesmutig springen die beiden vorwärts, bis das Wasser ruhiger und klarer wird, sie hinunterschauen und - sich die beiden Geschichten in der Mitte des Buchs treffen.
Reizvoll ist in "Alula" jede einzelne für sich, dafür sorgen in Reto Crameris in vier klaren Farben gedruckten Szenen seine wunderbar dynamisch gezeichneten Kinder, deren Entdeckungslust und Unerschrockenheit allein durch ihre Bewegungen zum Ausdruck kommt. Wenn kindliche Leser erst einmal entdeckt haben, dass die beiden Geschichten einander entsprechen, dass aus dem Gartenschlauch die Urwaldschlange, aus den Wäscheklammern Krokodile und aus dem Federball- das Spinnennetz geworden sein könnte, wird das Buch wohl eine ganze Weile begeistert hin- und hergewendet werden, um ein Abenteuer mit dem anderen zu vergleichen.
Wie aber hängen beide Geschichten zusammen? Sind es zwei Episoden im erstaunlich abwechslungsreichen Leben der Figuren, oder erzählt die Urwald-Variante aus der Sicht, in der Wahrnehmung und Phantasie der beiden, was sie eigentlich im Garten erlebt haben? Reto Crameri legt keine Antwort nahe. Aber dass auch im Garten schon die Schnecken so groß sind wie die Katze, die Wäscheklammern am Boden ein anderes Format haben als die an der Leine und die Schlupflöcher der Nistkästen angeordnet sind wie auf den Seiten eines Würfels, zeigt die Abenteuerbereitschaft kindlicher Wahrnehmung schon im Kleinen. FRIDTJOF KÜCHEMANN
Reto Crameri: "Alula - Garten / Urwald"
Kunstanstifter Verlag, Mannheim 2023. 56 S., geb., 24,- Euro. Ab 4 J.
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