verändern, wenn der Körper sich bewegt, erläuterte er mit anspruchsvoller Mathematik und Empirie: Statt sich an Idealen wie dem "Vitruvianischen Menschen" zu orientieren, vermaß Dürer unterschiedlichste Körper und hielt die Ergebnisse in Tabellenform fest. "Datensätze" nennt das de Padova, man könne mit Blick auf den Umfang von Dürers Studien gar von Big Data sprechen. Er zeigt Dürer von seiner weniger bekannten, aber nicht weniger genialen Seite: als Mathematiker.
Dürer ist einer der Universalgelehrten, Künstler, Theologen, Händler und Glücksspieler, deren Lebensgeschichten de Padova in seinem Buch folgt, um die rasante Entwicklung der Mathematik in der Renaissance nachzuzeichnen. Damit gelingt es ihm, das abstrakte Thema in anschauliche Erzählungen zu fassen und zugleich ein lebendiges Bild einer Epoche zu entwerfen, in der "alles Zahl" wurde: durch die Wiederentdeckung geometrischer Verfahren aus antiken und arabischen Schriften und vor allem durch die Entwicklung des schriftlichen Rechnens.
Dazu mussten freilich erst einmal die römischen Zahlen durch die Ziffern indisch-arabischen Ursprungs ersetzt werden, wie wir sie heute kennen. Die römischen Zahlen sind, anders als die heutigen Ziffern, zwar intuitiv: zwei Striche für die Zwei, drei Striche für die Drei. Doch sie taugen, wie der Autor bemerkt, eher dazu, in Stein gemeißelt zu werden, als damit zu rechnen. Zur Zeit der römischen Zahlen behalf man sich mit Rechenbrettern oder -tüchern, auf denen Steinchen hin und her geschoben wurden. Das ging so einigermaßen, doch erst die neuen Ziffern machten kompliziertere Berechnungen möglich.
Anhand der Inschriften des Regensburger Doms kann de Padova nachzeichnen, wie erst Mischformen aus beiden Zahlensystemen entstanden und die römischen Zahlen schließlich verdrängt wurden. Heute erscheint uns nichts selbstverständlicher als unser Zahlensystem. Aber man stelle sich vor, mit Binärzahlen rechnen zu lernen, wie sie in der Informatik Verwendung finden: 111+10101=11100. Bloß nicht? Mit solchen und anderen kleinen Übungen (alle freiwillig) versucht der Autor ein Gespür dafür zu vermitteln, was es bedeutet, sich eine neue Notation zu erarbeiten.
Manche der Gleichungen, die mit den neuen Ziffern möglich wurden, konnten allerdings nur mit immer weniger anschaulichen mathematischen Konstrukten gelöst werden: der Null, negativen Zahlen, Brüchen, Wurzeln, komplexen Zahlen. Mit dem wachsenden Zahlenraum tat sich eine neue Welt auf, und die klügsten Köpfe der Renaissance erforschten sie mit Hingabe. Die Geometrie, die in der griechischen Mathematik mehr galt als die Arithmetik, weil sie den geometrischen, halbwegs anschaulichen Beweis ermöglichte, trat in den Hintergrund.
Zuerst begleitet de Padova den Mathematiker Johannes Müller, besser bekannt als Ultramontanus. Als junger Mann und einer der Vertrauten des Kardinals Bessarion arbeitet er sich in Venedig durch dessen Handschriftensammlung, immer auf der Suche nach Traktaten antiker Mathematiker und den vergessenen Erkenntnissen, die sie enthalten mochten. Später wird er in Padua die erste überlieferte Vorlesung über die Geschichte der Mathematik halten. Auch de Padova blickt kurz zurück in die Antike, auf Pythagoras und Archimedes' Versuche, sehr große Zahlen zu notieren. Später berichtet er von Leonardo, Dürer, Adam Riese und weniger bekannten Autoren wie dem Theologen Michael Stifel, dem wir das Rechnen mit der Unbekannten "x" verdanken, und dem Landarzt Girolamo Cardano, der die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitstheorie entwickelt, um seine Glücksspielsucht möglichst gewinnbringend zu gestalten.
Bei der Verbreitung der neuen Mathematik ging es trotz aller Abstraktion vor allem um ganz konkrete Anwendungen: die Umrechnung von Währungen, die Buchführung, das Abschätzen von Gewinnen und Verlusten, es ging um Ballistik und immer wieder auch um Astrologie. Manche Forscher teilten neue Erkenntnisse ungeduldig mit der Welt, andere achteten sorgfältig darauf, ihre Einsichten für sich zu behalten. Reiche Kaufleute schickten ihre Söhne an italienische Universitäten, damit sie dort den Umgang mit den neuen Zahlen und Rechenverfahren lernten und diese über die Alpen trugen, der Buchdruck beschleunigte ihre Verbreitung zusätzlich.
Insgesamt, so de Padova, war es die freie Zirkulation des Wissens vor allem über die Alpen hinweg, die die rasanten Fortschritte dieser Epoche ermöglichte. Die Mobilität der Händler und Handwerker, Geistlichen und Gelehrten und die Vielfalt des territorial zersplitterten Europas seien eine Chance gewesen: Zum einen gab es stets viel umzurechnen, zum anderen konnte, wer daheim aneckte, weiterziehen und anderswo neu beginnen.
Vor der Mathematik in diesem Buch braucht sich übrigens niemand zu fürchten. Wer an einer der eingestreuten Beispielrechnungen hängen bleibt, kann sie überspringen, ohne den Faden zu verlieren. Tatsächlich ist es Thomas de Padova gelungen, eine mathematische Revolution und ihre Folgen für Laien nicht nur nachvollziehbar, sondern genießbar zu machen: als eine Geschichte der Befreiung durch Abstraktion. Auch Dürer ließ es nicht bei dem mathematischen Korsett bewenden, in das er den Menschen gezwängt hatte: Wer sich durch Berechnung erst eine sichere Hand erworben habe, könne danach auch "ohne Maß und Zahl" nach dem Leben zeichnen. MANUELA LENZEN
Thomas de Padova: "Alles wird Zahl". Wie sich die Mathematik in der Renaissance neu erfand.
Hanser Verlag, München 2021. 382 S., Abb., 25,- Euro.
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