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Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel wurde 1928 in einem entlegenen jüdisch-rumänischen "Schtetl" geboren. 1944 kam er mit seiner Familie nach Auschwitz, die Angehörigen wurden ermordet, er selbst überlebte. Nach dem Krieg zog er durch die Welt, lebte in Frankreich, Israel, Indien, in den Vereinigten Staaten. "In dieser Autobiographie, die wie ein Roman geschrieben ist, wird Geschichte durch Geschichten sichtbar, und der Leser entdeckt einen unbekannten, einen romantischen, witzigen, sarkastischen, dann wieder bewegenden Elie Wiesel." (Liberation.)

Produktbeschreibung
Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel wurde 1928 in einem entlegenen jüdisch-rumänischen "Schtetl" geboren. 1944 kam er mit seiner Familie nach Auschwitz, die Angehörigen wurden ermordet, er selbst überlebte. Nach dem Krieg zog er durch die Welt, lebte in Frankreich, Israel, Indien, in den Vereinigten Staaten. "In dieser Autobiographie, die wie ein Roman geschrieben ist, wird Geschichte durch Geschichten sichtbar, und der Leser entdeckt einen unbekannten, einen romantischen, witzigen, sarkastischen, dann wieder bewegenden Elie Wiesel." (Liberation.)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.1995

Von der Verantwortung für das Böse
Selbstbildnis eines frommen Skeptikers: Elie Wiesel schreibt seine Autobiographie / Von Ruth Klüger

Elie Wiesel, Jahrgang 1928, überlebte als Fünfzehnjähriger ein Jahr in Auschwitz und Buchenwald, verlor dort seine Eltern und die jüngste Schwester und schrieb darüber mehr als zehn Jahre später einen gerafften, überaus eindringlichen und literarisch hochwertigen Bericht. "Die Nacht" (auf deutsch zuletzt als erster Teil der Trilogie "Die Nacht zu begraben, Elisha") begründete seinen Ruhm. Doch wird diese Zeugenaussage ("témoignage") zum Leidwesen des Autors oft als Roman konsumiert. Er besteht auf der faktischen Richtigkeit einiger besonders horrenden Szenen, die von der Kritik als fiktiv angezweifelt worden sind.

Seither hat er ein vielschichtiges und vielbändiges Werk vorgelegt, vor allem Romane, daneben Theologie, engagierte Reportagen (zum Beispiel ein früher und einflußreicher Bericht über die Lage der Juden in der Sowjetunion) und populäre Darstellungen jüdischer Mystik und Literatur. "Die Nacht" bleibt eines der meistgelesenen Bücher über den Holocaust. Bei Gedenkfeiern wird daraus gelesen, bei Ansprachen daraus zitiert. Ein Großteil der Überlebenden des Judenmords ist sich einig, daß Wiesel wie kein anderer "für uns spricht", ein Repräsentant ist; doch auch junge Juden fühlen sich von ihm angesprochen.

In Amerika ist Wiesel schon lange eine Kultfigur. Wo er auftritt, füllt er die Räume. Er spricht locker und frei, beantwortet Fragen direkt, freundlich, sehr lebendig. Er schreibt auf französisch, doch gebraucht er das Englische wie einer, der von Haus aus polyglott ist, jede Sprache lernen kann und sich in allen wohl fühlt. Er wirkt zugleich intellektuell und emotional, also engagiert, und ganz spontan. Freilich wird er auch als zu selbstbezogen und selbstinszeniert angegriffen, als einer, der seine Wirkung nur zu gut kennt und sie berechnet. Fest steht sein Ansehen als einer der führenden Köpfe in jüdischen kulturellen Angelegenheiten.

Die vorliegende Autobiographie behandelt die ersten vierzig Lebensjahre und beginnt notwendigerweise mit denselben Ereignissen, die Wiesel in "Die Nacht" geschildert hat. Das bedeutet 140 Seiten eines teils nüchternen, teils pathetischen Kommentars zu dem früheren Werk. Der Autor berichtet von seiner Kindheit in der Kleinstadt Sighet an der rumänisch-ungarischen Grenze. Die Judenverfolgung bricht in das glückliche Familienleben einer gläubigen Familie ein, in der der Sohn die heiligen Texte studiert und der einzige Konflikt mit dem verehrten Vater darin besteht, daß dieser dem kleinen Elie die Kabbala vorenthalten möchte, während sich der Junge brennend für alles Mystische interessiert. Die Muttersprache ist Jiddisch, aber man kann sich auf rumänisch, ungarisch und deutsch verständigen, und selbstverständlich lernt das Kind Hebräisch.

Die Nachrichten von Krieg und antisemitischen Ausschreitungen in den Nachbarländern dringen in das Städtchen wie von weit her und werden nur an den Rändern des Bewußtseins wahrgenommen. Nach dem Einmarsch der Deutschen kommt die Familie zunächst in ein Ghetto und wird 1944 mit den großen Ungarn-Transporten nach Auschwitz verschickt. Der junge Elie und sein Vater werden kurz vor Kriegsende nach Buchenwald überführt, wo der Vater wenige Wochen vor der Befreiung stirbt. Wiesels Absicht ist nicht, die Wucht oder den Inhalt des früheren Werkes zu wiederholen, sondern es durch die Erfahrungen und Gedanken der dazwischenliegenden Jahre anzureichern.

Nach der Befreiung wird er mit einer Gruppe Jugendlicher nach Frankreich "eingeladen". Staatenlos und verwaist widmet er sich wieder jüdischen Studien, lernt die Sprache, in der er später seine zahlreichen Bücher schreiben wird, und findet seine älteren Schwestern wieder. Er wird Journalist in Frankreich und dem neugegründeten Israel. Aufschlußreich ist die Schilderung des Nachkriegsmilieus und der schäbigen Behandlung von Überlebenden der KZs. Selbst in Israel wurden sie verachtet; der Holocaust wurde nicht oft erwähnt und kam in den Schulbüchern lange Zeit gar nicht vor.

Wiesel läßt sich von der Erinnerung nichts vormachen. Nicht umsonst hieß "Die Nacht" in der ursprünglichen jiddischen Fassung "Und die Welt hat geschwiegen". Er nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er die Gleichgültigkeit der Alliierten während und nach dem Krieg anprangert, er wartet mit keiner falschen Dankbarkeit auf, die die Toten außer acht ließe, und beschreibt unbestechlich die Demütigung der früheren Opfer in der freien Welt. (Übrigens soll Wiesel das Wort "Holocaust" im heutigen Sinne in die Sprache eingeführt haben.)

Nun ist aber diese Leidensgeschichte auch eine success story. Wiesel kam nach Amerika, wo er sich einbürgern konnte, wurde Professor für Judaistik und ein angesehener Autor, der Preise erhielt, so 1986 den Friedensnobelpreis. Hier setzen die Schwächen des Buches ein. Nicht alles, was ihm in dieser Phase seines Lebens begegnete, ist der ausführlichen Behandlung wert. Da gibt es zu viele Menschen, die dem Leser unbekannt sein werden, auf deren Bekanntschaft der Autor indessen stolz ist. Der Überblick über die Zeitgeschichte, die er als Journalist genau verfolgen mußte, liefert mitunter nur enzyklopädische Stichworte oder Schlagzeilen aus zwei Jahrzehnten. Die Beschreibung der Kontroverse über Wiedergutmachung innerhalb jüdischer Kreise oder der Spannungen vor dem Sechstagekrieg vermitteln dem Leser dagegen das Gefühl, den Ereignissen hautnah beizuwohnen. Das Buch endet 1969 mit Wiesels Hochzeit in Jerusalem. Ein zweiter Band ist vorgesehen.

Trotz aller durch Auschwitz verursachten religiösen Zweifel ist Wiesel zeit seines Lebens ein frommer Jude geblieben. Er hat nicht aufgehört, sich mit religiösen Fragen auseinanderzusetzen, vor allem mit der Verantwortung Gottes und der Menschen für das Böse, also dem Problem der Theodizee. Doch enthält das Buch mehr über einzelne jüdische Theologen, als für deutsche Leser interessant sein dürfte. Ähnlich ist es mit politischen und kulturellen Ereignissen in Frankreich und Amerika: Für eine breite ausländische Leserschaft wird eine zu große Kenntnis der Zusammenhänge vorausgesetzt.

Kein Zweifel, daß Wiesel neben seinen vielen Bewunderern auch Feinde und Neider hat. Er teilt Hiebe und Blumensträuße aus. Für den Leser sind solche öffentlichen Abrechnungen eines Mannes, der sich seiner Berühmtheit bewußt ist, eher peinlich. Die nicht sehr einfühlsame Übersetzung, die sich wenig um sprachliche Nuancen kümmert, leistet gelegentlichen Geschmacklosigkeiten Vorschub.

Merkwürdig enttäuschend ist die Behandlung von Frauen. Sie existieren kaum als eigenständige Menschen. Gute Noten bekommen sie nur als Mütter, Ehefrauen oder in anderen dienenden Funktionen. Sogar Golda Meir, die Wiesel seinem Bericht zufolge gut gekannt hat, behandelt er mit wohlwollender Herablassung, und über die große Hannah Arendt schreibt er mit der gleichen Kälte, die er ihr vorwirft. Sitzt das alte religiöse Mißtrauen gegen "fremde", und das heißt auch unabhängige Frauen bei diesem modernen, wenn auch traditionsbewußten Juden so tief - obwohl Wiesel einmal in einer israelischen Frauenzeitschrift unter einem weiblichen Pseudonym Beiträge veröffentlicht hat? Unverzeihlich ist allerdings, daß er über die Lagererfahrungen seiner beiden älteren Schwestern kein Wort verliert. Er stellt sie uns vor, wir erleben sie beim Wiedersehen und bei späteren Begegnungen mit dem Bruder, doch wir erfahren nicht einmal die Namen der Lager, in denen sie überlebt haben.

So entsteht das paradoxe Selbstbildnis eines Einsamen mit vielen menschlichen Kontakten; eines frommen, begeisterungsfähigen Skeptikers; und eines Egoisten, der sich leidenschaftlich für andere einsetzen kann.

Elie Wiesel: "Alle Flüsse fließen ins Meer". Autobiographie. Aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock, Brigitte Große und Sabine Müller. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1995. 597 S., geb., 49,80 DM.

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