rasiert hat - fünfundzwanzigtausendzweihundertdreiundzwanzig Mal, um genau zu sein -, bei welchen Gelegenheiten sie ausfiel, und nie wird er vergessen, wie er einst als britischer Soldat vor seinem Armeezelt in Afrika saß und nicht auf das Donnern der Geschütze hörte, sondern nur auf das leise Kratzen der Klinge an seinem Hals.
Niemals hatte er sich lebendiger gefühlt als in diesen Momenten. Und jetzt sollte ihm das Vergnügen genommen werden, weil Evelyn sich weigerte, den kaputten Elektroapparat zu ersetzen? Er solle fortan Einwegrasierer benutzen, hatte sie über den Kopf ihres Ehemanns hinweg bestimmt, und als er widersprach, seine Argumente vom Tisch gewischt. Dabei stammte das Geld, das Evelyn auf diese Weise sparte - und nicht nötig hatte zu sparen -, aus Harrys Rente, für die er vierzig Jahre lang tagaus, tagein ins Büro gegangen war. Aber das behält er lieber für sich.
Ganz am Ende, auf den allerletzten Seiten von "All unsere Jahre" entfaltet der Roman der britisch-kanadischen Autorin Kathy Page eine Wucht und eine Unerbittlichkeit, die alles, was zuvor aus dem gemeinsamen Leben von Harry und Evelyn zu erfahren war, noch einmal zuspitzt und in einem ganz anderen, durchaus tragischen Licht erscheinen lässt. Denn was war das zuletzt wirklich für ein Leben, das Mr und Mrs Miles da mehr als siebzig Jahre Seite an Seite verbrachten? Von außen betrachtet, lässt sich die Ehe zweifellos als erfolgreich beschreiben. Das Paar hatte sich früh kennengelernt, nicht zufällig auf den Stufen einer Bibliothek, verliebte sich heftig und heiratet, noch ehe Harry als Freiwilliger in den Zweiten Weltkrieg zieht.
Beide stammen aus einfachen Verhältnissen. Harry konnte überhaupt nur mit Hilfe eines Stipendiums die Schule besuchen, und es war sein Englischlehrer, der ihn, in dessen Elternhaus kein einziges Buch stand, die Literatur entdecken ließ. Doch seine Ambitionen, Schriftsteller zu werden, gibt der junge Kriegsheimkehrer zugunsten einer Festanstellung in einer Londoner Behörde auf. Statt Risiken einzugehen, bastelt er lieber zusammen mit seiner Frau an einem Lebensentwurf, der sich von der eigenen Herkunft emanzipiert. Drei Töchter werden geboren, für ein Haus mit Garten in einer gutsituierten Nachbarschaft wird gespart, und der gesellschaftliche Aufstieg ist perfekt, als auch der Nachwuchs die Universität besucht und akademische Berufe ergreift. Das hatte in dieser Familie noch keiner je erreicht.
Während nach außen die Kontur einer makellosen Familie so klar hervortritt wie der Beschnitt ihrer Hibiskushecken, gehen sich im Innern der Ehe Harry und Evelyn zusehends verloren. Kathy Page ist eine skrupulöse Beobachterin und eine versierte Erzählerin noch dazu, die den Verfall dieser Liebesbeziehung über den Zeitraum von sieben Jahrzehnten nicht als großes Drama, sondern in den kleinen, scheinbar alltäglichen Details so präzise wie gnadenlos einfängt. Umso erstaunlicher ist es, dass man von der 1958 in London geborenen Schriftstellerin, die seit vielen Jahren in Kanada lebt, hierzulande kaum je gehört hat. Dabei umfasst ihr preisgekröntes Werk inzwischen mehr als dreißig Buchtitel, darunter Erzählbände, Sachbücher und acht Romane. Mit "All unsere Jahre" liegt in der Übersetzung von Beatrice Faßbender nun erstmals ein Buch von ihr auch auf Deutsch vor.
Hier freilich wagt die Autorin sich auf ein Gebiet, das Literaten von Tolstoi über Julian Barnes bis zu Arno Geiger und Bodo Kirchhoff seit jeher beschäftigt hat. Aus Kirchhoffs Roman "Liebe in groben Zügen" stammt der bezwingende Gedanke, dass die Sehnsucht nach Liebe die einzige schwere Krankheit sei, mit der man alt werden könne, "sogar gemeinsam". Bei Kathy Page jedoch ist es Harry ganz allein, der daran erkrankt. Zunehmend verkümmert er unter dem schleichenden Entzug von Zuwendung und Liebe. Dabei war die grünäugige Evelyn, als er sie kennenlernte, begeisterungsfähig und lebensfroh und auf interessante Weise patent.
Erst im fortschreitenden Alter wandelt sie sich zur herrischen und mitleidlosen Person. Oder ist es am Ende gar so, dass erst das Alter den wahren Charakter eines Menschen zutage treten lässt? Zumal das Altern bekanntlich nichts für Schwächlinge ist, sondern, wie schon Philip Roth wusste, ein Massaker, ein Schlachtfeld, auf dem man sich keine Ambivalenzen mehr leisten kann, sondern das einer Härte bedarf, die toxisch wirkt? Kathy Page lässt dies offen. In ihrer beobachtenden, nie wertenden und damit bisweilen verstörend distanzierten Doppelcharakterstudie zeigt sie, wie die Veränderungen schleichend zutage treten. Erst sind es nur kleine Unzufriedenheiten über herumliegende Bücher etwa, später hält Evelyn sich auch mit gravierenderen Beschuldigungen nicht mehr zurück, bis sie schließlich eine Kälte an den Tag legt, die einen erschauern lässt.
Den langen Zeitraum, der hier umspannt wird, fängt Kathy Page in hochkonzentrierten Szenen ein, die mit großen Mengen Bitterstoff versetzt sind. Die drei Töchter reagieren je unterschiedlich auf die komplizierte Beziehung der Eltern; dass allerdings zwei von ihnen gleich auf andere Kontinente auswandern, lässt Fluchttendenzen durchaus erkennen. Den eigenen Eltern aber entkommt man nicht, und so müssen auch sie sich, spätestens als Harry erste Anzeichen von Demenz zeigt, mit der als Selbstverständlichkeit hingenommenen Ehe der Eltern auseinandersetzen.
Wo aber geht nun die Liebe hin, wenn sie vergangen ist? Und worin findet das Paar Ersatz, wenn das Begehren schwindet? Bei Kathy Page wird dies manifest in der Sehnsucht nach dem ungelebten Leben, im Wunsch nach einer alternativen Biographie. Für Evelyn verkörpert diese Versuchung ein polnischer Offizier, mit dem sie einst am Strand von Devon anbandelte, während ihr Mann im Krieg war. Da spätestens lehrt uns "All unsere Jahre", dass es der Blick zurück ist, auf die verpassten Abzweigungen des eigenen Lebens, der im Alter mitunter kaum zu ertragen ist.
Kathy Page: "All unsere Jahre". Roman.
Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019. 304 S., geb., 24,- [Euro].
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