Michela Murgia
Gebundenes Buch
Accabadora
Roman. Von der Darmstädter Jury als Buch des Monats April 2010 ausgezeichnet
Übersetzung: Brandestini, Julika
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Wie Mutter und Tochter leben Bonaria Urrai und die sechsjährige Maria zusammen. Die Bewohner des sardischen Dorfes sehen den beiden verwundert nach und tuscheln, wenn sie die Straße hinunterlaufen. Dabei ist alles ganz einfach: Die alte Schneiderin hat das Mädchen zu sich genommen und zieht es groß, dafür wird Maria sich später um sie kümmern. Als vierte Tochter einer bitterarmen Witwe war Maria daran gewöhnt, »die Letzte« und eine zuviel zu sein. Nun hat sie ein eigenes Zimmer in dem großen reinlichen Haus Bonarias, wo alle Türen offen stehen und sie jeden Raum betreten darf. Doch...
Wie Mutter und Tochter leben Bonaria Urrai und die sechsjährige Maria zusammen. Die Bewohner des sardischen Dorfes sehen den beiden verwundert nach und tuscheln, wenn sie die Straße hinunterlaufen. Dabei ist alles ganz einfach: Die alte Schneiderin hat das Mädchen zu sich genommen und zieht es groß, dafür wird Maria sich später um sie kümmern. Als vierte Tochter einer bitterarmen Witwe war Maria daran gewöhnt, »die Letzte« und eine zuviel zu sein. Nun hat sie ein eigenes Zimmer in dem großen reinlichen Haus Bonarias, wo alle Türen offen stehen und sie jeden Raum betreten darf. Doch ein Geheimnis umweht die stets schwarz gekleidete, wortkarge Frau, die mitunter nachts, wenn Maria schlafen soll, Besuch erhält und dann das Haus verlässt. Es scheint, als würde Bonaria in zwei Welten leben. Das Mädchen spürt, dass sie nicht danach fragen darf. Erst sehr spät entdeckt sie die ganze Wahrheit. Michela Murgia erzählt in einer schnörkellosen, poetischen Sprache aus einer scheinbar fernen, doch kaum vergangenen Welt. Von zwei Generationen, zwei Frauenleben, von einem alten, lange verschwiegenen Beruf. Dieser Roman ist sinnlich, radikal und verblüffend gegenwärtig.
Michela Murgia, geboren 1972 in Cabras/Sardinien, studierte Theologie und unterrichtete Religion. Nach einigen Jahren in Mailand lebt sie seit kurzem wieder in Sardinien.
Produktdetails
- Quartbuch
- Verlag: Wagenbach
- Originaltitel: Accabadora
- Seitenzahl: 173
- Erscheinungstermin: 25. Februar 2010
- Deutsch
- Abmessung: 220mm x 142mm x 20mm
- Gewicht: 336g
- ISBN-13: 9783803132260
- ISBN-10: 3803132266
- Artikelnr.: 27978035
Herstellerkennzeichnung
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wirklich gegeben hat es die "Accabadora" des Titels, also die Frau, die Sterbenden zum Tode hilft, mutmaßlich nie. Was Michela Murgia in ihrem Romandebüt erzählt, ist also eher eine sardische Legende. Daran, dass dieser Roman realitätsgesättigt und so "poetisch" wie "nüchtern" (lobt Jutta Person) von der italienischen Insel und ihren Bewohnern erzählt, ändert das freilich nichts. Um Adoption geht es, um das Verlassen der Insel und um die Rückkehr, aber an keiner Stelle werde daraus ein Stück Nostalgie. Kein Wunder auch, findet Person, bei einer Autorin, die sich auf ihrer Website heftig in die Gegenwart einmischt und mit einem Tagebuch ihres Leidens als Callcenter-Mitarbeiterin debütierte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Es ist eine Schneiderin, die heißt Tod
Sardiniens Mythen: Michela Murgias dichtes Debüt
In abgelegenen, kargen, sonnenversengten Landstrichen brodelt unter dem Firnis der Zivilisation eine archaische Welt - seit mehr als hundert Jahren ist dies ein fruchtbares Thema der italienischen Literatur, von Giovanni Verga bis Carlo Levi. Zu den Territorien des Archaischen zählt Sardinien, die geographisch und sprachlich isolierte Insel, stummes Gegenstück zur alten Kulturregion Sizilien.
Michela Murgia wählt in ihrem Erstlingsroman "Accabadora" zwei der urtümlichen sardischen Bräuche als zentrale Motive: Das Kind einer armen Mutter kann als "Kind der Seele" (fillus de anima beziehungsweise fill'e anima) von einer
Sardiniens Mythen: Michela Murgias dichtes Debüt
In abgelegenen, kargen, sonnenversengten Landstrichen brodelt unter dem Firnis der Zivilisation eine archaische Welt - seit mehr als hundert Jahren ist dies ein fruchtbares Thema der italienischen Literatur, von Giovanni Verga bis Carlo Levi. Zu den Territorien des Archaischen zählt Sardinien, die geographisch und sprachlich isolierte Insel, stummes Gegenstück zur alten Kulturregion Sizilien.
Michela Murgia wählt in ihrem Erstlingsroman "Accabadora" zwei der urtümlichen sardischen Bräuche als zentrale Motive: Das Kind einer armen Mutter kann als "Kind der Seele" (fillus de anima beziehungsweise fill'e anima) von einer
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begüterten, kinderlosen Frau adoptiert werden. Die titelgebende Accabadora hingegen ist eine (vielleicht mythische) Frauenfigur, eine Art Magierin, die Siechenden auf Wunsch Sterbehilfe leistet.
Die Heldin von "Accabadora" sieht sich mit beiden Institutionen konfrontiert: Maria Listru, sechs Jahre, wird von ihrer Mutter Anna Teresa, einer Witwe, die "bitterarm" und kinderreich ist, der relativ wohlhabenden Bonaria Urrai, Schneiderin des (fiktiven) Ortes Soreni, anvertraut; wir befinden uns in den fünfziger Jahren. Bonaria ist, wie Maria später erfährt, eine Accabadora, eine schwarz gekleidete Frau, die des Nachts verzweifelten Todkranken Kruzifixe und Heiligenbilder aus dem Zimmer entfernt, weil diese sie zurückhalten könnten, sie mit Rauchschwaden betäubt und schließlich erstickt.
Starke Frauenfiguren bestimmen den Roman, Maria steht unter der Obhut von gleich zwei Mütterpaaren: So konkurrieren die schlichte Anna Teresa, die den Sinn eines Schulbesuchs nicht einsieht, und die ehrgeizigere Schneiderin miteinander. Bonaria "in ihrem langen traditionellen Rock und dem schwarzen Schultertuch" wiederum trifft in Maestra Luciana, Marias Lehrerin, auf ihr fortschrittliches Gegenstück. Zentral ist immer das Verhältnis Marias zu ihrer Ziehmutter und damit zur archaischen Welt. Ein Konflikt bricht aus, als ein Freund verkrüppelt wird und sich mit Hilfe der Accabadora das Leben nimmt. Die hier aufgeworfene Frage nach dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist natürlich zeitlos aktuell.
So mächtig der Stoff, so leicht und präzise der Stil: Murgia schlägt einen beinahe heiteren Ton an, fasst urtümliche Bräuche in schlichte, elegante Worte. Das archaische Erbe, das schon die große Stimme Sardiniens, Grazia Deledda, umtrieb - man denke an den Knecht Efix in "Schilf im Wind" (1913) -, wird in "Accabadora" nie zur Last oder zur Folklore; es ist selbstverständlicher Teil eines Reifeprozesses. "Viele von den Dingen, die sie glaubte an dem Ufer zurückgelassen zu haben, von dem damals das Schiff nach Genua abgelegt hatte, kamen eins nach dem anderen zu ihr zurück, wie Treibholz, das nach einer Sturmflut an den Strand gespült wird." Wer im Erstling so abgeklärt schreibt, hat seine literarische Gärung bereits durchlaufen.
NIKLAS BENDER
Michela Murgia: "Accabadora". Roman. Aus dem Italienischen von Julika Brandestini. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010. 176 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Heldin von "Accabadora" sieht sich mit beiden Institutionen konfrontiert: Maria Listru, sechs Jahre, wird von ihrer Mutter Anna Teresa, einer Witwe, die "bitterarm" und kinderreich ist, der relativ wohlhabenden Bonaria Urrai, Schneiderin des (fiktiven) Ortes Soreni, anvertraut; wir befinden uns in den fünfziger Jahren. Bonaria ist, wie Maria später erfährt, eine Accabadora, eine schwarz gekleidete Frau, die des Nachts verzweifelten Todkranken Kruzifixe und Heiligenbilder aus dem Zimmer entfernt, weil diese sie zurückhalten könnten, sie mit Rauchschwaden betäubt und schließlich erstickt.
Starke Frauenfiguren bestimmen den Roman, Maria steht unter der Obhut von gleich zwei Mütterpaaren: So konkurrieren die schlichte Anna Teresa, die den Sinn eines Schulbesuchs nicht einsieht, und die ehrgeizigere Schneiderin miteinander. Bonaria "in ihrem langen traditionellen Rock und dem schwarzen Schultertuch" wiederum trifft in Maestra Luciana, Marias Lehrerin, auf ihr fortschrittliches Gegenstück. Zentral ist immer das Verhältnis Marias zu ihrer Ziehmutter und damit zur archaischen Welt. Ein Konflikt bricht aus, als ein Freund verkrüppelt wird und sich mit Hilfe der Accabadora das Leben nimmt. Die hier aufgeworfene Frage nach dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist natürlich zeitlos aktuell.
So mächtig der Stoff, so leicht und präzise der Stil: Murgia schlägt einen beinahe heiteren Ton an, fasst urtümliche Bräuche in schlichte, elegante Worte. Das archaische Erbe, das schon die große Stimme Sardiniens, Grazia Deledda, umtrieb - man denke an den Knecht Efix in "Schilf im Wind" (1913) -, wird in "Accabadora" nie zur Last oder zur Folklore; es ist selbstverständlicher Teil eines Reifeprozesses. "Viele von den Dingen, die sie glaubte an dem Ufer zurückgelassen zu haben, von dem damals das Schiff nach Genua abgelegt hatte, kamen eins nach dem anderen zu ihr zurück, wie Treibholz, das nach einer Sturmflut an den Strand gespült wird." Wer im Erstling so abgeklärt schreibt, hat seine literarische Gärung bereits durchlaufen.
NIKLAS BENDER
Michela Murgia: "Accabadora". Roman. Aus dem Italienischen von Julika Brandestini. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010. 176 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Oh nein, es geht weiß Gott nicht nur um Sterbehilfe, es geht ums Erwachsen- und damit Bewusst-Werden des Lebens in seinem vollen Umfang, "consapevole" im Italienischen, es geht um Pädophilie und schuldigen oder unschuldigen Sex, um Gerechtigkeit und Rache, den Wunsch zu sterben …
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Oh nein, es geht weiß Gott nicht nur um Sterbehilfe, es geht ums Erwachsen- und damit Bewusst-Werden des Lebens in seinem vollen Umfang, "consapevole" im Italienischen, es geht um Pädophilie und schuldigen oder unschuldigen Sex, um Gerechtigkeit und Rache, den Wunsch zu sterben von Alt und Jung und um Verwandte, die den Alten endlich loswerden wollen, um Armut und Reichtum, Bildung und Analphabetentum, die hier viel zitierte archaische und die moderne Welt, um Lügen und Schweigen, und es geht endlich einmal darum, dass die Grenzen zwischen all diesen Gegensätzen gar nicht eindeutig sind, sondern fließen, dass die archaische und die moderne Welt sich eigentlich gar nicht sonderlich unterscheiden, fill’e anima, Töchter der Seele heißt das wörtlich, - und um Seelen geht es oft genug in diesem Roman - gibt es auch heute noch, man reist eben nur ins ferne, arme Ausland. Und das Erfrischende, Erholsame an diesem Roman ist ja gerade, dass die Hauptfigur lernt und bereit ist, die Realität, das Leben in seinem vollen Umfang zu akzeptieren, ohne den Druck von falschen Moralpredigten, die durchaus vorhanden sind, sie aber nicht ernsthaft berühren.
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Das Buch "Accabadora" von Michela Murgia behandelt das Thema Sterbehilfe auf der Grundlage der Erzählung eines Mädchens, die in einem kleinen Dorf auf Sardinien zusammen mit ihrer Ersatzmutter, einer Schneiderin, lebt. Das 6-jährige Mädchen Maria führt ein Leben …
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Das Buch "Accabadora" von Michela Murgia behandelt das Thema Sterbehilfe auf der Grundlage der Erzählung eines Mädchens, die in einem kleinen Dorf auf Sardinien zusammen mit ihrer Ersatzmutter, einer Schneiderin, lebt. Das 6-jährige Mädchen Maria führt ein Leben auf dem Land, wo sie Zeit mit ihrem besten Freund verbringen kann und unbeschwert in den Tag hineinlebt. Sie verbringt viel Zeit mit ihrer Ersatzmutter Bonaria Urrai, die Maria aufgenommen hat, als sie noch kleiner war. Die Schneiderin kann ihr von Sitten und Lebensvorstellungen früherer Zeiten erzählenund hat auch stets ein offenes Ohr für Maria, die ihr auch des öfteren beim Schneidern behilflich ist, um so ganz nebenbei die verschiedensten Menschen aus dem Dorf kennen zu lernen. So wird neben dem Leben Marias feinfühlig über das Leben außerhalb großer Metropolen erzählt, wo die Menschen anderen Gewohnheiten, anderen Gebräuchen nachgehen als wir. Dieses fröhliche Leben des jungen Mädchens wird aber bald von Problemen überschattet, als sie bemerkt, dass ihre Ersatzmutter nachts öfters heimlich das Haus verlässt. Doch auch als Maria sie darauf anspricht, bleibt diese verschwiegen. Später findet Maria das große Geheimnis Bonaria Urrais heraus, was ihr leben verändern sollte. Ihre kleine, geschützte Welt bricht mit einem Mal zusammen und sie muss sich zum ersten Mal mit Liebe und Tod auseinandersetzten und wie diese beiden Themen doch so dicht zusammenstehen. Wie wird Maria sich entscheiden? Für oder gegen ihre Ersatzmutter? Und wie wird sie selbst handeln, als sie selbst, Jahre später, in die gleiche Situation gerät?<br />Ich fand dieses Buch unglaublich spannend, da es einerseits ein vollkommen anderes Leben als das unsere beschreibt, und andererseits Themen behandelt, die uns selbst betreffen. Bonaria Urrai leistet Menschen Sterbehilfe, die keine Aussichten mehr auf ein Leben ohne Qualen haben. Maria verurteilt dies zutiefst, in der Meinung niemals über das Leben oder den Tod anderer entscheidenzu können. Durch diese Konfrontation zweier unterschiedlicher Meinungen von zwei Menschen, die sich sehr nahe stehen, werden wir selbst vor die Frage gestellt, wie wir in derartigen Situationen handeln würden. Wir werden uns große Gedanken machen, welches verhalte richtig und welches falsch ist. Und kommen schließlich auf die Frage: Gibt es überhaupt richtig oder falsch?
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Weil ihre verwitwete Mutter nicht weiß, wie sie vier Töchter ernähren soll, überlässt sie Maria, die Jüngste, der kinderlosen Schneiderin Bonaria Urrai, die im selben sardischen Dorf lebt. Maria merkt, dass Bonaria hin und wieder nachts fortgerufen wird, aber erst als …
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Weil ihre verwitwete Mutter nicht weiß, wie sie vier Töchter ernähren soll, überlässt sie Maria, die Jüngste, der kinderlosen Schneiderin Bonaria Urrai, die im selben sardischen Dorf lebt. Maria merkt, dass Bonaria hin und wieder nachts fortgerufen wird, aber erst als ihr Freund Andría Bastíu behauptet, Bonaria habe seinen älteren Bruder umgebracht, ahnt sie, was es mit den nächtlichen Ausgängen ihrer Pflegemutter auf sich hat ...<br />Michela Murgia räsoniert nicht, sondern inszeniert in einer wortkargen, vitalen Sprache eine packende Geschichte, die in einer archaischen Umgebung spielt. "Accabadora" ist eine Perle anspruchsvoller Literatur.
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Broschiertes Buch
»Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen.« S.7
So beginnt die Geschichte von Maria Listru, die als viertes Kind einer verarmten, verwitweten Mutter mit sechs Jahren zu …
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»Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen.« S.7
So beginnt die Geschichte von Maria Listru, die als viertes Kind einer verarmten, verwitweten Mutter mit sechs Jahren zu ihrer Ziehmutter Bonaria Urrai kommt – gegen ein paar Eier und Petersilie. Es sind die 50er Jahre, in denen Maria in Soreni, einem fiktiven Ort im ländlichen Sardinien aufwächst. War Maria bisher nur das ungeliebte Anhängsel, so lernt sie allmählich, was es bedeutet, beschützt und geliebt zu werden. Vor allem hält Bonaria das Geschwätz der Leute von ihr fern, denen es suspekt ist, dass eine so alte Frau ein kleines Kind zu sich holt. Maria wird pflichtbewusst und mit Liebe erzogen, kann sogar im Gegensatz zu ihren leiblichen Schwestern die Schule länger als nur drei Jahre besuchen. Sie wird zu einem aufgeweckten, intelligenten Kind, das seine Umwelt aufmerksam beobachtet und so entgeht ihr auch nicht, dass Tzia Bonaria immer wieder nachts verschwindet. Und sie sieht, dass die Dorfbewohner die alte Schneiderin mit einer gewissen Distanz behandel. Erst viele Jahre später wird Maria verstehen, was ihre Ziehmutter in diesen Nächten getan hat.
Murgia zeigt uns in ihrem Roman ihre Heimat, die wenig mit den Urlaubsbildern und -vorstellungen eines Sardiniens zu tun hat, das wir vielleicht kennen. Die raue, archaische Lebensweise der Landbevölkerung, die oft ungebildet ist und an altem Aberglauben festhält, scheint fast stoisch ihr Schicksal zu ertragen.
Doch im Mittelpunkt steht der Dienst von Bonaria Urrai, denn sie ist eine Accabadora – eine Frau, die Sterbehilfe leistet. Es ist nicht gesichert, ob es solche Frauen tatsächlich gegeben hat oder ob sie nur Teil zahlreicher sardischer Legenden sind.
Maria ist erschüttert, als sie erkennt, was ihre Ziehmutter macht und es gibt einen harten Bruch in ihrer Beziehung, mehr möchte ich aber nicht verraten.
Laut einer sardischen Tradition ist es wichtig, nicht allein auf die Welt zu kommen, aber auch nicht allein zu gehen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Strebehilfe, die tief in der traditionellen Ansichten verwurzelt ist, sowie den daraus resultierenden Generationenkonflikt schildert Murgia auf sehr behutsame und einfühlsame Weise. Sie urteilt und verurteilt nicht, sondern überlässt es uns Leser*innen, die Gedanken weiterzuführen.
Das alles bettet sie in eine wunderbare Geschichte ein, in der geheiratet und gestorben wird, alte Bräuche und Legenden aufleben, Land gestohlen wird, Menschen am Leben verzweifeln, aber sich auch verlieben. Hin und wieder versüßt Murgia uns das Lesen mit pabassinos und capigliette – typisch sardischen Spezialitäten, die zu einer Hochzeit gebacken werden.
Ich bin Maria beim Erwachsenwerden gern gefolgt, auch wenn ich immer eine gewisse Distanz gespürt habe. Accabadora ist sicher kein romantisierendes Wohlfühlbuch, aber eine ungewöhnliche Mutter-Tochter-Geschichte, die mich lange darüber nachdenken ließ, wie man mit Leben und Tod in unserer Gesellschaft umgeht.
Es war mein erstes Buch der Autorin, wird aber sicher nicht mein letztes sein. Leider starb Michela Mugia letztes Jahr im Alter von 51 Jahren.
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Broschiertes Buch
„Es gibt Orte, an denen die Wahrheit gleichbedeutend ist mit der Meinung der Mehrheit und auf der geheimnisvollen Landkarte dieses Konsensprinzips war Soreni eine kleine moralische Hauptstadt.“ S.68
Ich war noch niemals auf Sardinien. Doch während ich diesen Roman lese, …
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„Es gibt Orte, an denen die Wahrheit gleichbedeutend ist mit der Meinung der Mehrheit und auf der geheimnisvollen Landkarte dieses Konsensprinzips war Soreni eine kleine moralische Hauptstadt.“ S.68
Ich war noch niemals auf Sardinien. Doch während ich diesen Roman lese, spüre ich den Boden der süditalienischen Insel unter mir. Ich tauche in das archaische Leben des kleinen Dorfes Soreni ein, in dem die Straßen nicht auf dem Reißbrett, sondern als schlingernde Verbindung zwischen Häusern entstanden sind. Ich werde Teil der Gemeinschaft, in der man zusammenkommt, um Traditionen zu pflegen, Geschichten zu erzählen, Gerüchte zu schüren und nach uraltem Brauch sardische Süßigkeiten herzustellen.
Eine der Traditionen, die hier schon seit langem gepflegt wird, ist die der fill’e anima (Kind des Herzens), einer inoffiziellen unbürokratischen Adoption, bei der im Einverständnis aller beteiligten Familien kinderlose Paare einer armen, kinderreichen Familie ein Kind „abnehmen“. Im besten Fall bleiben alle in engem Kontakt und einander zugeneigt.
Maria ist ein Kind, dass durch eine solche Adoption im Alter von 6 Jahren von Tzia Bonaria aufgenommen wird. Die schweigsame zurückgezogen lebende „Alte“ hat im großen Krieg ihren Mann verloren und ist kinderlos geblieben. Maria hat etwas in ihr geweckt, das sie bewogen hat, sie in ihre strenge, aber liebevolle Obhut zu nehmen und sie der Armut der Großfamilie, in der sie als jüngstes Kind kaum mehr als eine zusätzliche Belastung war, zu entreißen.
Wenn auch ohne Verständnis der Dorfgemeinschaft für die Entscheidung, in ihrem Alter, das irgendwo zwischen 50 und 60 liegen mag, noch ein Kind aufzunehmen, wächst Maria im Hause der Bonaria behütet und ohne Entbehrungen. Sie entwickelt sich zu einer aufgeweckten und interessierten jungen Frau. Als sie durch ein dramatisches Unglück auf ein dunkles Geheimnis ihrer Ziehmutter stößt, werden ihr Vertrauen und ihre Zuneigung bis in die Grundfeste erschüttert.
Es ist eine Geschichte wie ein Märchen, in dessen abgeschottete, traditionelle, von Aberglauben und Ritualen geprägte Welt etwas Neues einbricht. Sie erzählt von der Kraft der Gemeinschaft, aus der sich eine besondere Mutter-Tochter-Beziehung erhebt.
Michela Murgias Schreibstil ist fesselnd, von poetischer Kraft, fließend, lakonisch. Weiblich. Die Kraft geht von den Frauen aus, sie tragen die Traditionen weiter und verbinden sie in der Gegenwart mit der Zukunft.
Die Geschichte hat mich geweckt, gefesselt, fasziniert und erneut bewiesen, dass es literarisch soooo viel zu entdecken gibt. Nach den DREI SCHALEN ist das mein zweites, aber zum Glück nicht mein letztes Buch der 2023 leider viel zu früh verstorbenen Autorin.
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