hat ihn die Begegnung mit den indigenen Völkern des amerikanischen Südwestens zu einer intensiven Beschäftigung mit der Ethnologie geführt und sein Werk weit stärker geprägt als bisher angenommen.
Warburg war im Oktober 1895 nach Amerika gereist, um an der Hochzeit seines jüngeren Bruders Paul teilzunehmen. Doch hatte er wohl von vorneherein die Absicht, dort auch seinen schon länger bestehenden völkerkundlichen Interessen nachzugehen. Mit der Bitte um Hilfe wandte er sich an Franz Boas, der heute als der vielleicht bedeutendste Ethnologe seiner Zeit gilt. Boas hatte in Kiel Geographie studiert und nach Abschluss seiner Promotion eine längere Forschungsexpedition zu den Inuit von Baffin Island unternommen. Da er sich in Deutschland nur geringe Berufschancen ausrechnete, war er 1886 in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Als Warburg ihn kennenlernte, lehrte er bereits an der Columbia University, wo er in den folgenden Jahren die amerikanische Ethnologie als Cultural Anthropology praktisch neu begründen sollte. Der Briefwechsel, den er mit Warburg über Jahrzehnte hin führte, zeigt, dass die beiden sich von Anfang an geschätzt haben müssen.
Boas vermittelte ihm erste Kontakte zu den im Südwesten der Vereinigten Staaten arbeitenden Ethnologen. Zu ihnen zählte auch Frank H. Cushing, damals eine skandalumwitterte Figur. Da er sich dazu entschlossen hatte, bei den Zuni wie einer der ihren zu leben und sich auch in eines ihrer Priesterämter hatte initiieren lassen, machten ihm seine Kollegen den Vorwurf des "going native". Warburg nannte ihn dagegen einen "Vorkämpfer und Veteranen im Kampf um die indianische Seele".
Die Kunst der Pueblo-Kulturen begeisterte ihn. Auf seinen Reisen legte er sich eine Sammlung ihrer Kult- und Alltagsgegenstände zu, die er später dem Hamburger Völkerkundemuseum vermachte. Kaum zurück in Deutschland, beschloss er, für ein Jahr nach Berlin zu ziehen, um dort seine ethnologischen Studien fortzuführen.
Bredekamp nimmt seinen dortigen Aufenthalt zum Anlass, ein Bild der Positionen und Debatten zu zeichnen, die damals die Berliner ethnologische Szene beherrschte. Mit Nachdruck weist er die neuerdings gängige und allzu simple Vorstellung zurück, die Vertreter des Faches wären zu dieser Zeit allesamt Handlanger und Profiteure des Kolonialismus gewesen. Das Gegenteil war der Fall. In ihrer Mehrzahl verstanden sie sich als Fürsprecher der durch die Kolonisation und die sich ausbreitende technische Zivilisation scheinbar vom Aussterben bedrohten "Naturvölker" und sahen es als ihre wichtigste Aufgabe an, die materiellen Kulturgüter dieser Völker als Teil des Menschheitserbes zu erhalten. "Sammeln, Sammeln, Sammeln" hieß daher die von Adolf Bastian, dem Gründer des Berliner Völkerkundemuseums, ausgegebene Devise. Und sie bezog sich keineswegs nur auf besonders schöne oder spektakuläre Stücke. Gleichgültig, ob Ahnenfiguren oder Masken, ob Kleidung oder Schmuck, ob Werkzeuge oder Waffen, alles, was sie hervorgebracht hatten, sollte seinen Platz in den Völkerkundemuseen finden und für zukünftige Generationen aufbewahrt werden.
Nicht "aneignende Dominanz", sondern "Wissbegierde und Wertschätzung" waren nach Bredekamp die vorherrschenden Züge der Berliner Ethnologie der Jahrhundertwende. In ihr habe ein kosmopolitischer Gestus vorgeherrscht. Zumindest in den Kreisen, in denen Warburg verkehrte, ging es vor allem um ein "Verstehen fremder Kulturen". Hinzu kam ein expliziter Antirassismus, für die damals in Deutschland die Arbeiten der Völkerpsychologen Lazarus und Steinthal standen. Kein Wunder also, dass Aby Warburg großen Gefallen an diesem "liberalen" Geist fand, auch wenn es in anderen völkerkundlichen Forschungsstätten der Zeit anders ausgesehen haben mag.
Wie sehr die Grundkonzepte eines Adolf Bastian, Franz Boas oder Karl von den Steinen auch Warburgs eigene kunsthistorische Ideen beeinflussten, zeigt Bredekamp an seinem komplexen Symbolbegriff. Für Warburg zählten solch "transportable Schneckenhäuser" wie Gerät, Schmuck, Kleidung und Sitte mit zu den Mitteln, die es den Menschen ermöglichten, Distanz zu sich selbst zu schaffen, ohne die "Einheit seines leiblichen Ich" aufzugeben.
Neben einigen öffentlichen Vorträgen versuchte sich Warburg während seiner Berliner Zeit auch an zwei Abhandlungen zu den Kachina-Tänzen der Hopi, die er allerdings wieder zur Seite legte, da er meinte, noch nicht über das nötige Fachwissen zu verfügen. Ebenso gab er den damals gefassten Plan wieder auf, in seiner Habilitation Kunstgeschichte und Ethnologie zusammenzuführen. Eine "nie versiegende Inspirationsquelle" aber sei ihm die Kunst des amerikanischen Südwestens bis ans Ende seines Lebens geblieben, von der er einmal schrieb, dass sie eigentlich weit interessanter sein, als die der italienischen Renaissance, mit der er sich so lange beschäftigt hatte.
Die Gegenwartsbezüge von Bredekamps wissenschaftshistorischer Studie sind unverkennbar. Zum einen rückt er die verqueren Vorstellungen zurecht, die sich seit Bénédicte Savoys Raubkunst-Attacke gegen die ethnologischen Sammlungen breitgemacht haben und gegen die er als einer der drei Gründungsintendanten des Humboldt-Forums auch selbst schon öffentlich aufgetreten ist. Zugleich verleiten seine Darstellungen den Leser zu einem kleinen Gedankenspiel. Für Aby Warburg und Franz Boas stand die Gleichwertigkeit der europäischen und der außereuropäischen Kunst außer Frage. Was wäre gewesen, wenn sie bereits die Möglichkeit gehabt hätten, ein Vorhaben wie das Humboldt-Forum gemeinsam zu realisieren? Die Zeitumstände waren damals freilich noch nicht reif. Es bleibt nur zu hoffen, dass sie es heute sind.
KARL-HEINZ KOHL
Horst Bredekamp:
"Aby Warburg,
der Indianer". Berliner Erkundungen einer liberalen Ethnologie.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019. 176 S., Abb., br., 18,- [Euro].
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