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Das Leben des 1958 in Ostberlin verstorbenen Schriftstellers Johannes R. Becher war geprägt durch Krieg und Revolution, Terror, Moskauer Exil, Trümmer und Neuaufbau, Rausch und Suizidversuche. Als Poet, Intellektueller, Genosse und kommunistischer Kulturpolitiker schwankte er zwischen den Extremen Selbsterhöhung und Selbstpreisgabe. J.-F. Dwars hat viele bisher unveröffentlichte Selbstzeugnisse und Dokumente ausgewertet, läßt Weggefährten Bechers, Zeitzeugen und Kritiker zu Wort kommen. Zugleich möchte er mit seinen Interpretationen der Dichtungen Bechers dessen schriftstellerisches Werk neu ins Bewußtsein rücken.…mehr

Produktbeschreibung
Das Leben des 1958 in Ostberlin verstorbenen Schriftstellers Johannes R. Becher war geprägt durch Krieg und Revolution, Terror, Moskauer Exil, Trümmer und Neuaufbau, Rausch und Suizidversuche. Als Poet, Intellektueller, Genosse und kommunistischer Kulturpolitiker schwankte er zwischen den Extremen Selbsterhöhung und Selbstpreisgabe. J.-F. Dwars hat viele bisher unveröffentlichte Selbstzeugnisse und Dokumente ausgewertet, läßt Weggefährten Bechers, Zeitzeugen und Kritiker zu Wort kommen. Zugleich möchte er mit seinen Interpretationen der Dichtungen Bechers dessen schriftstellerisches Werk neu ins Bewußtsein rücken.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

800 Seiten über einen Dichter, den sie wohl zu Recht vergessen findet, aber der ja immerhin auch mal Kulturminister der DDR war - Sabine Brandt zeigt sich in ihrer Kritik schon ein bisschen befremdet, dass ein Autor wie Dwars, der 1960 geboren ist, heute noch ein solches Interesse für Johannes R. Becher aufzubringen vermag. Aber letztlich hat sie den Band wohl doch mit Gewinn gelesen, vor allem weil Dwars noch einmal das Panorama des Literaturlebens in der frühen DDR malt und dabei all die geknechteten Dichterseelen zeigt. Becher schildert Brandt da als typisch: ein Bourgeois, der den bourgeoisen Vater hasst und aus der antiautoriären Revolte dann nur zu neuer Unterordnung in der Partei fand. Was sie Dwars allerdings nicht verzeiht, ist, dass er am Ende doch mit Becher sympathisiert. Eine böse interne Sitzung der DDR-Literaten im Jahre 1952 weiß sie ganz anders und wesentlich weniger positiv für Becher darzustellen als Dwars. Der Grund ist einfach: Sie war dabei.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.1999

Mit leichter Dichterhand auf Doggenschädel
Die Seele verrenkt: Johannes R. Becher zählte sich gern zur Elite in Parteifesseln / Von Sabine Brandt

Am 11. Oktober wird sich zum einundvierzigsten Mal der Todestag von Johannes R. Becher jähren. Ein rundes Datum ist das nicht. Wäre es eins, würde dann jemand seiner gedenken? Die meisten seiner Generationsgefährten sind selbst nicht mehr am Leben. Die Nachgeborenen wissen bestenfalls, dass es in der DDR einen Kulturminister Becher gab, der Gedichte verfasste, darunter 1949 den Text der Staatshymne. Doch ist dieser Text, der seit den siebziger Jahren nicht mehr gesungen werden durfte, ihnen fremd, so wie wahrscheinlich sein Autor und dessen übriges Werk.

Wir wollen nicht gleich das Orwell'sche Gedächnisloch bemühen. Nur ist, seit Becher um einen Platz in deutscher Literatur rang, viel geschehen, und im Schatten der Ereignisse verdämmerte manches Bild, auch seins. Um so mehr verblüfft die Begegnung mit einem Buch, das sich der Becherschen Lebens- und Werkgeschichte in schwelgerischer Ausführlichkeit annimmt. Erschienen ist der Wälzer im Aufbau-Verlag, einst führendes belletristisches Unternehmen der DDR, Sproß aus dem Schoß des Kulturbundes, den Becher 1945 gründete. Der verblichene Dichter ist also gewissermaßen zurückgekehrt in das Etablissement, das zu seinen Lebzeiten als "Bechers Verlag" galt und von dessen Flurwänden seine Porträtfotos grüßten.

Schwer zu sagen, ob solche Rückkehr ihn gefreut hätte. Die kapitalistischen Voraussetzungen, unter denen der Verlag heute existiert, müssten ihm eigentlich zuwider sein. Andererseits war er ein geltungsbedürftiger Mensch, und rund achthundert Seiten kritische Würdigung sind eine schöne Morgengabe für eine eitle Seele. Ins Gewicht fällt auch, dass der Buchautor Jens-Fietje Dwars einem der Jahrgänge entstammt, in denen Becher sonst kaum noch Wirkung erzielt. Dwars wurde 1960 geboren, zwei Jahre nach Bechers Tod. Er wuchs in einer DDR auf, die den Dichter längst ins virtuelle Mausoleum weggeschlossen hatte, so wie die Sowjetunion ihren Lenin ins echte: gut für politische Feierstunden, doch unbrauchbar für reale Politik auf den Gebieten Kultur und deutsches Vaterland, die dem lebenden Becher am Herzen lag.

Wodurch der Verstorbene den jungen Mann so sehr faszinierte, geht aus dessen Buch nicht hervor. Immerhin erlaubt die Arbeit ein paar Schlussfolgerungen. Dwars ist ein solide gebildeter Gelehrter, der an drei Hochschulen Philosophie studierte, über Ludwig Feuerbach promovierte, später im Aufbau-Verlag einschlägige Literatur herausgab. Ihm bot sich also reichlich Gelegenheit, auch Becher zu begegnen. Zudem ist er erkennbar an Geschichte interessiert, vornehmlich der deutschen, von der ein gerüttelt Maß auch auf sein Leben nachhaltig eingewirkt hat. So fern lag es nicht für ihn, bei Zeugen der Vergangenheit nach den Einflüssen zu forschen, von denen die eigene Gegenwart geformt wurde. Becher ist ein solcher Zeuge,

Dwars taucht tief in die Kindheit des 1891 geborenen Becher. Wer mal an dessen Lyrik und Prosa geschnuppert hat, weiß, worum es da geht: um das epochentypische Leiden des Bürgersohnes am Bürgervater. Der aus Disziplin gefühlskalte Landgerichtsdirektor Becher muss in der Tat unerfreulich gewesen sein. Dem erwachsenen Sohn freilich müsste man entgegenhalten, dass irgendwann der Mensch seine Schwächen nicht ad infinitum den Eltern anrechnen darf. Genau das aber tat Johannes R. Becher sein Leben lang, in Wort und in Tat, im Privaten und in der Politik. In ganzer Ausführlichkeit erleben wir Bechers frühe Wirrnisse: den Doppelselbstmord per Pistole, den die sechsundzwanzigjährige Geliebte Fanny Fuß nicht, der achtzehnjährige Schütze schwer verletzt überlebte, die Morphiumräusche, die bürgerfeindlichen Ausbrüche in die Boheme samt ihrem wilden lyrischen Echo. Dwars lässt ahnen, dass alle diese Entgleisungen Hilferufe waren. Sosehr er auch bramarbasierte, Becher gehörte nicht zu den Starken, die ihre Mitte in sich selber finden. Was Wunder, dass er seinerseits zu wirklicher Liebe kaum fähig war und den eigenen Sohn ebenso zurückwies, wie sein Vater ihn zurückgewiesen hatte.

So mitleidlos nüchtern freilich drückt Dwars das nicht aus. Doch bietet sein Buch genug Material, um dieses Urteil zu provozieren. Das zwingende Indiz für Bechers Persönlichkeitsschwäche ist sein Kotau vor der Kommunistischen Partei; in ihren Reihen würde er, als Person wie als Dichter, das Gewicht erlangen, das ihm zukam. Man braucht sich nicht speziell in Bechers Geschichte auszukennen, um zu wissen, wie derlei endet: Der Hasser tradierter Zwänge unterwirft sich dem neuen Zwang zur Parteidisziplin, woraufhin er an Selbstbewusstsein, seine Dichtung an Niveau verliert. Dwars, der alle, auch die unscheinbarsten Äußerungen Bechers sorgfältig wertet, liefert die Beweise. Und weil er nicht nur Becher abbildet, sondern so ziemlich den ganzen Flor schreibender Linker zu Bechers Zeit, fertigt er schließlich ein Kolossalgemälde dichtender Elite in Parteifesseln. Seine Protagonisten bringen es nicht oder nur halbherzig über sich, vom einmal gewählten Weg abzuweichen. Vielleicht hatte, wie bei Becher, die frühere antiautoritäre Revolution sie erschöpft. Oder sie vertrauten geschlossenen Auges darauf, den Teufel mit Beelzebub austreiben zu können.

Auch das sagt Dwars seinem Leser nicht expressis verbis. Er porträtiert seinen Becher und dessen Gefährten in ihren tiefsten Niederungen. Im Moskauer Exil hatten sie brüderlichen Schutz vor dem Verfolger Hitler gesucht, sie fanden Angst und Demütigung. 1936, im Auftakt der Stalin'schen Säuberungen, gehorchten die emigrierten Schöngeister unter Aufsicht sowjetischer Kontrolleure dem Zwang, einander übel zu verdächtigen. Später, in der sowjetisch besetzten Zone Nachkriegsdeutschlands, erwies sich, dass ein Genosse der Sieger nicht automatisch selbst ein Sieger ist. Der kulturtaube Machtpolitiker Ulbricht ließ Becher nach Maßgabe tagesgebundener Nützlichkeit gewähren, wenn die nicht gegeben war, stellte er ihn kalt. Als Kulturminister war Becher eigentlich nur ein kommunistischer Frühstücksdirektor, die von der SED jeweils verordnete Kulturpolitik managten strammere Funktionäre.

1954, als der Minister ernannt wurde, gab es deutliche Anzeichen für den politischen Wandel, der sieben Jahre später im Bau der Mauer kulminierte. Die Streichung seiner Texthymne an "Deutschland, einig Vaterland" hat er nicht mehr erlebt, aber vorausgespürt. Dwars fühlt mit seinem Becher, redlich nimmt er des Betrogenen Partei. Aber merkwürdig: Sobald ihm der Westen ins Bild kommt, gerät der Buchautor aus den Fugen und beginnt, die Aktivisten des Kommunismus zu verteidigen. Zum Beispiel gegen die Repräsentanten der Bundesrepublik, die er sämtlich zu blindwütig kalten Kriegern stempelt. Churchill und Truman sind ihm rücksichtslose Imperialisten, die den zwar schlimmen, aber doch friedfertigen Stalin kriegsträchtig über den Tisch ziehen wollten. Den Organisatoren der Luftbrücke wirft er Mißachtung der Sowjetsoldaten vor, die im Kampf um Berlin fielen, und widerspricht der "bewußten Zwecklüge", Stalin habe die Westberliner aushungern wollen.

Da Dwars sich nicht auf Literatur und Kulturpolitik beschränkt, sondern ein riesiges Panorama deutscher und europäischer Geschichte der ersten Jahrhunderthälfte entwickelt, sind seine Quellen von Wichtigkeit. Der Buchnutzer sollte sie im Zweifelsfall überprüfen. Zum Beispiel ist da die Rede von Falk Harnacks Film "Das Beil von Wandsbek" nach dem Roman von Arnold Zweig. Laut Dwars hätten "anonyme Kritiker" gerügt, der Streifen wecke Mitleid für den nazistischen Amateur-Henker, seine Hauptfigur, anstatt für dessen kommunistische Opfer. Daraufhin sei der Film "eingezogen" worden. Brecht und Becher aber hätten sich für Zweig/Harnacks Werk stark gemacht und seien seiner Missdeutung entgegengetreten. Die Wahrheit ist, dass der Film 1952 in geschlossener Veranstaltung einer Versammlung kulturpolitischer Großfunktionäre sowie einer Handvoll Journalisten - darunter auch ich - vorgeführt wurde. Am Ende erhob sich Alexander Abusch, damals belastet von der Affäre Paul Merker, einer DDR-Variante der ostblockweiten Säuberungskabale um den "amerikanischen Agenten" Noel Field. Abusch polierte an seinem Partei-Renommee, indem er über Zweig herfiel und den von Dwars notierten Mitleidsvorwurf gegen ihn schleuderte. Danach stand Becher auf und stimmte Abusch zu. Zuletzt, schon vor den Türen des Vorführraums, trat Brecht zur Gruppe um Zweig und Becher, polterte: "Also, Zweig, Sie müssen doch einsehen . . .", und wiederholte die abgewetzte Beschuldigung. Der Film wurde verboten, die Auflage des Romans, erschienen in Bechers Aufbau-Verlag, stark gedrosselt.

Zweig, der zunächst protestiert hatte, unterwarf sich. Kein Ruhmesblatt für ihn, aber auch Kollege Becher erschien nicht eben als Held. Beider Hals presste der gleiche Knebel: Wo sonst als in der kommunistischen DDR bot sich ihnen so viel Bühne für ihren Geltungsdrang? Autor Dwars, der bei aller Reserve seinen Dichter doch verehrt, hat ihn niemals im Glanze selbststilisierter Wichtigkeit erlebt: Becher, Bewohner eines stacheldrahtbewehrten Areals, von dem sowjetische Wachposten böse Feinde und gewöhnliche Bürger fernhalten; Herr einer Villa, in der altdeutsche Schnitzmöbel patrizierhaft prunken; zu dem im Schnitzsessel Thronenden schreiten zwei riesige Doggen, ein Hundekopf legt sich aufs rechte, einer aufs linke Knie, auf jedem Doggenschädel ruht majestätisch eine Dichterhand - der Olympier empfängt irdische Besucher.

Wer auf dergleichen Posen angewiesen ist, der hat es schwer, sich von Vätern oder politischen Diktatoren zu befreien. Und so hehr des Dichters nationale, demokratische, kulturelle Zukunftsentwürfe anmuten, das deutsche Volk ist besser dran ohne sie, auch ohne ihren Möchtegern-Realisator. Es wäre, wenn auch nicht von Becher, sicherlich aber mit Becher, brutal unter den roten Teppich gekehrt worden.

Jens-Fietje Dwars: "Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher." Aufbau-Verlag, Berlin 1998. 860 S., geb., 98,- DM.

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