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  • Buch mit Leinen-Einband

Produktdetails
  • Verlag: Murmann Publishers
  • Seitenzahl: 400
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 658g
  • ISBN-13: 9783980335232
  • ISBN-10: 3980335232
  • Artikelnr.: 24413164
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.1998

Als die Zinsfüße noch Sporen trugen
Das Mittelalter suchte nach Abenteuern und entdeckte den Kapitalismus: Michael Nerlich verwischt die Grenzen zwischen den Epochen

Michael Nerlich hat eine kräftige These: Die Mentalität der Gegenwart fuße auf den Errungenschaften des Hochmittelalters. Zu ihnen zähle vor allem die menschliche Bereitschaft zu risikobewußtem Handeln und ein entsprechendes Weltbild, dem der Zufall als Hauptmerkmal eingezeichnet ist. In Kunst, Philosophie und Ökonomie habe bereits die "mittelalterliche Aufklärung" den Begriff der Vorsehung beiseite geschoben, um der Kontingenz des menschlichen Schicksals rational und systematisch zu begegnen. Die Rezeption des Aristoteles lockert das Denken, der Seehandel entfaltet sich, man wendet sich der Natur als solcher zu, die wissenschaftliche Entdeckungsfreude wird gestärkt. Der europäische Mensch beginnt zu reisen, Markt und Messe zu besuchen, die eigene Lebensführung in die Hand zu nehmen. Innovation, Neugier, Novelle - Nerlich sieht die Zeit des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts von einem "Experimental-Rausch" erfaßt.

Belege hierfür sammelt der Autor auf verschiedenen Feldern, vor allem solchen der Technik- und Wirtschaftsgeschichte. Sein Kronzeuge jedoch ist Chrétien de Troyes. Dessen Epos "Yvain" von 1177 singt das Lob der Ritterschaft, als diese soziale Gruppe gerade an Macht einzubüßen beginnt. Die literarische Rechtfertigung des Ritters generalisiert seinen Habitus. Sie zeigt ihn unruhig, auf steter Suche nach Überraschungen, aufbruchsbereit und weltoffen. Nerlich erblickt in ihm das moderne Individuum. Dabei identifiziere sich der Epiker mit seinen Helden. Frau Aventüre werde zur Muse des modernen Künstlers, sein Werk zu einem Entdeckungsfeld und Hindernisparcours. Nicht erst im neunzehnten Jahrhundert sei das Erzählen von Abenteuern durch das Abenteuer des Erzählens überformt worden.

Nerlich beschreibt das Mittelalter als Entstehungsperiode des modernen Kapitalismus. Schon wortgeschichtlich leite sich "aventure" aus dem vertragsrechtlichen Vokabular ab - es stehe für zufallenden Besitz. In Chrétiens Verserzählung "Guillaume d'Angleterre" - für Nerlich der Schlüsseltext der europäischen Moderne schlechthin - fusioniert der Held im Zeichen des Abenteuers mit dem Händler. Der fromme König macht Karriere als Kaufmann. Maritime Expeditionen und "Joint-adventures" würden dadurch geadelt. Daß im Epos erworbener Status an die Stelle des ererbten tritt, liest Nerlich als Beleg für die mittelalterliche Möglichkeit, ein Leben diesseits von Familien- und Ständeordnung zu führen. Am Horizont des zwölften Jahrhunderts zeichne sich bereits die Koalition von absoluter Monarchie und Merkantilbürgertum ab. Nerlich ist so hingerissen von seinem Hauptbeleg, daß dieser ihm zur Vorverlegung der "kommerziellen Revolution" um zweihundert Jahre genügt.

Gerne würde man mit dem Autor über diese und alle anderen Erträge mediävistischen Überschwangs verhandeln. Etwa darüber, ob Chrétiens Schilderung des unerhörten Vorgangs eines Ständewechsels vom Regenten zum Wirtschaftsbürger wirklich die Normalerwartung standesgemäßen Verhaltens außer Kraft setzt. Hält sie sie nicht vielmehr fest, um sie erzählerisch zu nutzen? Man könnte fragen, ob die moderne Wissenschaft wirklich durch die mittelalterliche Praxis des "Messens und Klassifizierens" vorweggenommen wird - zeichnet sie sich nicht gerade durch einen Bruch mit klassifizierender Ordnungssuche aus? Überlegen ließe sich, ob die moderne Geldwirtschaft nicht mehr voraussetzt als spekulativen Fernhandel und Kreditwesen - zum Beispiel die ökonomische Durchdringung der Binnenwirtschaft durch Zentralbank, Industrie und Lohnvertrag. Schließlich müßte auch die Behauptung, in den Ritterepen werde die Ästhetik Mallarmés vorweggenommen, auf ihren Begriff poetischer Konstruktion geprüft werden. Nerlich, so bündeln sich alle diese Zweifel, behauptet ein modernes Mittelalter, aber vermittelalterlicht vielleicht bloß die Moderne.

Wie dem auch sei: Ein historisch-soziologischer Epochenvergleich könnte sich durch die Provokationen des Autors durchaus anregen lassen. Leider füllen sie aber nur die Hälfte des Buches. Den Rest verwendet Nerlich darauf, dem Leser jegliche Lust auf die Prüfung seiner Positionen zu nehmen. Von den Rittern hat er nämlich auch seine intellektuellen Manieren: Sein Auftreten darf, vorsichtig gesagt, großspurig genannt werden. Was ihm an Gegenmeinung in den Weg kommt, wird ohne viel Federlesens weggeprügelt. Andere Autoren unterscheidet er in zwei Gruppen. Solche, die ihn zitieren und denen deshalb nur noch nachzuweisen ist, daß sie trotzdem nicht ganz richtig liegen. Und solche, die von Risiko und Kontingenz, Epochendifferenzen und europäischer Kultur so gut wie gar nichts verstanden haben, darunter Curtius, Giddens, Habermas, Huntington, Koselleck, Luhmann, Weber. Hier werden keine Gefangenen gemacht. Zwei, drei Seiten voller Hiebe genügen, und die intellektuelle Rotte schwimmt widerlegt in ihrem Blute.

Da Nerlichs Behauptungen und Belege - es sei noch einmal ausdrücklich betont - bedenkenswert und anregend sind, muß der Text auf Leser hoffen, die gegen solche Rede vom hohen Roß herab gleichmütig bleiben. Wenn das Buch in einer Kritik des Transrapid ("kein Abenteuer, sondern ein Hasardspiel"!) und einem Plädoyer für den Ausbau des binneneuropäischen Eisenbahnnetzes kulminiert, wollen wir uns deshalb weder wundern noch widersprechen, sondern nur die inständige Bitte nach künftiger Erneuerung jenes binnenländischen Lektorennetzes anschließen, das sich einstmals noch in der Lage sah, die Thesen der Bücher vor dem Selbstdarstellungsdrang ihrer Autoren zu schützen. JÜRGEN KAUBE

Michael Nerlich: "Abenteuer oder das verlorene Selbstverständnis der Moderne". Von der Unaufhebbarkeit experimentalen Handelns. Gerling Akademie Verlag, München 1997. 400 S., geb., 58,- DM.

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