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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2011

Auf dem Mittelweg der Vernunft
Hellsichtige politische Theologie: Der erste Band einer Werkausgabe des jüdischen Aufklärers Saul Ascher

Heinrich Heine ließ den strengen Kantianer Saul Ascher als "personifizierte grade Linie" auftreten: "mit seinen abstrakten Beinen, mit seinem engen, transzendentalgrauen Leibrock, und mit seinem schroffen, frierend kalten Gesichte" habe er auf ihn wie das Titelporträt zu einem Geometrielehrbuch gewirkt. Mehr noch, Ascher erscheint Heine sogar auf der "Harzreise" im Traum als ein Gespenst, das die Nichtexistenz von Gespenstern mit Kant vernünftig beweist. Jetzt kehrt dieser Saul Ascher (1767 bis 1822) in einer neuen Ausgabe wieder, nicht als Gespenst, sondern als erstaunlich weit in die Zukunft blickender kosmopolitischer Interpret eines nur schwer zu befriedenden Deutschlands.

Eröffnet wird die neue Werkausgabe mit vier Bänden theoretischer Schriften zur Religionsphilosophie und Politik, von denen jetzt der erste vorliegt. Bereits 1991 erschienen im Berliner Aufbau-Verlag vier Aufsätze Aschers als "Flugschriften" in einer Kassette zusammen mit Friedrich Jahns "Deutsches Volkstum" (1810) und Peter Hacks' "Ascher gegen Jahn". André Thiele, Herausgeber und Verleger der neuen Ausgabe, wählte jetzt den gleichen Titel für den ersten Band. Er enthält neben den vor zwanzig Jahren wiederaufgelegten vier Aufsätzen "Eisenmenger der Zweite", "Napoleon", "Germanomanie" und "Wartburgsfeier" noch drei weitere Texte über Pressefreiheit, Geistesaristokratismus und Europa. Thiele bedauert die geringe Bekanntheit Aschers, bezeichnet die Werkausgabe aber als ungeeigneten Ort, seinen Autor vorzustellen.

Das ist eine forsche These, zumal erst kürzlich eine Textauswahl mit einer stattlichen Einleitung von Renate Best im Böhlau Verlag herauskam. Es lohnt sich unbedingt, erneut für Ascher zu werben. Die Frage: "Wer war Saul Ascher?", mit der Christoph Schulte in seinem Buch "Die jüdische Aufklärung" diesen Reformjuden wieder ins Licht rückte, stellt sich geradezu drängend angesichts der neuen Ausgabe. Denn Ascher vertritt eine politische Theologie, die höchst aktuell wirkt.

Aschers Jugendwerk "Leviathan oder Ueber Religion in Rücksicht des Judenthums" (1792), das in der Werkausgabe bald folgen wird, begründet das moderne Reformjudentum. Die vorgeschlagene "Reformation" zielt auf eine Modernisierung der rabbinischen Tradition, auf einen Mittelweg zwischen assimilierender religiöser Selbstaufgabe und sozialer Ghettoisierung durch Verharren in Orthodoxie.

Ascher wünscht sich die Emanzipation und Anerkennung: Religion ist für ihn keine Wahrheitsfrage, sondern private Glaubenssache, die nicht in Streit mit der Vernunftautonomie geraten darf. So ergänzt er beispielsweise 1788 Christian Wilhelm von Dohms Schrift "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" (1781) um das Argument, dass Juden nur bei voller bürgerlicher Anerkennung Militärdienst leisten sollten. Mit solchen Thesen sucht der Jakobiner Ascher die Konfrontation zur politischen Romantik, die nicht nur in der "Christlich-deutschen Tischgesellschaft" einen stark antisemitisch geprägten Nationalismus freisetzte.

Dieser inzwischen intensiv erforschte Nationalismus, geboren aus Franzosenhass und Identitätssuche, bildet den Hintergrund zu den "Flugschriften". Ascher setzt die Idee der Menschheit über die Existenz einzelner Völker und verwahrt sich gegen jede Form des Ausschlusses, auch jenen der deutschen Juden aus der deutschen Gesellschaft.

In "Eisenmenger der Zweite" (1794) greift er entsprechend harsch Fichte an, der den alten Antisemitismus eines Johann Andreas Eisenmenger durch eine nicht minder perfide Judenfeindschaft wiederbelebt habe. Nach zwanzig Jahren hat sich Aschers Perspektive noch deutlich erweitert. In dem Essay "Die Germanomanie" (1815), dem vielleicht wichtigsten Beitrag des Bandes, befasst sich Ascher mit dem "Kreuzzuge gegen alles Undeutsche oder Ausländische", der von Ernst Moritz Arndt, Friedrich Ludwig Jahn und Adam Müller angeführt wurde. Angefeuert von Hans Ferdinand Maßmann, verbrannten wütende Studenten Aschers Schrift auf dem Wartburgfest 1817.

Niemand konnte da ahnen, dass Aschers Absage an "einen Urstaat, ein Urvolk und eine Ursprache" in Deutschland noch einmal ein dringendes Gebot werden sollte. Bei all seiner gezielten Kritik blieb Ascher zuletzt doch optimistisch: "Wir sind, dem Himmel sei Dank! so weit gekommen, daß wir die Menschen nicht in Stämme und Rassen einteilen und von der Verschiedenheit des Bodens auf eine Verschiedenheit in der menschlichen Gattung folgern." Die Geschichte widerlegte diese Hoffnung. Heinrich Heine hätte der europäische Reformer Ascher eigentlich gefallen müssen, nur seine Abneigung gegen den "packpapiernen" Kant hat ihn wohl zu seiner Karikatur verleitet.

ALEXANDER KOSENINA.

Saul Ascher: "Flugschriften".

Hrsg. von André Thiele. Verlag André Thiele, Mainz 2011. 352 S., geb., 29,90 [Euro].

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