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Am 19. September 1919 - etwa drei Monate nach dem Doktorexamen - schrieb Benjamin an seinen Freund Ernst Schoen: »An das Thema: Briefwechsel, ließen sich verschiedene Digressionen anschließen. Erstens darüber, wie sehr diese unterschätzt werden, weil sie auf den völlig schiefen Begriff des Werkes und der Autorschaft bezogen werden, während sie dem Bezirk des 'Zeugnisses' angehören, dessen Beziehung auf ein Subjekt so bedeutungslos ist, wie die Beziehung irgendeines pragmatisch-historischen Zeugnisses (Inschrift) auf die Person seines Urhebers. Die 'Zeugnisse' gehören zur Geschichte des…mehr

Produktbeschreibung
Am 19. September 1919 - etwa drei Monate nach dem Doktorexamen - schrieb Benjamin an seinen Freund Ernst Schoen: »An das Thema: Briefwechsel, ließen sich verschiedene Digressionen anschließen. Erstens darüber, wie sehr diese unterschätzt werden, weil sie auf den völlig schiefen Begriff des Werkes und der Autorschaft bezogen werden, während sie dem Bezirk des 'Zeugnisses' angehören, dessen Beziehung auf ein Subjekt so bedeutungslos ist, wie die Beziehung irgendeines pragmatisch-historischen Zeugnisses (Inschrift) auf die Person seines Urhebers. Die 'Zeugnisse' gehören zur Geschichte des 'Fortlebens' eines Menschen und eben, wie in das Leben das Fortleben mit seiner eignen Geschichte hineinragt, läßt sich am Briefwechsel studieren. Für die Nachkommenden verdichtet sich der Briefwechsel eigentümlich (während 'der einzelne' Brief mit Beziehung auf seinen Urheber an Leben einbüßen kann): die Briefe, wie man sie hintereinander in den kürzesten Abständen liest, verändern sich objektiv, aus ihrem eignen Leben. Sie leben in einem andern Rhythmus als zur Zeit da die Empfänger lebten, und auch sonst verändern sie sich.« Wenn auch der unmittelbare Anlaß dieser Überlegung Benjamins Lektüre der beiden Briefwechsel Goethes mit dem Grafen Reinhard und mit Knebel war, so läßt sich doch in ihr ein für den Briefschreiber Benjamin programmatischer Charakter erkennnen.
Autorenporträt
Benjamin, WalterWalter Benjamin wurde am 15. Juli 1892 als erstes von drei Kindern in Berlin geboren und nahm sich am 26. September 1940 in Portbou/Spanien das Leben. Benjamins Familie gehörte dem assimilierten Judentum an. Nach dem Abitur 1912 studierte er Philosophie, deutsche Literatur und Psychologie in Freiburg im Breisgau, München und Berlin. 1915 lernte er den fünf Jahre jüngeren Mathematikstudenten Gershom Scholem kennen, mit dem er zeit seines Lebens befreundet blieb. 1917 heiratete Benjamin Dora Kellner und wurde Vater eines Sohnes, Stefan Rafael (1918 -1972). Die Ehe hielt 13 Jahre. Noch im Jahr der Eheschließung wechselte Benjamin nach Bern, wo er zwei Jahre später mit der Arbeit Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik bei Richard Herbertz promovierte. 1923/24 lernte er in Frankfurt am Main Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer kennen. Der Versuch, sich mit der Arbeit Ursprung des deutschen Trauerspiels an der Frankfurter Universität zu habilitieren, s

cheiterte. Benjamin wurde nahegelegt, sein Gesuch zurückzuziehen, was er 1925 auch tat. Sein Interesse für den Kommunismus führte Benjamin für mehrere Monate nach Moskau. Zu Beginn der 1930er Jahre verfolgte Benjamin gemeinsam mit Bertolt Brecht publizistische Pläne und arbeitete für den Rundfunk. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten zwang Benjamin, im September 1933 ins Exil zu gehen. Im französischen Nevers wurde Benjamin 1939 für drei Monate mit anderen deutschen Flüchtlingen in einem Sammellager interniert. Im September 1940 unternahm er den vergeblichen Versuch, über die Grenze nach Spanien zu gelangen. Um seiner bevorstehenden Auslieferung an Deutschland zu entgehen, nahm er sich das Leben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.1999

Die Schauprozesse nahmen den Sowjets die Aura
Es sterbe die Weltrevolution: Im Exil verlor Walter Benjamin die Lust am Geheimplanschmieden / Von Lorenz Jäger

Am 2. Januar 1935 schreibt Benjamin an Max Horkheimer von seinen Arbeitsvorhaben - dem Essay über Eduard Fuchs, den das Institut für Sozialforschung in Auftrag gegeben hatte, und seinen Forschungen des vergangenen Jahres, die der Kulturpolitik der alten Sozialdemokratie und ihrer Zeitschrift "Die Neue Zeit" gewidmet waren. Er wünsche, so Benjamin, diese umfangreichen Studien für neue Arbeiten verwerten zu können. "Nun sehe ich nicht, dass das ohne eine Besprechung zwischen uns geschehen könnte. Als ich die ,Neue Zeit' in Angriff nahm, hoffte ich noch, sie sei bevorstehend. Ihr Brief spricht nun leider nicht mehr von einer Europareise." In dem Brief an Gershom Scholem, der diesen Band mit dem 31. Dezember 1937 abschließt, heißt es von Benjamins Sohn Stefan: "Wir haben die Hoffnung darauf aufgeben müssen, daß er das Abiturium macht." Zerstörte Hoffnungen sind das Leitmotiv dieser Jahre. Sie beginnen ihre zersetzende Wirkung auszuüben: "In der sehr schlechten Lage, in der ich bin", schreibt er an seine frühere Geliebte Asja Lacis, "macht es den Leuten Spaß, billige Hoffnungen in mir zu wecken. Man wird daher gegen Hoffnungen so empfindlich wie ein Rheumatiker gegen Zugluft. Es ist sehr angenehm einen Menschen zu wissen, der unter solchen Umständen keine Hoffnungen macht und wäre es auch nur weil er zu faul zum Briefeschreiben ist."

Selbst für einen Mann, der nicht, wie Benjamin, zeitlebens mit dem Gedanken an Selbstmord vertraut war, hätten die Lebensumstände im höchsten Maß demotivierend wirken müssen: Monate verbringt er in der Pension "Villa Verde" seiner geschiedenen Frau Dora in San Remo, bis die anreisende Ex-Schwiegermutter den Platz in Anspruch nimmt. Finanzielle Engpässe fordern dauernd Bittbriefe.

Die wichtigsten Pläne des Frühjahrs 1935 - ein Porträt Bachofens in der "Nouvelle Revue Française", eine große Rezension von Brechts "Dreigroschenroman" in Klaus Manns Exil-Zeitschrift "Die Sammlung" - zerschlagen sich. Rezensionen für die Moskauer Zeitschrift "Das Wort" werden spät oder gar nicht honoriert. "Die Hoffnung auf Besserung ist hinausgerückt; was aber nicht auf sich warten läßt, ist die Teuerung", heißt es in einem Brief an den Theologen Fritz Lieb. 1935 spielt Benjamin mit dem Gedanken an eine "Liste der Fehler und Fehlschläge der letzten beiden Jahre" und fügt in seinem Brief an Alfred Cohn hinzu: "Es hat sich der schwache Trost ergeben, dass die erstern durchaus nicht immer die Bedingung der letztern waren." Wer in diesem Band liest, mag sich an einen esoterischen Satz Benjamins aus der mehr als zwanzig Jahre zurückliegenden "Metaphysik der Jugend" erinnern: "Drohender noch erhob hinter der Alltäglichkeit sich der Tod. Jetzt erscheint er noch im Kleinen und tötet täglich, um weiter leben zu lassen." Eine Hermetik, die angesichts dieser Briefe zum puren Realismus wird.

Dazu kommt die weltpolitische Lage, die zur Demoralisierung der Linken beiträgt. Langsam beginnt sich abzuzeichnen, dass die kommunistische Option ein Fehler gewesen sein könnte. André Gide - ein von Benjamin hochgeschätzter Autor - wendet sich nach einer Reise in die Sowjetunion von der sozialistischen Utopie ab. Zwar erwägt Benjamin 1935 noch eine Zukunft in der Sowjetunion, wie sein Cousin, der Röntgenologe Egon Wissing. Wissing allerdings brach schon Ende 1935 seinen Aufenthalt in Moskau ab und beklagte die zunehmende Unfreiheit. Die Schauprozesse des Jahres 1937 machen Benjamin ratlos: "Die zerstörende Wirkung der russischen Ereignisse wird notwendig immer weiter um sich greifen", heißt es in einem Brief an Lieb: "Und dabei ist das Schlimme nicht die schnellfertige Entrüstung der unentwegten Kämpfer für die ,Gedankenfreiheit'; viel trauriger und viel notwendiger zugleich scheint mir das Verstummen der Denkenden, die sich, eben als Denkende, schwerlich für Wissende halten können. Das ist mein Fall, wohl auch der Deine." An Adorno meldet er, die "orthodoxe Intelligenz" sei angesichts der Prozesse "gelähmt", die freie neige unbewusst zum Faschismus.

Das Klima des Verdachts, das sich in der Linken auszubreiten beginnt, lässt auch Benjamin nicht unbeeinflusst. Er liest in jenen Jahren fast ausschließlich Kriminalromane und entdeckt Georges Simenon. Hinter der vollendeten Höflichkeit seiner Briefe mag eine zunehmend skeptische bis misstrauische Haltung der Umwelt gegenüber stecken. Alles, was zwischen Menschen geschieht, wird auf Verdacht und Gefahr umgestellt. Schon 1934 hatte Benjamin vier Geschichten publiziert, die die Möglichkeiten der Verstellung und der Lüge geradezu systematisch entwickelten. Aber seine Position zu den russischen Vorgängen bleibt zweideutig; während sich seine Umgebung polarisiert, ist er zu einer begründeten Stellungnahme nicht mehr fähig. Gelegentlich hat man den Eindruck, dass sie vom Briefpartner abhing. Nachdem er Ernst Blochs Rechtfertigung des stalinistischen Terrors gelesen hat, berichtet er, dass "eben der Aufsatz, der mich in die Folge eingeführt hat, auch andern einen sehr nachhaltigen Eindruck machte, nicht zum wenigsten der neuen Blickrichtung wegen, die er enthält". Zwei Jahre später kam er im Gespräch mit dem KP-Renegaten Heinrich Blücher zu dem Ergebnis, Faschismus und Stalinismus seien zumindest in ihren "schlechtesten Elementen" verwandt.

Entmutigend ist schließlich auch das, was er vom literarisch-politischen Lebens Frankreichs erfährt und in regelmäßigen Briefen Max Horkheimer mitzuteilen beginnt. Die Diagnose lautet, für die letzten Vorkriegsjahre nicht überraschend, auf "Defaitismus". Nach der Enttäuschung, die die Linke erfahren hat, bleiben nur mehr "schwankende Erscheinungen" wie Cocteau und Denis de Rougemont, selbst in der Psychoanalyse sieht Benjamin nun den "Obskurantismus" einkehren.

Allerdings: Bei Horkheimer, der sich inzwischen in den Vereinigten Staaten niedergelassen hatte, war der Abschied von den Illusionen der Vergangenheit bestimmter ausgesprochen. Sein Essay "Egoismus und Freiheitsbewegung" von 1936 trennte den gedanklichen Zusammenhang von Freiheit und Revolution, den Ur-Irrtum der Linken, mit beeindruckender Konsequenz wieder auf. Horkheimer entwickelte hier, noch vor dem Beginn der Moskauer Schauprozesse, ein Panorama der europäischen Revolutionen, die im Tugend-Terror gipfeln und in der Schreckensherrschaft der französischen Revolution ihr vorläufiges Ziel finden. Der Essay markierte einen Scheideweg der Emigration. Möglich geworden war er aus dem Abstand, den der amerikanische Standort zu den Ideologien bot.

Benjamin quittierte ihn mit höflich-anerkennenden Worten, ging aber einen deutlich anderen Weg: Als 1939 der Krieg vor der Tür stand, setzte er Horkheimers Abschied vom Jakobinismus die Apotehose der Jakobiner als "chefs authentiques", authentischen Führern der Volksbewegung entgegen - und gegen die Demoralisierung beschwor er die geistige Wehrkraft der Republik im Bild des "Mars français". Zu den bedrückenden Schlussfolgerungen, die nach der Lektüre dieser Briefe bleiben, gehört es, dass man in Benjamin nicht mehr ausschließlich das Opfer der Demoralisierung erkennt. Die Verhältnisse ließen das Verhalten nicht unbeeinflusst.

Als Werner Kraft ihm ein Konvolut von Prosaminiaturen sendet, zeigt sich Benjamin angetan. Und tatsächlich: Die kleine Sammlung mit dem harmlos klingenden Titel "Am stillen Herd" enthält eine Moralistik der Emigration von höchstem Rang. Die Vignetten zu Carl Gustav Jochmann und dem Grafen Schlabrendorf sprachen Benjamin besonders an - so sehr, dass er sie kurz darauf, in einem Akt von extremer Illoyalität, als eigene Entdeckung ausgab, nachdem ihm Kraft mehrere Bände der verschollenen Schriften Jochmanns geliehen hatte. 1939, nachdem die Freundschaft mit Kraft zu Bruch gegangen war, veröffentlichte Benjamin Jochmanns "Rückschritte der Poesie" in der "Zeitschrift für Sozialforschung". Seine Einleitung bediente sich frei aus den Texten Krafts: Bei diesem liest man von Schlabrendorf, er sei ",amtlos Staatsmann, heimatfremd Bürger, begütert arm', wie Varnhagen in lapidarer Kürze sagt" - bei Benjamin heißt es: "Varnhagen, der von Schlabrendorf das taciteisch gefasste Porträt gegeben hat" - und es folgen die eben zitierten Sätze.

Eine eigene Ironie ist es, dass nun gerade Benjamins Essay, der seine Schuld bei Kraft vergessen hatte, sich mit den Bedingungen des Vergessens befasste. Immer schon waren es Unterbrechungen des Bewußtseinsverlaufs, die Benjamin als Theoretiker der Erkenntnis gereizt hatten. Allzulange aber haben solche Techniken der Fragmentierung und der Dissoziation einer entlasteten, postmodernen Literaturtheorie als Spielmaterial gedient. Der Leser dieser Briefe erkennt sie dagegen als philosophischen Ausdruck einer ausweglosen geschichtlichen und persönlichen Lage.

Walter Benjamin: "Gesammelte Briefe". Band V. 1935-1937. Herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 672 S., geb., 98,- DM.

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