zu Bankräubern wurden, um das nationalsozialistische Deutschland zu verlassen. Die Flucht sollte sie bis nach Indien führen, die Liebe zu einer Schallplattenverkäuferin setzte ihr aber in Basel ein vorzeitiges Ende. Historische Faktentreue und Lust am Fabulieren vermengten sich zu einer realistischen Erzählung, die geschickt die Balance zwischen Dokumentation und Fiktion hielt.
Nun hat sich der Dreiundvierzigjährige ganz für das Reale entschieden. "Wahr", wie es der Titel völlig unironisch verheißt, sind die dreizehn Geschichten dieses Bandes allesamt, das bezeugt der ausführliche Anhang, der historische Dokumentationen, akademische Untersuchungen, Zeitungsartikel und Interviews mit Zeitzeugen auflistet. Aus ihnen hat Capus, der selbst Geschichte studiert hat, Material für seine historischen Miniaturen geschöpft, die ein eigenwilliges Panorama der Schweizer Geschichte vom vierzehnten Jahrhundert bis in die Gegenwart entfalten.
Die großen Ereignisse, von denen die offiziellen Geschichtsbücher berichten, spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Im Zentrum stehen vielmehr zumeist unbekannte Personen, deren Spuren Capus in Zeitungsarchiven und alten Chroniken aufgestöbert hat. Es sind seltsame Helden, von denen hier erzählt wird: kauzige Patrioten und glücklose Erfinder sind darunter, mutige Auswanderer, rauflustige Söldner und liebenswerte Betrüger, freundliche Spinner und immer wieder unbeugsame Individualisten, streitbar gegenüber jeder Form der Fremdherrschaft. Zu ihnen gehören die "drei Tellen", die in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts den Schultheißen von Luzern erschießen wollten, und der Uhrmachersohn Louis Chevrolet, der 1910 die berühmte Automarke erfand.
Aus solchem Stoff hat Gottfried Keller vor über hundert Jahren seine "Zürcher Novellen" geschaffen, um seinen Zeitgenossen einen kritischen Spiegel für ihre Biederkeit vorzuhalten. Doch was damals zeitgemäß war, gerät heute schnell in die Nähe des Künstlichen und Manierierten. Capus ist zweifellos ein versierter Stilist, der geschickt die Erzählweise alter Chroniken und Kalender nachahmt: "Das ist die Geschichte des Millionärssohns und Himmelsstürmers Jorge Chavez, der im September 1910 als erster Mensch die Alpen überflog, weil er etwas Wichtiges und Großes vollbringen wollte im Leben." So geht es weiter, von Episode zu Episode, im sicheren Vertrauen auf die Kraft des allmächtigen Erzählers, der gelassen im "großen Buch der Menschheitsgeschichte" blättert und unberührt von allen Strömungen der literarischen Moderne und Postmoderne über das Schicksal seiner Figuren verfügt.
Aus diesem anachronistischen Gestus entsteht ein Hausbuch der schweizerischen Geschichte, das den Patrioten unserer Tage viele Angebote zur Identifikation mit ihren unbeugsamen Vorgängern eröffnen kann. Denn wer möchte nicht gern so charakterfest sein wie der Major Max Waibel, der 1945 unerlaubt mit den Alliierten verhandelte und damit Oberitalien zu einem Waffenstillstand zwei Wochen vor Kriegsende verhalf? Und wer kann jenen Basler Bürgern den Respekt versagen, die im Jahr 1376 die Gefolgsleute des jungen Habsburgers Leopold III. verprügelten?
Capus behält sein behaglich-distanziertes Erzählen auch dort bei, wo er von problematischeren Abschnitten der helvetischen Geschichte erzählt. Selbst der Bericht über den berüchtigten "Italienerkrawall", bei dem Zürcher Arbeiter 1896 tagelang eine regelrechte Hetzjagd auf ihre italienischen Kollegen veranstalteten, wandelt sich bei ihm unterderhand zur historischen Novelle, in der von den sozialen Umbrüchen infolge der beginnenden Industrialisierung kaum noch die Rede ist. Das versöhnliche Ende suggeriert vielmehr eine heitere Kontinuität der Geschichte, wenn es über die Tochter eines zu einer Gefängnisstrafe verurteilten Italieners heißt: "Ihre Nachfahren bewohnen den Großraum Zürich bis auf den heutigen Tag in großer Zahl." Der Verweis auf Kleists Erzählung "Michael Kohlhaas", die mit einer ähnlichen Wendung endet, mag ein hübsches literarisches Vexierspiel sein. Aber auch das macht aus einem geschickten Stimmenimitator und Sammler historischer Kuriosa noch keinen Erzähler, der über das Anekdotische hinaus etwas über die Conditio humana zu sagen hätte.
SABINE DOERING
Alex Capus: "13 wahre Geschichten". Franz Deuticke Verlagsgesellschaft, Wien/Frankfurt am Main 2004. 200 S., geb., 17,90 [Euro].
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