Produktdetails
  • Verlag: Suhrkamp
  • 16.-33. Tsd.
  • Seitenzahl: 500
  • Abmessung: 205mm x 130mm x 35mm
  • Gewicht: 552g
  • ISBN-13: 9783518033302
  • ISBN-10: 3518033301
  • Artikelnr.: 24563846
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2017

Die Woche mit Frau Cresspahl
Zeit und Zeitung berühren sich: Uwe Johnsons "Jahrestage" wiedergelesen

Es gibt nichts Älteres, heißt es, als die Zeitung von gestern. Doch das kommt darauf an. Als der Schriftsteller Uwe Johnson im Sommersemester 1979 Gastdozent für Poetik an der Universität Frankfurt war, erzählte er von seiner Zeit in New York und der Suche nach Material. Während seine Kollegen - Johnson war Angestellter eines Schulbuchverlags - auf einen Schlüsselroman im Verlagswesen hoffen, grast er 1966 und 1967 New York und dessen unmittelbare Umgebung nach etwas ab, wovon er selbst nicht weiß, was es sein kann. "Fast war das vereinbarte Jahr vorüber", als Johnson am 12. April 1967 auf Gesine Cresspahl stößt: "Ob sie wohl in Restaurants in ihrem Mantel sitzt? die Brille im Haar traegt?". In der nächsten Woche habe er sie dienstags in Richtung Sixth Avenue gehen sehen. "Meine Damen und Herren, Sie werden mir vorhalten, sicherlich sei ich der einzige gewesen auf der ganzen 42. Strasse [...] einer Gesine Cresspahl zu begegnen". Doch keine andere aus seinem erzählerischen Kosmos habe dort gehen können und nirgendwo hätte das "Mecklenburger Kind, aufgewachsen eine Stunde Fußweg von der Ostsee" anders wohnen können als am Riverside Drive an der Westküste Manhattans, dort wo Johnson selbst lebte.

Dank der Rockefeller Foundation blieb Johnson noch bis zum August 1968 in New York. Vom 29. Januar an schrieb er an den "Jahrestagen", die (undatiert) am 20. August 1967 an der Küste New Jerseys beginnen und am 20. August 1968 mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei enden. Keine seiner Figuren und ihre Erinnerungen hat der in Vorpommern und Mecklenburg aufgewachsene Schriftsteller damit so genau erkundet wie Gesine Cresspahl - bekannt aus Johnsons 1959 veröffentlichtem Roman "Mutmassungen über Jakob" und der Erzählung "Osterwasser", erschienen 1964.

Die uns heute entfernt erscheinende Gegenwart des Romans wird von Gesine Cresspahls Lektüre der "New York Times" organisiert. Nur vordergründig aber ist Johnson ein Chronist des New York der späten sechziger Jahre, denn Zeit ist auf vielfältigere Weise das Thema der "Jahrestage": als Wechselspiel von Gegenwart und Vergangenheit, als von einem Kalender gerahmtes Erinnern, als Abgleich von Erfahrungen und Nachrichten. Die stammen zwar aus den Jahren 1967/68; das sich zu ihnen in Bezug setzen aber, wie Erinnerung wellengleich in die Gegenwart spült, ist zeitlos oder zumindest teilweise zeitunabhängig. So wie es auch andere Zeit-Romane sind, James Joyce' "Ulysses" mit der auf den 16. Juni 1904 konzentrierten Handlung und Virginia Woolfs "Mrs. Dalloway". Clarissa Dalloways Erinnerungen werden an einem Mittwoch im Juni des Jahres 1923 immer wieder durch Begegnungen und sensorische Wahrnehmungen ausgelöst. Im zuerst "Die Stunden" genannten Buch untersucht Woolf das Verhältnis unterschiedlicher Zeitmodelle. Das regelmäßige Geläut des Big Ben rahmt Dalloways Gedankenstrom, die aus den Angeln gehobene Tür des dritten Satzes setzt Erinnerungen frei, etwa die an ihre Jugendliebe Sally Seton. Aber es kann, wie im Fall des "Kriegszitterers" Septimus Warren Smith, ebenso die Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs vergegenwärtigen, mit katastrophalen Folgen.

Ähnlich kann man die "Jahrestage" lesen: als Untersuchungsanordnung unterschiedlich erlebter Zeiten, als Versuch, eine Biographie zu organisieren. Dazu passt die zweite Funktion der Zeitungslektüre. Für Gesine Cresspahl, das erfahren die Leser bereits am 22. August 1967, ist die Zeitung Partnerin eines stillen Zwiegesprächs, ein bereits geschriebenes Tagebuch. So wie andere eines schreiben, liest sie das "Grey Old Lady" genannte Blatt "wie ein Gespräch mit jemand, dem sie zuhört und antwortet mit der Höflichkeit" und jener Skepsis, die man sonst einer "ausgedachten, nicht verwandten" Tante zuteilwerden lässt. Cresspahl selbst wird zur Chronistin Jerichows, ihrer Heimatstadt, indem sie ihrer Tochter von den Ereignissen in ihrer Heimat berichtet und sie zum Teil als Tondokumente festhält. Der Erzähler aber thematisiert sich als derjenige, der Gesine und ihre Tochter Marie ein Jahr lang beobachten darf und so die "Jahrestage" festhält.

Wer sie heute liest, findet sich unwillkürlich aufgefordert, die eigene Gegenwart mit den Tagen jener Jahre zu vergleichen. Johnson muss diese Möglichkeit, sein Buch im selben Rhythmus zu lesen, in dem er es schrieb, vor Augen gestanden haben. Eine tageweise Lektüre zum fünfzigsten Jubiläum der Jahrestage erlaubt, noch nicht alles wissen zu müssen, zu Beginn die vielen Ebenen noch nicht durchschaut zu haben und Johnson beispielsweise am 21. August 1967 noch unterstellen zu dürfen, er setze das Wort "Neger" strategisch ein und übersetzte nicht nur "negroe", weil es eben in der "New York Times" so stand. Es ist das Medium liberaler Weißer, durch das sich Johnson wie Cresspahl Zugang zur amerikanischen Gegenwart zu verschaffen suchen, ihr "sehepunckt" (Chladenius).

Die "sehepunckte" der Leserin heute aber können und sollen variieren. Dessen war Johnson, der sehr souverän über seine erzählerischen Mittel verfügte, gewiss. Er schrieb aus dem Tag heraus, nicht für ihn, und er durfte mit Lesern rechnen, für die das, wovon er erzählte, schon lange vergangen sein würde. Wer heute, nach einem halben Jahrhundert, zu den "Jahrestagen" greift, begegnet trotzdem nicht einer völlig entlegenen Welt. Darum ist ihre Lektüre auch ein Versuch herauszufinden, inwiefern uns nicht fremd ist, was schon so lange zurückliegt und sich durch Zeitung und Tagebuch an seine Zeit gebunden hatte. Schon nach wenigen Einträgen weiß die heutige Leserin: Der Roman legt immer wieder Fährten aus, gibt Hinweise, ohne sie zu Ende zu führen, verlangt detektivische Aufmerksamkeit und ist zugleich ein ästhetischer Genuss durch den Erinnerungsstrom, den er auslöst. Zeit und Zeitung haben sich in keinem Roman der Literaturgeschichte so folgenreich berührt wie in diesem.

BIRTE FÖRSTER.

Die Autorin, Historikerin in Darmstadt, wird sich von heute an in ihrem Blog "Die Woche mit Frau Cresspahl" auf faz.net/jahrestage jeden Samstag auf die Wege der "Jahrestage" Uwe Johnsons begeben.

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