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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.05.2010

Sichtbarliche Nöthigung
Endlich: Jost-Dietrich Busch hat Immanuel Kant redigiert
Wann die Rettung der deutschen Sprache zum Volkssport wurde, ist nicht ganz klar. Jedenfalls gibt es inzwischen Facebook-Gruppen, die mit dem Satz werben: „Wenn wir die Sprache Kants und Hegels nicht retten, dann werden wir den Niedergang der deutschen Sprache erleben.“ Man liest das, ist schlagartig überzeugt, dass es so weit auf keinen Fall kommen darf, und geht pflichtschuldig los, um endlich einmal wieder einen kulturerbewürdigen deutschen Satz zu lesen. Sagen wir von Immanuel Kant:
„Das, was diese Gewähr (Garantie) leistet, ist nichts Geringeres, als die große Künstlerin Natur (n atura daedala rerum ), aus deren mechanischem Laufe sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet, durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen zu lassen, und darum, gleich als Nöthigung einer ihren Wirkungsgesetzen nach uns unbekannten Ursache, Schicksal, bei Erwägung aber ihrer Zweckmäßigkeit im Laufe der Welt, als tiefliegende Weisheit einer höheren, auf den objectiven Endzweck des menschlichen Geschlechts gerichteten und diesen Weltlauf prädeterminirenden Ursache, Vorsehung genannt wird, die wir zwar eigentlich nicht an diesen Kunstanstalten der Natur erkennen, oder auch nur daraus auf sie schließen, sondern (wie in aller Beziehung der Form der Dinge auf Zwecke überhaupt) nur hinzudenken können und müssen, um uns von ihrer Möglichkeit nach der Analogie menschlicher Kunsthandlungen einen Begriff zu machen, deren Verhältniß und Zusammenstimmung aber zu dem Zwecke, den uns die Vernunft unmittelbar vorschreibt, (dem moralischen) sich vorzustellen, eine Idee ist, die zwar in theoretischer Absicht überschwenglich, in praktischer aber (z. B. in Ansehung des Pflichtbegriffs vom ewigen Frieden, um jenen Mechanism der Natur dazu zu benutzen) dogmatisch und ihrer Realität nach wohl gegründet ist.“
Sind Sie noch da? Gut. Der große Satz stammt aus Kants einflussreicher kleiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ aus dem Jahr 1795, in dem Kant in sechs Verboten und drei Geboten die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden unter den Völkern entwirft. Der Abschnitt ist der Beginn des „Ersten Zusatzes“ der Schrift, die formal wie ein damals üblicher Friedensvertrag abgefasst ist. Und wir kämen nicht darauf, den berühmten Theoretiker als, nun ja, etwas eigenwilligen Stilisten zu kompromittieren. Aber gerade ist ein Buch erschienen, für das getan wurde, was sich jeder Kantleser schon wenigstens einmal insgeheim gewünscht haben dürfte: Kant wurde redigiert. Gewagt hat es für eine Quellenreihe des Instituts für Verwaltungswissenschaften der Universität Kiel Jost-Dietrich Busch, ein pensionierter Jurist und Ministerialrat a. D. Dass gerade ein Verwaltungsbeamter, der sein Leben lang nur mit sperrigsten Schriftsätzen zu tun gehabt haben dürfte, auf die Idee kommen würde, die diffizile und mehr als zwei Jahrhunderte alte kantische Editionsphilologie links liegen zu lassen und eine zugänglichere deutsche Version eines Kant-Textes zu erstellen, ist natürlich etwas seltsam.
Aber deshalb vielleicht auch umso schöner. Nach Quentin Skinners, Peter Lasletts oder auch Reinhart Kosellecks sprachanalytisch sensiblen Rekonstruktionen und Kontextualisierungen ideengeschichtlich bedeutsamer Texte dürfte es jedem gewissenhaften Philosophiehistoriker bei dem Gedanken an einen solchen Eingriff ins Original natürlich die Haare aufstellen. Und Kantphilologen, die hinter jeder Modernisierung Sinnveränderungen und Missverständnisse wittern müssen, werden erschaudern. Buschs Absicht, dafür zu sorgen, dass die berühmte Schrift wieder gelesen wird und nicht nur geschätzt, verdient dennoch Anerkennung. Das Kantische bleibt allerdings auch in seiner Textfassung eine gewöhnungsbedürftige Fremdsprache – die übrigens schon Zeitgenossen mitunter befremdete, wie Jens Timmermann im editionsphilologisch instruktiven Vorwort der von ihm 1998 bei Meiner herausgegebenen, in Forschung und Lehre maßgeblichen Ausgabe der „Kritik der reinen Vernunft“ bemerkte.
Neben der bei Kant längst üblichen modernisierten Orthographie (Nötigung statt Nöthigung, objektiv statt objectiv, Mechanismus statt Mechanism etc.) und Groß- und Kleinschreibung geht es Busch – in der Tradition mancher Übersetzungen klassischer deutscher Philosophie ins Englische – vor allem um eine souveräne Interpunktion und die Auflösung von langen Perioden. Aus dem obigen Syntax-Monster etwa werden in der Buschschen Neufassung acht, vergleichsweise durchsichtige Sätze. Die ersten drei lauten: „Diese Gewähr (Garantie) für den ewigen Frieden wird durch keine Geringere als die große Künstlerin Natur (natura daedala rerum) geleistet, aus deren mechanischem Lauf sichtbar Zweckmäßigkeit hervorleuchtet. Aus der Zwietracht der Menschen und durch diese Zwietracht selbst lässt die Natur Eintracht selbst wider den Willen der Menschen emporkommen. Dieses Walten wird (. . .) Schicksal genannt.“
Noch etwas unverstellter vielleicht als ohnehin schon zeigt sich so in Buschs Überarbeitung Kants Geschichtsphilosophie. Am Ende garantiert die zweckmäßig ausgerichtete Natur den ewigen Frieden. Geschichte wird so automatisch zu Fortschrittsgeschichte. Selbst die widrigsten Gegebenheiten forcieren das Gute. Mit der Freiheit des bei Kant für den Fortschritt eigentlich so bedeutsamen vernünftigen Menschen ist es da nicht mehr weit her. In dieses systematische Problem des Textes bringt freilich auch eine Version mit mehr Hauptsätzen keine Klarheit.
Nicht zuletzt deshalb hätte man sich das provokante Experiment am Ende vielleicht noch radikaler, spielerischer, weniger brav gewünscht. Mit Mut zum Weglassen möglicherweise. Nur so jedenfalls wäre Kants enervierendem Hang zur Umständlichkeit wirklich beizukommen gewesen und ein tatsächlich lesbarerer Text entstanden. Auch in Buschs Version ist „Zum ewigen Frieden“ nämlich wie so viele Texte des Philosophen stilistisch glanzlos dicht. Die gedankliche Exaktheit steht über allem, und die vielzitierten Bonmots ragen weiter nur inselhaft heraus. Das sprachliche Gewand, das Kant seinen Gedanken verpasste, ist und bleibt, wie Busch im Vorwort die Einführung einer britischen Kant-Ausgabe zitiert, „far from elegant“.
JENS-CHRISTIAN RABE
IMMANUEL KANT: Zum ewigen Frieden. Sprachlich überarbeitet und neugefasst von JOST-DIETRICH BUSCH. Lorenz-von-Stein-Institut, Kiel 2009. 135 Seiten, 8,90 Euro.
Ein Verwaltungsbeamter hat es
gewagt, Kants Syntax-Monster
in Einzelsätze aufzulösen
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2008

Kein Fehler im System
Ein Kommentar zur "Kritik der Urteilskraft" revolutioniert das Kant-Verständnis

Missversteht bloß nicht den Kant! Philosophische Fragen nach dem Ort des Menschen in der Schöpfung und nach Gott dürfe nicht von vornherein für sinnlos halten, wer aus Kants "Kritik der Urteilskraft" Gewinn ziehen will. Dieser Maxime folgt ein von Otfried Höffe herausgegebener Kommentar zur "Kritik der Urteilskraft". Zu ihm hat der Herausgeber selbst die gewichtigsten Kapitel beigesteuert: eine Einleitung, einen abschließenden Rückblick über das Verhältnis von Urteilskraft und Sittlichkeit und einen Kommentar der Paragraphen über den Menschen als Endzweck der Schöpfung.

In ihnen wird eine Kant-Lektüre propagiert, die Höffe selber als heterodox, vielleicht sogar häretisch bezeichnet. Keineswegs sei das Leitinteresse der "Kritik der reinen Vernunft" auf die Erkenntnistheorie oder die philosophische Begründung moderner Wissenschaft gegangen. Kant habe im Gegenteil die theoretische Vernunft mit der Absicht untersucht, Hindernisse der Moral zu überwinden und die Entmachtung des wissenschaftlichen Wissens zugunsten von Moral und moralischem Glauben zu betreiben.

Auch mache einen Fehler, wer in der "Kritik der Urteilskraft" primär eine philosophische Ästhetik und eine teleologische Theorie der Natur sehe. Dann könne man tatsächlich den Eindruck bekommen, in der Schrift stünden ein zweifaches Gegenstandsinteresse und ein Systeminteresse ziemlich unverbunden nebeneinander.

Otfried Höffe als Häretiker

Doch Kant trenne zwar bei der ästhetischen Urteilskraft das Schöne vom Vollkommenen und in der teleologischen Urteilskraft die Natur von der Freiheit. Andererseits sind beide Gegenstände, modern gesprochen: die Ästhetik und die Biologie, durch den Begriff der Zweckmäßigkeit verbunden. Und auf den Begriff der Zweckmäßigkeit baut die Methodenlehre ihre Darstellung vom Endzweck der Welt und der Moraltheologie und schließt damit nicht nur die Kritik der Urteilskraft ab, sondern auch das System, indem sie die Möglichkeit der Verbindung von theoretischer und praktischer Philosophie, Notwendigkeit und Freiheit, Sinnlichem und Übersinnlichem aufzeigt. Am Schönen wie am Lebendigen machen wir die Erfahrung, dass die Welt gut eingerichtet ist. Sie gibt unserem moralischen Handeln Raum. Und eben in der Wirklichkeit der Freiheit liegt der Endzweck von Natur und Geschichte.

Die prononcierte Selbstdarstellung Höffes als heterodoxer Kant-Interpret mag verwundern, da man die "Kritik der reinen Vernunft" nur zu öffnen braucht, um zu sehen, dass Kant das Wissen aufheben will, um für den Glauben Platz zu bekommen. Und wer sie oder die "Kritik der Urteilskraft" zu Ende liest, der weiß, dass es Kant um das geht, was Hegel die moralische Weltanschauung genannt hat. Obendrein hat die klassische deutsche Philosophie genau beim kantischen Zweckbegriff weitergemacht. Schiller sieht im Schönen als dem Symbol der ausgeführten Bestimmung der Menschheit den Dualismus von Pflicht und Neigung überwunden. Schellings Idealismus nimmt Kunst und Natur als einander spiegelnde Darstellungen der Idee, und für Hegel ist der Staat der Gang Gottes in der Welt. Alle schließen sie direkt an die "Kritik der Urteilskraft" an.

Aber Höffes Heterodoxie besteht nicht in der Behauptung, dass Kants Denken von einem moralischen Glauben zusammengehalten wird. Häretiker ist er, weil er diesem systematischen Zusammenhang aktuelle philosophische Bedeutsamkeit zuschreibt. Denn angeknüpft wird allerorten an den Erkenntnistheoretiker Kant und an den kantischen Pflichtbegriff. Nicht angeknüpft wird dagegen an den Zweckbegriff. Auch wenn Kant in der Ästhetik gut präsent ist, so doch nur als Begründer der Autonomie der Kunst und mit seinem freien Spiel der Erkenntniskräfte. An der Biologie war die Philosophie bis vor kurzem ohnehin desinteressiert. Und teleologische Betrachtungen von Natur und Geschichte gelten allgemein als überholt. Höffes Position aber möchte prüfen, ob Kant nicht gute Gründe hat, so zu reden, wie er redete. Er ist ein orthodoxer Häretiker.

Für die Ästhetik stellt Birgit Recki klar, dass Kants Lehre im Verständnis des Schönen als Symbol des Sittlich-Guten zentriert ist. Darin liege kein Rückfall in eine (vormoderne) Heteronomie der Kunst, keine Subsumtion der Kunst unter die Moral. Im Schönen oder vielmehr in der Erfahrung des Schönen erfahren wir uns als frei. Ausgezeichnet ist die Erfahrung des Schönen, insofern in ihr die Bestimmung des Menschen als ein sinnlich-vernünftiges Wesen deutlich werde. Denn "der Mensch ist ein vernünftiges Wesen unter Bedingungen, die zugleich Einschränkungen der reinen Vernunft und Chance ihrer Realisierung sind". Dieser Selbsterfahrung entspricht die teleologische Naturdeutung als "System der Zwecke, das wir als den vernünftigen Kontext unserer Vernunftbetätigung begreifen".

Den Zweckgedanken hält Höffe für unaufgebbar, wie skeptisch sich auch der moderne Geist gegen ihn verhält. Insbesondere sei es ein Gebot der Stunde, für die Lebenswissenschaften eine sachgerechte Philosophie zu entwickeln. Und Kant sei hier in besonderem Maße interessant, weil er der Mechanik das weit größere Recht belasse und Zwecke lediglich ergänzend und sehr behutsam einführe. Allerdings darf für Kant "schlechterdings keine menschliche Vernunft die Erzeugung auch nur eines Gräschens aus bloß mechanischen Ursachen zu verstehen hoffen". Für die moderne Biologie aber hat der berühmte "Newton des Grashalms" seine Absurdität ganz verloren. Ina Goy streicht in einer kurzen biologiegeschichtlichen Einordnung Kants heraus, dass die unentbehrliche Bedeutung teleologischer Erklärungen heute überwiegend anerkannt sei, diese aber vollständig naturalistisch verstanden würden. Was eine Philosophie der Biologie dagegen mit Kant einzuwenden hätte, bleibt offen - wohl der Preis für einen nahe am Text bleibenden Kommentar.

Die Logik des Tierschutzes

Höffe selbst interessiert sich ohnehin weniger für Ästhetik und Biologie als vielmehr für das, was er die provozierendste These der "Kritik der Urteilskraft", ja des kantischen Gesamtwerks nennt: dass nämlich der Mensch der Herr der Natur sei. Damit sei etwas ganz anderes gemeint als mit dem cartesischen "maître et possesseur de la nature" und auch etwas anderes als mit der modernen biologischen Anthropozentrik. Nicht als biologische Gattung, sondern als moralisches Wesen sei der Mensch Endzweck der Natur. Darum habe der Gedanke einer kantischen Ethik des Tier- oder Umweltschutzes auch nichts Widersprüchliches. Die Natur sei auf die Ermöglichung von Moral ausgerichtet, aber der Mensch habe ebendeshalb die Aufgabe, dieser Anlage der Natur zur Wirklichkeit zu verhelfen.

Weil erst die teleologische Urteilskraft die Natur als ein systematisches Ganzes betrachtet, kann erst in der Methodenlehre der "Kritik der Urteilskraft" der Schlussstein des kantischen Theoriegebäudes eingesetzt werden. Hier verschränkt Kant seine moralische Anthropologie mit einer normativen Naturphilosophie, um die Frage nach dem Ort des Menschen in der Schöpfung und nach Gott zu beantworten. Es ist die Leitfrage der klassischen deutschen Philosophie gewesen, und diese Leitfrage ist in der Folge oft von vornherein für sinnlos gehalten worden. Der Kommentarband erinnert an sie mit philologischen Mitteln.

GUSTAV FALKE

Immanuel Kant: "Kritik der Urteilskraft". Herausgegeben von Otfried Höffe. Klassiker Auslegen, Band 33. Akademie Verlag, Berlin 2008. 386 S., br., 19,80 [Euro].

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