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Die erste grosse und umfassende Biographie
Gerhard Schröder polarisiert. Ganz gleich ob er als Juso-Vorsitzender die eigene Truppe aufmischt, als junger Bundestagsabgeordneter den politischen Gegner in Wallung bringt, als Rechtsanwalt Außenseiter verteidigt oder als Ministerpräsident den Alleingang zur Perfektion entwickelt - der vorwärtstürmende Aufsteiger aus randständigem Milieu hat immer provoziert. Als Bundeskanzler und SPD-Vorsitzender verweigert er den USA die Gefolgschaft im Irakkrieg, mit seiner Agenda-2010-Reformpolitik riskiert er die Kanzlerschaft, und auch als umtriebiger…mehr

Produktbeschreibung
Die erste grosse und umfassende Biographie

Gerhard Schröder polarisiert. Ganz gleich ob er als Juso-Vorsitzender die eigene Truppe aufmischt, als junger Bundestagsabgeordneter den politischen Gegner in Wallung bringt, als Rechtsanwalt Außenseiter verteidigt oder als Ministerpräsident den Alleingang zur Perfektion entwickelt - der vorwärtstürmende Aufsteiger aus randständigem Milieu hat immer provoziert. Als Bundeskanzler und SPD-Vorsitzender verweigert er den USA die Gefolgschaft im Irakkrieg, mit seiner Agenda-2010-Reformpolitik riskiert er die Kanzlerschaft, und auch als umtriebiger Wirtschaftsberater und Putin-Freund trotzt er aller Kritik. Der »vielfach bewährte Biograph Gregor Schöllgen« (FAZ) hatte uneingeschränkten Zugang zu sämtlichen Papieren Gerhard Schröders und sprach mit vielen Weggefährten - Freunden und Verwandten, Gegnern und Rivalen, Förderern und Neidern, Opfern und Bezwingern -, die sich ungewohnt offen äußerten. Schöllgen gelingt so die erste große und Maßstab setzende Biographie dieser ungewöhnlichen Politikerpersönlichkeit.

Ausstattung: mit Abbildungen
Autorenporträt
Gregor Schöllgen, Jahrgang 1952, lehrte von 1985 bis 2017 Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Erlangen und in der Attachéausbildung des Auswärtigen Amtes. Er wirkte als Gastprofessor in New York, Oxford, London und Zürich, war Mitherausgeber der Akten des Auswärtigen Amtes sowie des Nachlasses von Willy Brandt. Als profilierter Biograph folgte er den Spuren unter anderem von Willy Brandt, Ulrich von Hassell, Martin Herrenknecht, Gustav Schickedanz, Theo Schöller, Gerhard Schröder und Max Weber sowie von bedeutenden Unternehmerfamilien wie Brose, Diehl und Schaeffler. Zuletzt erschien bei DVA seine Geschichte der Familie Weiss und ihres Unternehmens, des Anlagenbauers SMS.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.09.2015

Wie Acker lernte, die Macht zu lieben . . .
. . . und nationale Interessen zu definieren: Gerhard Schröders Leben, respektvoll gewürdigt von Gregor Schöllgen

Am frühen Abend des 18. September 2005 hat Gerhard Schröder die Bundestagswahl verloren. Doch noch klammert er sich an Hochrechnungen, hofft auf die Mehrheit der Sitze durch Überhangmandate. Einfühlsam versetzt Gregor Schöllgen die Leser seiner imposanten Biographie zurück in jene rot-grüne Kanzlerdämmerung, als sich der Regierungschef, den der Historiker mit größtem Respekt würdigt, auf den Weg macht zur "Berliner Runde" von ARD und ZDF. "Ziemlich sicher ist zu diesem Zeitpunkt auch, dass ,sein Wahlergebnis' besser ist als das 1990 von Oskar Lafontaine, wie er anderntags im Vorstand festhält. Im Spiegel der folgenden beiden Wahlen zum Bundestag ist es sogar ein Traumergebnis."

Vor einem Millionenpublikum kommt es nun zu der "testosteronen Explosion" Schröders, die der Biograph damit entschuldigt, dass sich eine über Wochen "angestaute Spannung entlädt". Fast alles, was er unterdrückt habe, "bricht sich jetzt Bahn. Auch die Überzeugung, dass niemand außer ihm ,in der Lage' sei, ,eine stabile Regierung zu stellen. Niemand außer mir' - und schon gar nicht Frau Merkel. Tatsächlich lässt sich das Wahlergebnis ja so lesen. Vier Monate später, als Gerhard Schröder hinter verschlossenen Türen sein Leben Revue passieren lässt, formuliert er das so: ,Die Menschen wollten eine Regierung, die ich führe, aber von der CDU gestellt wird - und haben Merkel und die SPD bekommen. Das ist wirklich die List der Geschichte.' Dass diese ,von Frau Merkel geführte' Regierung ,besser' ist, ,als die meisten erwartet hätten', nimmt er zu diesem Zeitpunkt gelassen zur Kenntnis." Bemerkenswerter Rückblick, den Schöllgen zitieren kann, weil Schröder in der Vorbereitungsphase der Memoiren Anfang 2006 immerhin 55 Kassetten besprach, so dass es eigentlich "zwei Bücher" gebe: Das erste, die Transkription von Gesprächen mit dem früheren Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye, "erblickt nie das Licht der Öffentlichkeit". Hier habe sich Schröder "alles von der Seele" geredet. Das andere, Ende 2006 unter dem Titel "Entscheidungen" publiziert, habe mit der Transkription "nur wenig zu tun", weil sich Schröder gar nicht die Zeit nahm, diese zu bearbeiten.

Überhaupt habe Schröder als "ein mündlicher Mensch" während seiner Kanzlerschaft das Aktenstudium "auf ein Minimum" beschränkt. Bei Schröders Büroleiterin erkundigte sich Schöllgen daher nach den Terminkalendern, die ihm einen Weg zu vielen Quellen wiesen. Er wertete 30 Ordner mit Korrespondenzen im "Privatarchiv Schröder" aus, zog Akten des Kanzleramtes und der SPD heran und befragte 40 Zeitzeugen, um das Leben des siebten Kanzlers der Bundesrepublik darzustellen - gegliedert in "Der Aussteiger", "Der Anwalt", "Der Kandidat", "Der Kämpfer", "Der Macher", "Der Reformer" und "Der Ratgeber".

Schröders Mutter Erika war das uneheliche Kind einer Näherin und eines Arztes, das von einem Vormund großgezogen wurde. Als sie Ende Oktober 1939 den Gelegenheitsarbeiter Fritz Schröder heiratete, waren ihr "weder der Aufenthalts- noch der Geburtsort ihrer leiblichen Mutter bekannt". Fritz hatte wegen Diebstahls Haftstrafen verbüßen müssen, (was Erika den zwei gemeinsamen Kindern verschweigen sollte). Das Paar lebte bei Fritz Schröders Mutter Klara und deren zweitem Ehemann Paul Vosseler. Fritz wurde Soldat und fiel im Oktober 1944 in Rumänien. Damals war der am 7. April 1944 geborene Gerhard ein halbes Jahr alt. Die Vosselers ließen sich nach dem Krieg scheiden, damit Paul und Erika heiraten konnten - eine "abenteuerliche Konstellation". Bis 1954 gesellten sich zu Gerhard und Gunhild drei Halbgeschwister. Der 1966 verstorbene Stiefvater konnte gut singen, Zither spielen, war arbeitsunfähig, "ging fremd", während die Mutter "fast rund um die Uhr" schuftete. Daher erfuhr der "junge Schröder im eigentlichen Sinne keine Erziehung".

Gerhard besuchte die Volksschule, machte eine Lehre. In den fünfziger Jahren erkämpfte er sich beim TuS Talle als Halb- und Mittelstürmer den Titel "Acker" (auch sein Spitzname in der Familie), "weil er auf dem Fußballplatz das tut, was er auch sonst am besten kann, eben ackern". Der Verkäufer holte auf einer Abendschule die Mittlere Reife nach, trat 1963 in die SPD ein. Bevor er in die Parteiarbeit einstieg, bestand er 1966 sein Abitur: "Er hat den Ausstieg geschafft und damit das Fundament für den Aufstieg gelegt. Es ist der Ausstieg aus einem Milieu, das Karrieren wie die seine nicht vorsieht." Es folgten das Jurastudium in Göttingen, die kurze Ehe mit einer Verlagsbuchhändlerin, die zweite mit einer Gymnasiallehrerin, Staatsexamina.

Von 1978 bis 1980 war er Juso-Bundesvorsitzender. Um für den Bundestag als Kandidat aufgestellt zu werden, gefiel sich der Rechtsanwalt - "süchtig nach Macht" - im Taktieren. Dies stehe im "Widerspruch zu der Verlässlichkeit, die den Mann im nichtöffentlichen Bereich auszeichnet". Jedenfalls holte er 1980 im Wahlkreis Hannover-Land I das Direktmandat. Mit einer Art Selbstbewerbung als Spitzenkandidat in Hannover bereitete er alsbald die Rückkehr nach Niedersachsen vor. Zuvor war seine zweite Ehe gescheitert. Mit Hiltrud Hampel, geborene Hensel, Mutter zweier Töchter, und durch die "Gerd-Hillu-Schau" samt Heirat 1984 konnte er sein "Juso-Image" ablegen. Trotzdem musste er bei der Landtagswahl 1986 eine "schwere Niederlage" einstecken. Vier Jahre danach bildete er in Hannover eine rot-grüne Koalition und entwickelte sich als Ministerpräsident vom einstigen Linksaußen zum "geschickten Aquisiteur". 1994 holte er die absolute Mehrheit für die SPD und beanspruchte allmählich auch die Rolle des Herausforderers von CDU-Bundeskanzler Kohl.

Vor dem großen Sprung zurück nach Bonn trennte sich 1996 das "Vorzeige-Ehepaar der deutschen Politik". Hiltrud habe ihren Mann "regelrecht drangsaliert", weiß der Biograph und erläutert die "Hinwendung" zur Neuen: "Er braucht eine feste Beziehung. Ohne sie kommt dieser Mann nicht zurecht, wissen die zu berichten, die ihn wirklich kennen." Der Einfluss der Frau an seiner Seite auf ihn sei erheblich. "Je höher er steigt, desto mehr zählen ihre Erfahrung, ihre Souveränität, ihre Menschenkenntnis." Die Journalistin Doris Köpf und Schröder heirateten 1997. Die Hochzeitsfeier fand erst im März 1998 statt, eine Woche nach dem fulminanten Landtagswahlsieg. Die vierte Schröder-Gemahlin habe ihren Anteil daran, "dass die letzte Etappe ins Kanzleramt schließlich genommen werden kann".

Am 27. September 1998 war der SPD-Kandidat am Ziel. Wunschpartner waren die Grünen nicht, weil Schröder meinte, "dass die Deutschen das zum ,Aufbruch' stilisierte rot-grüne Experiment im Grunde gar nicht wollen". Bei den Koalitionsverhandlungen trat sein "unbändiger Machtwille" hervor. Konflikte gab es mit dem SPD-Vorsitzenden und Finanzminister Lafontaine, der im März 1999 "vor dem Machtanspruch" des Kanzlers kapitulierte und sogar als SPD-Chef zurücktrat. Für den "Einzelkämpfer" war nun endlich die Parteispitze frei. Die Hochs und Tiefs der Kanzlerjahre schildert Schöllgen gekonnt und stellt jene Zufälle und Rahmenbedingungen heraus, die Schröder nutzten oder die er zu nutzen verstand: CDU-Spendenaffäre, Flutkatastrophen, die Freundschaft zu Putin oder Washingtons Irak-Politik. Außenpolitisch habe er sich stets von den deutschen Interessen leiten lassen, ja diese "namhaft" gemacht - wenn es auch zwischen ihm und Präsident George W. Bush Missverständnisse gegeben habe, weil beide sich vor dem Irak-Krieg hinter verschlossenen Türen nicht klar genug ausgedrückt hätten.

Die knappe Mehrheit für Rot-Grün vom September 2002 war ein "gewaltiger Erfolg" für Schröder, weil "der konjunkturelle Einbruch mit seiner dramatischen Begleit- und Folgeerscheinung, der neuerlichen Massenarbeitslosigkeit, aber auch ein großer Teil der Medien" gegen ihn standen. Damals begann - so Schöllgen fast mitleidend - eine neue Etappe im Verhältnis Schröders zu den Medien: "Haben ihn die meisten anfänglich durch die Untiefen des politischen Geschäfts getragen, werden sie jetzt mehr und mehr zu erbitterten Gegnern." Ende 2002 fiel Schröders Entschluss, längst überfällige Reformen in Gang zu setzen: "Koste es, was es wolle. Und sei es die Kanzlerschaft."

Die Regierungserklärung vom März 2003 - die Verlesung der Agenda 2010 - bildete den "Wendepunkt": Er habe sich zu wenig um den Kommunikationsprozess gekümmert: Die Genossen hätten das Programm zerredet und dessen "Vater" beschädigt. Nicht zuletzt deshalb habe er im März 2004 den SPD-Vorsitz abgegeben. Ganz zerrüttet war im Sommer 2004 auch sein Verhältnis zu den Gewerkschaften. Es kam zur Gründung der Wähleralternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit. "Mit der WASG, der PDS, den Gewerkschaften und einer zunehmenden Zahl von SPD-Mitgliedern wie Oskar Lafontaine baut sich eine Front mit zahlreichen stabilisierenden Querverbindungen auf, die binnen eines Jahres zu einer signifikanten, wahlentscheidenden Größe in der deutschen Politik wird." Schröder habe den "einsamen Kampf des Aufsteigers" an vielen Fronten führen müssen.

Schröder glänzte derweil auf Auslandsreisen. Was den Standort Deutschland betreffe, so habe sich kein zweiter Kanzler "bislang so konsequent für dessen Erhalt ins Zeug gelegt" wie er. Schon am 7. April 2005 habe Schröder den Koalitionspartner vom Plan der vorgezogenen Neuwahlen im Bund in Kenntnis gesetzt, falls Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen im Mai abgewählt würde. Laut Schöllgen spielten schließlich Printmedien im Wahlkampf des Sommers 2005 "noch einmal eine bedeutende, wenn nicht die entscheidende Rolle". Die Wut über eine mediale Verschwörung, "die der Kanzler zu beobachten glaubt, muss er einstweilen unterdrücken, was zur Folge hat, dass sich in dem Mann ein enormer Druck aufbaut und man sich fragt, wann der Kessel von diesem Deckel fliegt". Siehe 18. September!

Seit "Ackers" Mutter "ihn und seine Geschwister gelehrt hat, dass Fairness zu den Grundregeln des Lebens zählt, wenn man schwierige, wenn nicht perspektivlose, existenzbedrohende, auch unwürdige Zeiten gemeinsam überstehen will, hat er diese Maxime verinnerlicht", konstatiert der Biograph und resümiert: "Gerhard Schröder hat außen- und sicherheitspolitisch die überfälligen Konsequenzen aus der Einheit gezogen und Deutschland damit auf den Platz geführt, auf den es gehört; und er hat das Land innenpolitisch so auf Vordermann gebracht, dass es diesen Platz selbstbewusst und überzeugend einnehmen kann."

RAINER BLASIUS

Gregor Schöllgen: Gerhard Schröder. Die Biographie. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015. 1039 S., 34,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Höchst unterhaltsam liest sich die Besprechung der neuen Schröder-Biografie durch den Autor und Dramatiker Moritz Rinke. Sie beginnt damit, dass er dieses Trumm von Buch bei seinem türkischen Gemüsehändler wiegen lässt: Zweieinhalb Kilo, und sie ist dreimal so dick wie Schöllgens Biografie über Willy Brandt. Aber ist Schröder auch dreimal so bedeutend? Beim Lesen von Rinkes Kritik befallen einen leichte Zweifel. Richtig aufgeregt schildert er im Grunde nur die Zeit bis zum Erreichen der Kanzlserschaft. Danach behauptet der Rezensent gar, die folgenden Seiten über die Jahre der Kanzlerschaft aus dem Buch gerissen und auf dem Gleis 9 (aber nicht 9 ¾) eines Bahnhofs liegen gelassen zu haben. Ob man bei Schöllgen außer über die krachledernen, manchmal sensiblen Aspekte der Persönlichkeit Schröders auch etwas über die problematischen Seiten - etwa seine Liebe zu Putin - erfährt, sagt Rinke nicht.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.09.2015

Aus der Kanzlei
des Kanzlers
Für seine Schröder-Biografie hat Gregor Schöllgen
sehr, sehr viele Akten und Presseartikel durchforstet
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Gregor Schöllgens Darstellung von Gerhard Schröders Leben ist umfassend, fast nichts wird ausgelassen. Aber folgende Episode kommt darin nicht vor: Als 1997 der hundertste Geburtstag der Hannoveranerin Grete Bartels nahe- rückte, erhielt sie eine offizielle Grußbotschaft: Sie dürfe sich von der Stadt etwas wünschen. Die Jubilarin kam auf die pfiffige Idee, einige Honoratioren zu ihrem Geburtstagsfest einzuladen, unter ihnen den niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder und den Oberbürgermeister Hannovers, Herbert Schmalstieg. Die fanden sich dann in Grete Bartels’ kleiner Wohnung ein. Schröder war es, der aufs Sofa gebeten wurde: Da saß er – eingequetscht zwischen leutseligen Großmüttern – und hatte im echten Sinn des Wortes keine Berührungsangst.
  Schöllgen hebt in seiner Biografie darauf ab, dass die Herkunft aus armer Familie Schröder zum machtbewussten Kämpfer gemacht habe, der danach strebte, seine Verhältnisse hinter sich zu lassen. Das wollte er in der Tat. Auch tut Schöllgen recht daran, Schröder als einen Aufsteiger zu beschreiben, der sich mitunter für taktischen Opportunismus nicht zu schade war. Gerhard Schröder hat die Selbstverwandlung aber nicht vollendet. Den sogenannten kleinen Leuten begegnet er mit natürlicher Herzlichkeit. Und wahren Polit-Opportunisten kann er nicht das Wasser reichen.
  Die Biografie des Juso-Vorsitzenden, Ministerpräsidenten und Kanzlers Gerhard Schröder zu schreiben, war eine Mammutaufgabe. Entsprechend ist das Buch ausgefallen: Fast eintausend Seiten Text werden in 2412 Fußnoten beglaubigt. Zu den aufschlussreichsten Partien gehört der Bericht „Zur Quellenlage“. Schöllgen durfte die Akten des Bundeskanzleramts einsehen, die außen- und sicherheitspolitische Fragen betreffen. Mehr noch, Angela Merkel selbst wird das Buch vorstellen. Das ist buchenswert, weil sie zu Beginn ihrer Kanzlerschaft nicht eben erpicht war, mit Schröder zu tun zu haben. Was die Kanzleramtsakten angeht: Die müssen es in sich haben. Nicht nur, so Schöllgen, gebe es kein brauchbares Findbuch; hinzu komme, dass „die Ablage und Ordnung der Dokumente nach Kriterien erfolgt ist, die sich dem Nutzer mitunter nur schwer – wenn überhaupt – erschließen“. Gern wüsste man, ob das Berufsethos der Archivare sich da originell zur Geltung bringt oder ob dahinter eine tiefere Absicht steht.
  Außerdem konnten Schöllgen und seine Mitarbeiter das gesamte Archiv Gerhard Schröders durchforsten. Der Altkanzler, schreibt Schöllgen, „war sich bis vor Kurzem nicht bewusst“, wie viel da emsig gesammelt worden war. Sich in Akten verewigt zu sehen: Darauf hat Schröder nie aspiriert. Eitel ist er wie fast alle, die sich die Beschäftigung mit dem werten Ich leisten können; aber so eitel ist er eben nicht, dass er darauf achtete, seinen Nachruhm zum darin Blättern herzurichten. Schröder hält es eher mit Goethes Faust: „Das Drüben kann mich wenig kümmern.“
  Bei Schöllgen ist zu lesen, Schröder sage von sich, er könne nicht singen. Wer ihn nur ein bisschen kennt, weiß, dass er auch religiös unmusikalisch ist. Verwunderlich ist daher Schöllgens Versuch, Schröders öffentlich kundgetane und also höflich-verbrämte Absagen an Religiosität umzudeuten: Obzwar kein kirchentreuer Christ, habe jener eine „Einstellung“ zu Gott und Christentum, die „greifbar“ und „eigenständig“ sei.
  Wie er es mit der Religion hält: Das konnte der Biograf den Biografierten nicht fragen: Weder der Altkanzler noch Doris Schröder-Köpf haben die Arbeit gesprächsweise begleitet. Schöllgen hat zwar etliche Leute interviewt, von denen manche sich loyal-diplomatisch, andere etwas offener eingelassen haben; aber im Grunde ist seine Biografie aus dem gigantischen Bestand schriftlicher Quellen erarbeitet. Wer Einblick in interne Akten hat, der wird doch irgendetwas Spektakuläres finden, denkt der naive Leser.
  Ganz und gar neu ist tatsächlich vieles, was man über Schröders Eltern und Großeltern erfährt: Schöllgens Mitarbeiter haben die Details – in öffentlichen Archiven – mühsam zusammengesucht, mit dem Ergebnis, dass die Familie noch deklassierter war, als ehedem schon bekannt. Darüber hinaus: Neu ist zum Beispiel, dass Schröder im Jahr 2001 Frankreich und Großbritannien zuliebe 50 Exemplare des von einigen europäischen Ländern geplanten Militärtransporters Airbus A400M zu erwerben versprach, während nur der Preis für 40 Maschinen in den Haushalt eingestellt war (zu einem Vertrag kam es damals nicht).
  Neu ist zum Beispiel auch, dass Schröder Jahre später fälschlich behauptete, schon immer gegen das seit Bill Clintons Präsidentschaft von den USA verfolgte Projekt eines militärischen Raketenabwehrschirms (NMD) gewesen zu sein. Dass Schröder mit Helmut Kohl „nicht reden“ konnte, weil Letzterem jedes Gespräch „nach wenigen Minuten zur Selbstdarstellung“ geriet, ist eine Nachricht, die Schröders Bekannte nicht vom Hocker reißen wird. Öffentlich hat Schröder das indes nicht gesagt. In den Akten wurde Schöllgen fündig.
  Unter dem Dach der Erlanger Universität betreibt der Professor für Neuere Geschichte das „Zentrum für Angewandte Geschichte“, eine Art Biografien-Manufaktur. An sich ist sie auf Unternehmer-Viten spezialisiert, die auf Anfrage und gegen Entgeld hergestellt werden. Drei der vier bisher Porträtierten waren einst Mitglieder der NSDAP. Schöllgen ist vorgehalten worden, er beschönige und betreibe eine „Apologetik-Agentur“. Er replizierte, dass er sich das nicht leisten könne, schließlich habe er einen Ruf zu verlieren. Sein Buch über Schröder ist nicht liebedienerisch. Es irritiert auf andere Weise: Kläglich stranden die Versuche, zu ermitteln, was der Autor über den Menschen Gerhard Schröder sagen will, was nicht schon stereotyp bekannt ist.
  Schöllgen hält das so: Ein Kommentar zu Schröders Haltung wird anschließend relativiert, später konterkariert, um manchmal dann doch wieder aufzutauchen. Anhand Schröders Einstellung zum Nato-Doppelbeschluss von 1979 lässt sich beispielhaft zeigen, welche Verwirrung Schöllgen zu stiften vermag: Schröder ist auf Seiten der Friedensbewegung, die zu Beginn der Achtzigerjahre gegen die Stationierung von Pershing II-Raketen in der Bundesrepublik demonstriert. Auch kritisiert er, dass West-Deutschland die Olympischen Spiele in Moskau 1980 boykottiert, zur Strafe für den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan. Warum? Schöllgen meint, Schröder halte „diese Positionen im Wahlkampf (es geht um die Bundestagswahlen 1980, Anm. d. Red.) für mehrheitsfähig (. . .) Von Rückgrat keine Spur, wohl aber von bedenklichem Opportunismus“. Dann schreibt er weiter: „Nun gehört eine ordentliche Portion Opportunismus zum Wesen der Politik.“ Kurz darauf heißt es: „Er gilt in den meisten Sachfragen als Linker, und das hilft auch deshalb, weil in den Dämmerstunden der Ära Schmidt und in der aufziehenden Ära Kohl linke Positionen zu Minderheitspositionen werden“, mit denen Schröder sich habe in Szene setzen können.
  Das macht grübeln: Vertrat Schröder die Mehrheitsposition oder die Minderheitsposition? Hat er sich womöglich als brillanter Opportunist gleichzeitig der Mehrheit und der Minderheit angeschlossen? Und warum fällt dem Autor nicht auf, dass Schröder spätestens seit jener Zeit und bis heute oft dafür geworben hat, der Sowjetunion respektive Russland mit dem Bemühen um gegenseitiges Verständnis zu begegnen?
  Eifriges Studium der Fußnoten hilft bei der versuchsweisen Klärung der letzten Frage. Die meisten wirklich interessanten Zitate, die Schöllgen anführt, stammen nicht aus Akten, sondern aus der Presse. Zunehmend erweckt die Lektüre den Eindruck, dass die zeitgenössische politische Berichterstattung dem Autor als Leitfaden diente. An der souveränen Synthese scheint ihm weniger gelegen zu sein als an der genauen Abarbeitung der Themen, die jeweils anstehen.
  Diese Methode, die generell der Abfassung sehr dicker Bücher förderlich ist, ergibt eine ungemein eindrucksvolle Fülle an Fakten und Beobachtungen (völlig unter den Tisch fällt allerdings Schröders misslicher Beitrag zur Deregulierung der Finanzmärkte). Wer in der Ära Schröder politisch interessiert war, erlebt bei der Lektüre viele Déjà-vu-Momente; für das darob geschmeichelte Leser-Ego wäre das freilich nur dann voll befriedigend, wenn Letztere öfter durch überraschende oder auch nur pointiert formulierte Einsichten ausbalanciert würden.
  Wie lässt sich Schöllgens Schröder-Bild zusammenfassen? Er destilliert die Ansichten der Journalisten. Dazu gehört: Dem jungen „Gerhard Schröder geht es um die Macht, um nichts als die Macht“. Er ist „lernfähig“ und kann daher seine Meinung ändern. Er stellt sich sehr gut mit der Wirtschaft. Der Öffentlichkeit sage er „immer, was er vorhat“ und „stellt damit seine Partei vor vollendete Tatsachen“. Überhaupt sei er mit der SPD „nie recht warmgeworden“. Öffentliche Ausfälle gegen politische Gegner seien seine „Sache nicht“. Er sei ein loyaler Freund und Partner; habe er aber das Vertrauen verloren, „macht er den Schnitt“. Am Ende konstatiert Schöllgen, der Altkanzler sei „mit sich im Reinen“. Dasselbe hat er auch in seiner Biografie über den „Quelle“-Gründer Gustav Schickedanz geschrieben.
  Im Jahr 2010 hielt Gerhard Schröder auf Einladung von Schöllgen und seinem „Zentrum für Angewandte Geschichte“ einen Vortrag an der Universität Erlangen. Von Schöllgens Unternehmen war er angetan: Da wird Geisteswissenschaft wirtschaftlich nutzbar. Was dabei herauskommt, wenn Bücher manufaktur-mäßig produziert werden: Das zeigt diese – übrigens in einem angenehm flotten Stil geschriebene – Biografie.
Vieles, was über den Menschen
Gerhard Schröder gesagt wird,
ist längst bekannt
Statt um die souveräne Synthese
kümmert sich der Biograf
um die Abhandlung von Themen
  
  
  
  
  
Gregor Schöllgen,
Gerhard Schröder. Die Biographie. DVA, 2015. 1040 Seiten 34,99 Euro.
Als E-Book: 28,99 Euro.
Blick Richtung Geschichtsbuch: Gerhard Schröder im Wahlkampf 2002 in einem Hubschrauber. Der Biograf sagt, er habe eine „Grundsympathie für Schröder, ohne eine Hagiografie geschrieben zu haben“.
Foto: Regina Schmeken
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»Eine opulente, unterhaltsame Erzählung über einen streitbaren, stets umstrittenen Mann, der sich aus kleinsten Verhältnissen bis ganz nach oben gearbeitet hat.« spiegel.de, Andreas Borcholte, 22.09.2015