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Eine abgeschriebene Frau und andere Denkwürdigkeiten: Wie hier ein Schriftsteller aus Hamburg, eine junge Frau aus Tomsk, ein Steuerprüfer und ein Tonbandgerät in Szene gesetzt werden, ist einfach genial. Ein Erzählband von Siegfried Lenz, der aus Anlass des siebzigsten Geburtstags des Autors am 8. März 1996 erschienen ist.

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Produktbeschreibung
Eine abgeschriebene Frau und andere Denkwürdigkeiten: Wie hier ein Schriftsteller aus Hamburg, eine junge Frau aus Tomsk, ein Steuerprüfer und ein Tonbandgerät in Szene gesetzt werden, ist einfach genial.
Ein Erzählband von Siegfried Lenz, der aus Anlass des siebzigsten Geburtstags des Autors am 8. März 1996 erschienen ist.
Autorenporträt
Siegfried Lenz, geboren 1926 in Lyck (Ostpreußen), begann nach dem Krieg in Hamburg das Studium der Literaturgeschichte, Anglistik und Philosophie. Danach wurde er Redakteur. Er zählt er zu den profiliertesten deutschen Autoren. Seit 1951 lebte Siegfried Lenz als freier Schriftsteller in Hamburg. 1988 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 2004 wurde ihm der Hannelore-Greve-Preis der Hamburger Autorenvereinigung verliehen, 2009 erhielt er den Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte und 2010 wurde Siegfried Lenz mit dem Nonino International Prize ausgezeichnet. 2011 schließlich verlieh man ihm die Ehrenbürgerwürde seiner polnischen Geburtsstadt. Siegried Lenz verstarb 2014.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.1996

Im Schatten des Zackenbarsches
Mit Medaille: Der neue Erzählungsband von Siegfried Lenz

Was sucht ein Amerikaner auf den Düppeler Schanzen? Das sind bekanntlich jene Hügelbefestigungen, die im deutsch-dänischen Krieg des Jahres 1864 von den Preußen erstürmt wurden. Unser Mann aus Wisconsin ist nicht an der Historie, schon gar nicht der Militärgeschichte interessiert, nur an der Familienchronik. Ihn hat eine Tapferkeitsmedaille nicht ruhen lassen, die ein deutscher Vorfahre seiner Frau bei den Schanzen erwarb; er will sich ein Bild vom Ort der Heldentat machen. Aber dann nehmen ihn viel mehr die Geschichten gefangen, die er vom Heimatforscher im Museum über den Stellungskrieg hört. Während der wochenlangen Belagerung legte der Krieg immer wieder Pausen ein, in denen sich die feindlichen Soldaten friedlich begrüßten und zusammensetzten. Gar nicht mehr versteht nun der Mann aus Wisconsin, wie sich nach solchen Verbrüderungsszenen die Soldaten noch gegenseitig töten konnten. "Der Befehl", wird ihm gesagt, "der Befehl duldet kein Fragen."

Diese Geschichte mit dem Titel "Der Abstecher" beschließt den neuen Erzählungsband von Siegfried Lenz. Mit ihrem Thema historisiert sie noch einmal das Problem des Gehorsams gegenüber Befehlen, das die Erzählung "Ein Kriegsende" (1984, auch verfilmt) beherrscht. Am Ende des Zweiten Weltkriegs weigert sich die Besatzung eines Minensuchers, das Todeskommando fortzusetzen, und meutert. Zwar ist hier die Entscheidungssituation der Gehorsamsverweigerer weitaus komplizierter als die im Gedankenspiel des Mannes aus Wisconsin, doch bedrängt der Erzähler weder dort noch hier den Leser mit moralischen oder pazifistischen Appellen, übergibt ihm vielmehr das Problem zur eigenen Entscheidung. Den Leser nicht zu bevormunden, ist seit jeher eine Tugend des Autors Siegfried Lenz.

Die Erzählung "Ein Kriegsende" schob sich zwischen die Romane "Der Verlust" (1981) und "Exerzierplatz" (1985). Überhaupt sucht Lenz zwischen den und während der Arbeiten an Romanen immer wieder Entspannung bei kürzeren Geschichten. Doch wurde, was Nebensache schien, oft zur Hauptsache. Die Kritik jedenfalls sparte sich in letzter Zeit die Begeisterung lieber für Erzählungsbände auf, das gilt zumindest für die Sammlungen "Einstein überquert die Elbe bei Hamburg" (1975) und "Das serbische Mädchen" (1987). Die Zwischengerichte werden zum Hauptgang.

Aber nicht alle taugen für literarische Gourmets, auch im vorliegenden Erzählungsband nicht. "Panik" ist die Geschichte eines Soldaten, der auf dem Übungsgelände an der Bretterwand aus Versehen den Feldwebel verletzt und glaubt, ihn getötet zu haben, der in Panik flieht und sich durch die nächtliche Stadt treiben läßt. Kopflos bleibt er auch, als er den Feldwebel lebend in einem Krankenzimmer entdeckt und vor freudiger Erregung den Wachtposten des Munitionsdepots vors Gewehr läuft. Merkwürdig unprofessionell wirkt die Erzählung. Als hätte sich eine Geschichte aus der Schublade in den Band geschmuggelt.

Man könnte sich diese Erzählung und ihren Autor auch als Opfer jenes Großen Zackenbarsches denken, der im vorhergehenden Text, einer Marcel Reich-Ranicki zum siebzigsten Geburtstag gewidmeten Satire, als Gleichnis für den Literaturkritiker steht und vom Meereskundler so beschrieben wird: durch keinen Köder verführbar, verschlingt er "die Beute nicht wahllos", sondern schnappt sich "vorzugsweise, was blendet, was verschleiert, was garniert und dekoriert". Die Kritikersatire bleibt konziliant, eher freundschaftlich als feindlich gesonnen. An kurzer Leine gehalten wird auch die Verspottung von Freizeitkultur und Animationsschnickschnack in "Atemübung". Der Spötter Lenz schwingt die Peitsche, aber als Dompteur der Satire.

Geht in "Atemübung" einem Runenforscher und Professor für Nordistik beim Wettpusten am sonnigen Strand die Luft aus, so wird unter dem verhangenen Himmel der Erzählung "Die Bewerbung" einem jungen Akademiker die Lebensatmosphäre dünn. Dr. Arno Andersen, der seine Dissertation über Seneca schrieb, gehört zu jenem Teil der Hochschulabsolventen, den das Förderband der Universität unmittelbar "auf der Halde landen" läßt. Die achte Bewerbung, auf ein Verlagslektorat, bringt endlich mit einem Vorstellungsgespräch einen Lichtblick, aber dann bietet man ihm auf Provisionsbasis den Hausverkauf eines dreibändigen Lexikons an. Dr. Andersen, der mit seinen sechsundzwanzig Jahren noch "wie ein höflicher Abiturient" aussieht, macht sich hoffnungsvoll auf den Weg in die Villenviertel Hamburgs. Aber man weiß schon von Anfang an, daß hier ein Blindgänger unterwegs ist. Seine Frau, Krankenschwester und Ernährerin, versucht ihn noch mit einer List ins Geschäft zu bringen, aber ihr kostspieliger Trick ist ein Schuß in den Ofen, die bittere Pointe einer traurigen Geschichte. Zur melancholisch-ironischen Grundstimmung trägt auch die Stadtkulisse bei: über Tage hinweg schneit es in Hamburg "so heftig, als arbeitete der Himmel im Akkord".

Vollends auf der Höhe seiner besten Erzählungen ist Lenz in der Titelgeschichte "Ludmilla". Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, gibt Sprachunterricht und Hilfestellung fürs neue Leben bei deutschstämmigen Auswanderern aus Sibirien und dem Wolgagebiet. Die zwanzigjährige Ludmilla, Tochter eines Geologen und Jägers aus Tomsk, ist seine Dolmetscherin und Assistentin beim Unterricht - intelligent, beweglich und dennoch wie eine Sendbotin aus einer anderen Welt: Tierheilerin, Honigsammlerin. Daß sie von einem Luxuskoch und Photographen als Modell erwählt wird und auf dem Titelblatt des Magazins "Die Feinschmeckerin" erscheint, verändert sie nicht. Und die sich anbahnende Liebesbeziehung zum Schriftsteller wird an feinen, aber unaufhebbaren Unterschieden zweier Kultur-und Lebensformen scheitern.

Wie Lenz das Scheitern erzählerisch vorbereitet und zugleich diese Vorbereitung kunstvoll verbirgt, wie er das wohlwollende Interesse für die Liebesbeziehung immer neu anfacht und zugleich, bis zum Unwillen des Lesers, stört durch die hartnäckigen Fragen und Beanstandungen eines Steuerprüfers, der in der Wohnung des Schriftstellers die Unkostenbelege durchmustert, wie aber ebendiese Belege, von Ludmilla entdeckt und als verletzend empfunden, eine verhängnisvolle Rolle spielen - alles dies zeigt den Erzählstrategen Lenz in seinem Element.

"Traurig grüßt die abgeschriebene Ludmilla." Mit diesem doppeldeutig-melancholischen Abschiedssatz endet die Liebesbeziehung. Hier ist kein Konflikt plakativ zugespitzt. Kein Naturkind aus der sibirischen Steppe wird von der Konsumwalze des Westens überrollt. Hier wagt sich die Liebe auf ein dünnes Seil, und ein harmloses rechnerisches Kalkül bringt sie aus dem Gleichgewicht. Siegfried Lenz entwickelt den Gegensatz zweier Lebenskulturen meisterlich an einer psychologischen Nuance. WALTER HINCK

Siegfried Lenz: "Ludmilla". Erzählungen. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1996. 174 S., geb., 32,- DM.

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