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Der siebenjährige polnisch-jüdische Jakob wird Zeuge, wie seine Familie von deutschen Soldaten ermordet wird. Er flüchtet sich in die Ausgrabungsstätte der versunkenen Stadt Biskupin. Dort entdeckt ihn ein griechischer Archäologe, der ihn nach Griechenland schmuggelt. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs lebt Jakob mit Athos, der ihn alles lehrt, was er weiß: Geographie, Geologie, Dichtkunst, Botanik, Archäologie. Langsam taucht Jakob aus seiner Verstörung auf und kehrt in die Welt zurück.
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Produktbeschreibung
Der siebenjährige polnisch-jüdische Jakob wird Zeuge, wie seine Familie von deutschen Soldaten ermordet wird. Er flüchtet sich in die Ausgrabungsstätte der versunkenen Stadt Biskupin. Dort entdeckt ihn ein griechischer Archäologe, der ihn nach Griechenland schmuggelt. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs lebt Jakob mit Athos, der ihn alles lehrt, was er weiß: Geographie, Geologie, Dichtkunst, Botanik, Archäologie. Langsam taucht Jakob aus seiner Verstörung auf und kehrt in die Welt zurück.

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Autorenporträt
Michaels, Anne
Anne Michaels wurde 1958 in Toronto geboren. Mit ihrem ersten Roman »Fluchtstücke« gelang ihr ein internationaler Bestseller, der in 30 Sprachen übersetzt wurde.

Howeg, Beatrice
Beatrice Howeg, aufgewachsen in Frankfurt am Main und London, studierte englische Literaturwissenschaften und Kinder- und Jugendliteratur in Frankfurt. Sie lebt in Berlin und überträgt u.a. Anne Michaels und James Salter ins Deutsche.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.1997

Friedensfutter für alle Zeiten
Gut gemeint: Anne Michaels errichtet ein Holocaust-Denkmal aus Worten / Von Lothar Müller

Im Jahre 1948 erschien in München das Buch "Aufzeichnungen aus einem Erdloch". Der Verfasser, ein gewisser Jakob Littner, berichtete darin, wie er im Jahre 1938 als Jude polnischer Staatsangehörigkeit aus seiner Existenz als Geschäftsmann in München gerissen wurde, über Prag in das bald von den Deutschen besetzte Polen geriet und den systematischen Ausrottungsmaßnahmen gegen die Juden im lehmigen Kelleruntergrund eines Hauses in der Gemeinde Zbaraz im Bezirk Tarnopol entging. Als der Bericht im Jahre 1991 erneut aufgelegt wurde, erwies sich der Name Jakob Littner als Pseudonym und Wolfgang Koeppen als der eigentliche Autor. Er hatte als junger Schriftsteller auf Vermittlung eines Verlegers die Erzählungen des aus der Welt der Vernichtung zurückgekehrten jüdischen Briefmarkenhändlers in Buchform gebracht.

Die kanadische Autorin Anne Michaels, Jahrgang 1958, betreibt in ihrem Erstlingsroman "Fluchtstücke" Mimikry mit der Literatur der Überlebenden des Holocaust. Sie erfindet sich einen polnischen Juden mit dem Namen Jakob Beer und läßt ihn in den Jahren 1992 und 1993 als knapp Sechzigjährigen seine Lebensgeschichte erzählen. Daß sie dies als Nachgeborene tut, macht ihr Unterfangen schwierig, nicht aber illegitim. Auch in Koeppens Text hat ja der Autor nicht selbst erlebt, wovon er als literarischer Stellvertreter in der Ich-Form berichtet. Und warum sollten aus dem Wissenwollen der Nachgeborenen nicht Bücher entstehen, die denen der Augenzeugen mit eigenem Recht an die Seite treten? Anne Michaels Jakob Beer aber könnte an der Seite Jakob Littners oder Primo Levis kaum bestehen. Das liegt nicht daran, daß er trotz der Fiktion des Autobiographischen aus der Recherche statt aus der Erinnerung hervorgegangen ist. Es liegt daran, daß die Autorin mit ihm zu hoch hinaus will.

Indem er sein individuelles Leben erzählt, soll Jakob Beer zugleich zur Symbolfigur für die Kraft der Erinnerung überhaupt werden. Das Erdloch, in dem er als Kind die Vernichtung seiner Familie überlebt, hat Anne Michaels nicht in Krakau oder Lemberg angesiedelt, sondern in Biskupin, dem "polnischen Pompeji". Aus dem Schlamm dieser Ausgrabungsstätte, die den Nazis als Beweis für die Existenz der alten slawischen Hochkultur ein Dorn im Auge war, wird Jakob von dem griechischen Geologen und Paläobotaniker Athos Roussos gerettet. Mit dem archäologischen Ursprung des Helden und den Wissensgebieten seines Retters ist früh das Bilderreservoir eröffnet, aus dem der metaphernsüchtige Roman bei seiner Überblendung von Geschichte und Naturgeschichte fortan schöpfen wird. Der Grieche heißt nicht nur wie ein heiliger Berg, er ist auch so. Ein Weiser, dessen Sentenzen über die Erinnerung, das Leben und den Tod den hohen Ton herausfordern, den die Aufzeichnungen des Jakob Beer anders als die des Jakob Littner immer wieder anstimmen.

Nachdem Athos den Jungen unter Lebensgefahr auf die Insel Zakynthos im Ionischen Meer geschmuggelt hat, führt er ihn in die Geschichte der Menschheit und der Materie von den alten Kosmologien bis zur Kontinentaldrifttheorie der modernen Geologie ein. Die süchtige Versenkung in die geologische Zeit, so heißt es einmal, bewahre den jungen Jakob vor der Erinnerung an das Jüngstvergangene, an die erschlagenen Eltern und die verschleppte Schwester. Doch bleiben die Wissensbestände, die der Roman aufhäuft, auf diese Funktion der Schmerzlinderung nicht beschränkt. Sie beginnen ein Eigenleben zu führen, das zur Fiktion autobiographischen Erzählens mehr und mehr in Konkurrenz gerät.

Athos' Lehren, aus denen ein ganzes Kompendium von Metaphern und Symbolen des Räsonierens über die kulturelle Bedeutung der Erinnerung hervorgeht, schieben sich wie ein Schleier vor die Geschichte des Heranwachsenden, der als Jude auch im von Deutschen besetzten Griechenland im Versteck leben muß. Im Zweifelsfall hat stets das Grübeln über Schallwellen, Galaxien, Sternenlicht und Gesteinsschichten Vorrang vor der Schilderung der Ängste und Gewohnheiten des Lebens im Verborgenen. Sowenig es zwischen Schüler und Meister je zum Streit über Kleinigkeiten kommt, so wenig ist im Lebensrückblick des Jakob Beer von Schrecknissen der Pubertät die Rede, wie sie etwa der im Alter von elf Jahren nach Frankreich emigrierte Georges-Arthur Goldschmidt in "Die Aussetzung" Gestalt gewinnen läßt. Die Beine des Versteckten sind bei den ersten Schritten in Freiheit dünn wie Kordeln, ohne daß sich die Erinnerung an den Hunger tief in den Text eingraben würde.

Allzusehr verläßt sich Anne Michaels darauf, daß die autobiographische Fiktion die Verwandlung recherchierter in scheinbar erinnerte Geschichte garantiert. An die Stelle strenger Konzentration auf die Perspektive einer individuellen Lebens- und Leidensgeschichte setzt sie immer wieder den Panoramablick, der über die Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung insgesamt schweift und dabei hier auf ein bedeutsames Detail, dort auf unbekannte Verbindungslinien stößt. Es ist der Blick des Lesers der vielen Geschichten, nicht des Erzählers der einen eigenen Geschichte. Es gibt dafür im Roman einen offiziellen Grund. In der Nachkriegszeit stellt Athos, der einen Ruf an die Universität Toronto angenommen hat und mit Jakob nach Kanada gezogen ist, von dort aus Nachforschungen an, um das Schicksal Bellas, der verschwundenen Schwester Jakobs, zu klären. Jakob selbst wird aus Treue zu Bella, deren Schicksal er zumindest imaginieren will, ein unermüdlicher Leser und dann auch Übersetzer von Berichten aus der Welt des Holocaust.

Nach dem Tod des Zeitschichtendeuters Athos gibt er dessen verstreute Aufsätze und das Buch "Falsches Zeugnis" heraus, das gegen den Mißbrauch der Archäologie durch die Nazis geschrieben ist. Er selbst wird zum Dichter, der in der Poesie "die wiederherstellende Macht der Sprache" entdeckt. So macht Anne Michaels aus ihrem Jakob Beer, dem aus dem Sumpf in Biskupin gezogenen Überlebenden, die Stimme des kollektiven Gedächtnisses, eine nahezu allegorische Idealfigur, in der die jüdische Kultur der Erinnerung selbst Gestalt anzunehmen scheint. Ihr Roman birst fast unter der Last des Wissens und unter dem lyrischen Pathos, mit dem er die Heilkraft der Erinnerung beschwört.

Vor allem darin wird die Geschichte des Jakob Beer als literarische Entsprechung zur Einrichtung immer neuer Holocaust-Memorials in den neunziger Jahren kenntlich. Kein Stichwort der jüngeren Debatten um Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens, keine Erinnerungsmetapher ist im Buch ausgelassen. Allgegenwärtig sind dank des von Athos repräsentierten Wissens um die Durchdringung von Zeit und Materie die Steine und Fossilien, das Ausgraben und das Entziffern verschütteter Spuren. Manchmal scheint aus Jakob Beer nicht der sechzigjährige polnische Jude zu sprechen, sondern der kaum halb so alte Teilnehmer eines Holocaust-Seminars in Amerika oder Kanada, der den Schrecken der Geschichte durch ihre extravagante Analogisierung mit Naturphänomenen zu bannen sucht. Dann wird der erste Ziegelstein, der in der "Kristallnacht" ein Fenster durchbricht, ein Verwandter jenes Ziegelsteins, von dem ein moderner Physiker schaudernd sagte, die in ihm schlafende Energie reiche aus, eine Millionenstadt dem Erdboden gleichzumachen.

Die Aufzeichnungen Jakob Littners erschienen in einer Zeit des Verschweigens und Leugnens. Der Roman von Anne Michaels erscheint auf dem Höhepunkt der allgegenwärtigen Musealisierung und Historisierung des Holocaust. Anders als in der realen Debatte jedoch gibt es in diesem Roman keine Stimme, die vor der Hypertrophie der Erinnerung und ihrer Rituale warnt. Das Denkmal aus Worten, als das er konstruiert ist, bleibt durch die nicht nur von Propagandisten des Vergessens geäußerte Skepsis gegenüber den Entlastungsfunktionen des Denkmalkultes unberührt. Wie die gern archaisierende Sprache der Erinnerung, die Jakob Beer vom erdkundigen Athos lernt, strahlt auch die gelingende Liebe als Erlösungsmedium im Glanz ungetrübter Positivität. Zur geologischen Metaphorik tritt die mythologisch gesättigte des Blitzes, der katastrophisch-plötzlich hereinbrechenden Gnade. In ihrem Zeichen findet Jakob Beer mit seiner zweiten Frau Michaela ein vollkommenes Glück, ehe er im Frühjahr 1993 in Athen mit ihr zusammen einem Unfalltod zum Opfer fällt. "Jede Zelle meines Körpers ist ausgetauscht worden, die neuen sind mit Frieden gesättigt."

Anne Michaels beläßt es nicht bei der Geschichte der Erlösung des Jakob Beer durch die vereinigten Kräfte von Liebe und Erinnerung. Sie fügt auf den letzten hundert Seiten des Romans eine Coda an, in der ein neuer Ich-Erzähler auftritt. Er ist als Sohn europäischer Juden, die den Lagern entkamen, nach dem Krieg in Toronto geboren und aufgewachsen. Ben ist ein Leser der Werke Jakob Beers, den er an der Universität noch flüchtig kennengelernt hat. Mit der ausgetüftelten Korrektheit einer Abschlußarbeit in "creative writing" ist diese Coda spiegelbildlich auf den ersten Teil des Romans bezogen. Dem Motiv der versunkenen Stadt Biskupin entspricht das Über-die-Ufer-Treten des Flusses Humble, der das Elternhaus Bens zerstört. Als Gegenbilder zur Sprachwerdung der erinnerten Leiden hüten Bens Eltern zäh schweigend das erst nach ihrem Tod aufgedeckte Geheimnis der Existenz zweier Geschwister Bens, die die Vernichtung nicht überlebten.

Ben findet die nachgelassenen Notizbücher Jakob Beers und verschafft so dem ersten Teil des Romans eine erzähltechnisch plausible Grundlage. Und er findet wie Jakob Beer im hoch aufgeladenen Blitz einer erotischen Begegnung zum befreienden Blick auf sich selbst. Ben und seine Frau Naomi interessieren sich für die jiddischen Wiegenlieder in den Ghettos, für den Kadesch, den man den Toten singt, für Gaston Bachelard und Walter Benjamin, für die "Formen der Biographie". Als intellektuelle Zeitgenossen der späten sechziger bis frühen neunziger Jahre haben sie nur einen blinden Fleck. Sie stehen als Nachgeborene lediglich dem Schweigen der Überlebenden, nicht dem mit den Nachkriegsjahrzehnten anschwellenden Rede- und Bilderstrom über die Vernichtung der europäischen Juden gegenüber. Weder scheinen sie in den siebziger Jahren die Fernsehserie "Holocaust" noch in den neunziger Jahren die zahlreichen Studien über Trauma und Gedächtnis wahrzunehmen. Die Eröffnung des "United States Holocaust Memorial Museum" in Washington in ebenjenem Frühjahr 1993, in dem Jakob Beer, die Stimme der Erinnerung, in Athen verunglückt, ist dem schreibenden Ben keine Erwähnung wert. So spart Anne Michaels mit eigentümlicher Konsequenz die historische Konstellation der medialen und reflexiven Erinnerungsvervielfältigung aus, aus der ihr Roman doch erkennbar hervorgegangen ist. Sie sichert damit der poetischen Prosa ihres Romans die Aura des authentischen Ursprungs und die Distanz zur Sphäre der modernen Medien. Nicht zuletzt mit dieser scheinbaren Rückverwandlung der sekundären, medial vermittelten Erinnerung der Nachgeborenen in die ursprünglich-authentische Erinnerung dürfte der Erfolg zu tun haben, den das Buch nicht nur in Kanada erzielt hat.

Schon hat die hiesige Kritik die "Fluchtstücke" als kongeniales episches Gegenstück zur "Todesfuge" Paul Celans gefeiert und damit die Differenz zwischen einer Sprache der panoramatischen Beschwörung und einer Sprache der hochgradigen Verdichtung des Schreckens verwischt. Die motivischen Parallelen zwischen diesem Roman und dem Werk Celans sind freilich auffällig. Zwar ist Jakob Beer ein Dichter ohne Werdegang und ohne Werkstatt. Seine Gedichte sind in seiner Geschichte nur als Namen und Behauptung anwesend. Doch will sein Gedichtband "Erdarbeiten", der die poetische Konsequenz aus den Lehren des profanen Heiligen Athos zieht, "die Geologie der Massengräber nachzeichnen". Ebendies ließe sich von Celan sagen, der ein kenntnisreicher Geologe war, in seinen Gedichten allerdings die Lehrbücher dieser Disziplin sehr viel verschwiegener nutzte als Anne Michaels in ihrem Roman. In Celans Sprache ist die Allianz von Poesie, Geologie und Gedenken eingegangen, die in der Geschichte Jakob Beers wortreich beschworene Leerstelle bleibt.

Anne Michaels: "Fluchtstücke". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Beatrice Howeg. Berlin Verlag, Berlin 1997.

366 S., geb., 39,80 DM.

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