Ein Jahrhundert persische Geschichte
Als eines Tages das Wasser versiegte, glaubte Eskandars Mutter, dass sie einen Fluch auf ihr Dorf gezogen hat, als sie einen Fremden ansah. Wir sind im südlichen Persien (heute Iran), im Jahr 1908. Seit Generationen sind die Dorfbewohner als Leibeigene des
Stammesfürsten gewohnt, dass ihr Herr sich nimmt, was er braucht, auch Frauen und kleine Mädchen. Der…mehrEin Jahrhundert persische Geschichte
Als eines Tages das Wasser versiegte, glaubte Eskandars Mutter, dass sie einen Fluch auf ihr Dorf gezogen hat, als sie einen Fremden ansah. Wir sind im südlichen Persien (heute Iran), im Jahr 1908. Seit Generationen sind die Dorfbewohner als Leibeigene des Stammesfürsten gewohnt, dass ihr Herr sich nimmt, was er braucht, auch Frauen und kleine Mädchen. Der kleine Eskandar wagt sich eines Tages als erster aus dem Dorf auf die hohe Sanddüne, die für die Menschen hier bisher das Ende ihrer Welt bedeutete. Eskandar berichtet, dass hinter der Düne Menschen mit gelben Haaren Löcher in den Boden graben. Diese Fremden haben Wasser, der Stammesfürst hat schlicht das Wasser zu ihnen umgeleitet und dem Dorf damit die Lebensgrundlage entzogen. Als Eskandars Mutters stirbt, schleicht der Junge sich ins Lager zu Mister Richard, der wegen seines Berufs schon seit Jahren von seiner Familie getrennt lebt. Eskandar lernt schnell und weiß sich im Lager der Erdölprospektoren nützlich zu machen. Eskandar erlebt als Augenzeuge die erste erfolgreiche Bohrung nach Erdöl auf persischem Staatsgebiet mit. Der Junge schnappt die Sprache der Fremden mühelos auf und saugt wie ein Schwamm Geschichten und Informationen auf. Mister Richard ermöglicht seinem wissbegierigen Pflegesohn Unterricht. Der Mullah dort, der Eskandar u. a. unterrichtet, wird als Richter, Hakim und Vorbeter respektiert. Je mehr Eskandar selbst lernt, umso klarer wird ihm, dass viele der Mullahs kaum etwas darüber wissen, was außerhalb ihres Dorfes geschieht. Nicht nur Eskandar weiß, dass man die richtigen Worte finden muss, um die Menschen zu erreichen. Der Khan will die Geschichten der großen persischen Helden aus Eskandars Fundus zur militärischen Ausbildung nutzen. - Eskandar arbeitet als Diener, Schreiber, Händler und lernt - wieder durch einen glücklichen Zufall - von einem Fremden das Fotografieren und Entwickeln von Fotos. Aus dem elternlosen Jungen ist ein gebildeter Mann geworden, der darin aufgeht, die Zeitgeschichte Persiens in Wort und Bild zu dokumentieren. So ist es Eskandars Aufgabe, den Lesern die Motive der ausländischen Mächte zu erklären, die den schwachen persischen König gegen die Demokratiebewegung im Land stützten, um das Erdölgeschäft in der Hand zu behalten. - Mit dem Fortschreiten der Handlung ist mir der wissbegierige kleine Junge entglitten; denn Eskandar dient nun der Dramaturgie der Autorin, die eine Zeitspanne von 70 Jahren beschreiben und die persische Geschichte bis in die Gegenwart abhandeln will. Mit jedem Kapitel, das ich aufschlug, hatte ich den Eindruck, einer Geschichten-Erzählerin in einem Teehaus zu lauschen. Die Autorin weckt Verständnis für einige Sitten, die Europäern fremd erscheinen mögen. Wer gelernt hat, dass nur Frauen selbst einkaufen gehen, die keine Diener, Brüder oder Söhne haben, wird nichts Negatives daran finden können, wenn Frauen das Haus nicht verlassen. Eskandar erkennt bei seiner Hochzeitsfeier, dass der Mullah die Hochzeitsformel falsch spricht, weil er den Text nur auswendig aufsagt, ohne selbst Arabisch lesen oder verstehen zu können. Ein subtiler Hinweis auf die dem Islam vorgeworfene mangelnde Reformbereitschaft. - Krieg, Armut und fehlende Schulbildung werden wie Naturgesetze geschildert. Eskandars häufiges zufälliges Zusammentreffen mit wohltätigen Gönnern wirkt doch sehr unwahrscheinlich. Am fesselndsten fand ich Szenen aus den Haushalten, in denen Eskandar diente, und die entschiedene Stellungnahme seiner Frau zum Verbot der Verschleierung im Zuge der Reformen durch Reza Schah Pahlavi. In Aftabs Urteil, dass sie als moderne Frau Diskussionen über Bekleidung nicht fortschrittlich findet, können sich vermutlich noch heute viele muslimische Frauen wiederfinden. Mich hat das Vermitteln von Geschichte in Geschichten nicht bis zum Ende der Handlung begeistert, obwohl mich Eskandars Erlebnisse sehr berührt haben.