Marcel, der am Ende von "Sodom und Gomorra" Albertine heiratete, hält sie vor den Augen der Welt versteckt und wird damit zum Gefangenen seiner eigenen Eifersucht. Gerade im Versuch, sie zu besitzen, entgleitet ihm seine Liebe. Nichts scheint mehr sicher - Zärtlichkeiten, Gesten, Worte - werden zu trügerischen Zeichen.
Man kann Peter Matic dabei zuhören, wie er mit großer Eleganz Prousts Gedanken zu einem großformatigen Sittengemälde ausrollt und es ihm gelingt, das Verrinnen der Zeit im Rausch des puren Zuhörens anzuhalten.
(17 CDs, Laufzeit: 21h 15)
Man kann Peter Matic dabei zuhören, wie er mit großer Eleganz Prousts Gedanken zu einem großformatigen Sittengemälde ausrollt und es ihm gelingt, das Verrinnen der Zeit im Rausch des puren Zuhörens anzuhalten.
(17 CDs, Laufzeit: 21h 15)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.08.2010Ewigkeitswert für einen Augenblick
Das Hörbuch: Es ist vollbracht – Peter Matic hat Marcel Prousts „Die wiedergefundene Zeit“ eingelesen
Weil alles seine Zeit hat, kommt nun auch diese an ihr Ende. Nach 9380 Minuten, festgehalten auf 128 CDs, nach 156 Stunden und 20 Minuten also oder sechseinhalb ununterbrochenen Tagen, mündet die erste komplette Lesung der „Recherche du temps perdu“ in das Wort, mit dem alles begann, das Wort namens Zeit. Diese und der Weltkrieg, der Erzähler und der Baron von Charlus sind die vier Hauptdarsteller des letzten, ausreichend monumentalen Teils „Die wiedergefundene Zeit“. Peter Matic liest ihn mit derselben noblen Geschmeidigkeit, derselben zurückhaltenden, leicht austriakisch eingefärbten Akkuratesse, die bereits während der 137 Stunden zuvor die „Landschaften unseres Lebens“ und deren innere Geographie plastisch auferstehen ließen.
Wie bannt man das Ich, wie fasst man die Zeit? Marcel Proust schichtet das Thema der „Recherche“ hier neu ineinander, greift sämtliche Themen und Tonlagen noch einmal auf, um sie in einem letzten Entschluss aufzuheben. Der bisher nicht durch sein Agieren, sondern sein Räsonieren und seinen Müßiggang charakterisierte Erzähler will jenes Buch endgültig schreiben, das uns als „Recherche“ bereits vorliegt, die teleskopische Geschichte, wie ein Mensch zur Welt und die Welt in den Menschen kam. Welt meint hier alle sonderbaren Dinge zwischen gedämpftem Rindfleisch und begehrtem Menschenleib, Geräusch und Geruch und Bewegung, die dem Geist ein Erleben seiner selbst schenken. Der Ich-Erzähler wird auf diesem Weg um Erkenntnisse, wie sie ihm perlengleich aus der Feder rieseln, einen Bogen machen: „Ein Buch, das Theorien enthält, ist wie ein Gegenstand, an dem noch ein Preisschild hängt.“
Theoriengesättigt und handlungsreich ist die „Wiedergefundene Zeit“. Sie besteht aus präzisen inneren wie äußeren, nach Art eines Rondos wiederkehrenden Handlungen. Der Erste Weltkrieg bildet den zeitgeschichtlichen Hintergrund. Im Pariser Salon der Madame Verdurin oder bei Monsieur Bontemps findet das große Kriegspalaver statt. Draußen tragen die Damen „zylinderartige Hüte“, Riemengebilde an den Füßen und „Tonnenkleider“ als Zeichen patriotischer Gesinnung. Der Erzähler notiert kühl, zu den „glücklichsten Fügungen dieses traurigen Krieges“ gehöre die Fähigkeit, „aus einem bloßen Nichts kokette Dinge zu zaubern“. Er protokolliert, er kommentiert, er lässt sich unwillkürlich davontragen ins Vergangene, sobald das Geräusch einer Dampfröhre oder der Klang eines Löffels, der den Teller berührt, ihn auf eine „Erinnerungsstrecke“ führt. Madame Verdurin erhält derweil Croissants gegen ihre Migräne, dank eines Attests von Dr. Cottard. „Ach“, entfährt es ihm, „ach, hätte Albertine noch gelebt“, zu der er in der „allerschmerzlichsten, eifersüchtigsten und, wie es scheint, individuellsten Liebe“ sich verbunden wusste, „ach, ich war allein.“
Die Wonnen der Melancholie bleiben in der „menschlichen Flora“ ephemer wie jene des Glücks. Im Gegensatz zum bisherigen Empfinden verdankt sich das „Freudegefühl“ jetzt einer anderen inneren Schichtung. Proust kleidet den Wandel in einen seiner typischen Schachtelsätze, die zu lesen und zu akzentuieren höchste Konzentration erfordert. „Das kam daher“, hebt Matic fast im Märchenton an und lässt die erste kleine Pause folgen, um in einem Rutsch anzuschließen, „dass das Glück, welches ich verspürte, nicht mehr aus einer rein subjektiven Spannung meiner Nerven herrührte, die uns von der Vergangenheit isoliert“, – kurzes Innehalten – „sondern im Gegenteil von einer Ausweitung meines Geistes, in dem sich die Vergangenheit neu gestaltete“, – kleine Pause – „zur Gegenwart wurde“, – Pause – „und mir“ – Pause – „nur für den Augenblick – ach – Ewigkeitswert verlieh.“
Wenn Glück Vergegenwärtigung meint: Wie ist es dann um die aktuell erlebte Gegenwart bestellt? „Alles nutzt sich ab, alles geht unter“, aber für Verzweiflung hat der Erzähler wie jeder „Gesellschaftsmensch“ keinen Raum in sich. Auch der erst soziale, dann physische Untergang des Baron von Charlus, eines halbgebildeten Gecken, der sich während des Krieges im „Tempel der Schmach“ mit einer Nagelpeitsche traktieren lässt und aus Gründen der Männerknappheit „sich mit kleinen Jungen abzugeben“ lernt, bleibt dem Betrachter ein Schauspiel. „Der alte, heruntergekommene Fürst“, blind und gelähmt, wird zur König-Lear-Figur. Matic schenkt ihm einen bewegenden Abgang, indem er sich dessen verzerrte, abgehackte Redeweise zu eigen macht: „Er fand kein Ende, alle Angehörigen seiner Familie oder seiner Kreise aufzuzählen, die nun nicht mehr waren. (. . . ) Mit triumphierender Härte beinahe wiederholte er monoton, leicht stotternd und grabesdumpf . . . “ – es folgt das Defilée der Toten.
Uns gewöhnlich unsichtbar
Die Zeit, die wiedergefunden wird, ist das, was bleiben wird im Wort. Das Glöckchen an der Gartentür, das in Combray erklang, die Pflastersteine vor dem Palais der Guermantes, der Geschmack der Madeleines und immer wieder diese und jene besondere Körperdehnung, denn „Beine und Arme sind voll von schlummernden Erinnerungen“: Alle diese Reize können das Vergangene gegenwärtig setzen und so die Gegenwart durchleuchten. Peter Matic findet hierfür einen Klang, der seinerseits kostbar ist und elegant und nach Erlebtem schmeckt, ganz so, als würde er „die Gestalt bezeichnen, (. . . ) die uns gewöhnlich unsichtbar bleibt, die Zeit.“
ALEXANDER KISSLER
MARCEL PROUST: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 7. Die wiedergefundene Zeit. Der Hörverlag, München 2010. 15 CDs, ca. 1137 Min., 99 Euro.
Peter Matic, hier in einer Aufführung der Volksoper Wien im vergangenen Jahr Foto: Lilli Strauss/AP
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Das Hörbuch: Es ist vollbracht – Peter Matic hat Marcel Prousts „Die wiedergefundene Zeit“ eingelesen
Weil alles seine Zeit hat, kommt nun auch diese an ihr Ende. Nach 9380 Minuten, festgehalten auf 128 CDs, nach 156 Stunden und 20 Minuten also oder sechseinhalb ununterbrochenen Tagen, mündet die erste komplette Lesung der „Recherche du temps perdu“ in das Wort, mit dem alles begann, das Wort namens Zeit. Diese und der Weltkrieg, der Erzähler und der Baron von Charlus sind die vier Hauptdarsteller des letzten, ausreichend monumentalen Teils „Die wiedergefundene Zeit“. Peter Matic liest ihn mit derselben noblen Geschmeidigkeit, derselben zurückhaltenden, leicht austriakisch eingefärbten Akkuratesse, die bereits während der 137 Stunden zuvor die „Landschaften unseres Lebens“ und deren innere Geographie plastisch auferstehen ließen.
Wie bannt man das Ich, wie fasst man die Zeit? Marcel Proust schichtet das Thema der „Recherche“ hier neu ineinander, greift sämtliche Themen und Tonlagen noch einmal auf, um sie in einem letzten Entschluss aufzuheben. Der bisher nicht durch sein Agieren, sondern sein Räsonieren und seinen Müßiggang charakterisierte Erzähler will jenes Buch endgültig schreiben, das uns als „Recherche“ bereits vorliegt, die teleskopische Geschichte, wie ein Mensch zur Welt und die Welt in den Menschen kam. Welt meint hier alle sonderbaren Dinge zwischen gedämpftem Rindfleisch und begehrtem Menschenleib, Geräusch und Geruch und Bewegung, die dem Geist ein Erleben seiner selbst schenken. Der Ich-Erzähler wird auf diesem Weg um Erkenntnisse, wie sie ihm perlengleich aus der Feder rieseln, einen Bogen machen: „Ein Buch, das Theorien enthält, ist wie ein Gegenstand, an dem noch ein Preisschild hängt.“
Theoriengesättigt und handlungsreich ist die „Wiedergefundene Zeit“. Sie besteht aus präzisen inneren wie äußeren, nach Art eines Rondos wiederkehrenden Handlungen. Der Erste Weltkrieg bildet den zeitgeschichtlichen Hintergrund. Im Pariser Salon der Madame Verdurin oder bei Monsieur Bontemps findet das große Kriegspalaver statt. Draußen tragen die Damen „zylinderartige Hüte“, Riemengebilde an den Füßen und „Tonnenkleider“ als Zeichen patriotischer Gesinnung. Der Erzähler notiert kühl, zu den „glücklichsten Fügungen dieses traurigen Krieges“ gehöre die Fähigkeit, „aus einem bloßen Nichts kokette Dinge zu zaubern“. Er protokolliert, er kommentiert, er lässt sich unwillkürlich davontragen ins Vergangene, sobald das Geräusch einer Dampfröhre oder der Klang eines Löffels, der den Teller berührt, ihn auf eine „Erinnerungsstrecke“ führt. Madame Verdurin erhält derweil Croissants gegen ihre Migräne, dank eines Attests von Dr. Cottard. „Ach“, entfährt es ihm, „ach, hätte Albertine noch gelebt“, zu der er in der „allerschmerzlichsten, eifersüchtigsten und, wie es scheint, individuellsten Liebe“ sich verbunden wusste, „ach, ich war allein.“
Die Wonnen der Melancholie bleiben in der „menschlichen Flora“ ephemer wie jene des Glücks. Im Gegensatz zum bisherigen Empfinden verdankt sich das „Freudegefühl“ jetzt einer anderen inneren Schichtung. Proust kleidet den Wandel in einen seiner typischen Schachtelsätze, die zu lesen und zu akzentuieren höchste Konzentration erfordert. „Das kam daher“, hebt Matic fast im Märchenton an und lässt die erste kleine Pause folgen, um in einem Rutsch anzuschließen, „dass das Glück, welches ich verspürte, nicht mehr aus einer rein subjektiven Spannung meiner Nerven herrührte, die uns von der Vergangenheit isoliert“, – kurzes Innehalten – „sondern im Gegenteil von einer Ausweitung meines Geistes, in dem sich die Vergangenheit neu gestaltete“, – kleine Pause – „zur Gegenwart wurde“, – Pause – „und mir“ – Pause – „nur für den Augenblick – ach – Ewigkeitswert verlieh.“
Wenn Glück Vergegenwärtigung meint: Wie ist es dann um die aktuell erlebte Gegenwart bestellt? „Alles nutzt sich ab, alles geht unter“, aber für Verzweiflung hat der Erzähler wie jeder „Gesellschaftsmensch“ keinen Raum in sich. Auch der erst soziale, dann physische Untergang des Baron von Charlus, eines halbgebildeten Gecken, der sich während des Krieges im „Tempel der Schmach“ mit einer Nagelpeitsche traktieren lässt und aus Gründen der Männerknappheit „sich mit kleinen Jungen abzugeben“ lernt, bleibt dem Betrachter ein Schauspiel. „Der alte, heruntergekommene Fürst“, blind und gelähmt, wird zur König-Lear-Figur. Matic schenkt ihm einen bewegenden Abgang, indem er sich dessen verzerrte, abgehackte Redeweise zu eigen macht: „Er fand kein Ende, alle Angehörigen seiner Familie oder seiner Kreise aufzuzählen, die nun nicht mehr waren. (. . . ) Mit triumphierender Härte beinahe wiederholte er monoton, leicht stotternd und grabesdumpf . . . “ – es folgt das Defilée der Toten.
Uns gewöhnlich unsichtbar
Die Zeit, die wiedergefunden wird, ist das, was bleiben wird im Wort. Das Glöckchen an der Gartentür, das in Combray erklang, die Pflastersteine vor dem Palais der Guermantes, der Geschmack der Madeleines und immer wieder diese und jene besondere Körperdehnung, denn „Beine und Arme sind voll von schlummernden Erinnerungen“: Alle diese Reize können das Vergangene gegenwärtig setzen und so die Gegenwart durchleuchten. Peter Matic findet hierfür einen Klang, der seinerseits kostbar ist und elegant und nach Erlebtem schmeckt, ganz so, als würde er „die Gestalt bezeichnen, (. . . ) die uns gewöhnlich unsichtbar bleibt, die Zeit.“
ALEXANDER KISSLER
MARCEL PROUST: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 7. Die wiedergefundene Zeit. Der Hörverlag, München 2010. 15 CDs, ca. 1137 Min., 99 Euro.
Peter Matic, hier in einer Aufführung der Volksoper Wien im vergangenen Jahr Foto: Lilli Strauss/AP
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