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Die Kultur der Lüge entstand als Reaktion auf den Zerfall Jugoslawiens, auf den unseligen Krieg in Kroatien wie in Bosnien. Die Essays analysieren, was in Ex-Jugoslawien geschieht: Aggression gegen den eigenen »Bruder«; künstlich herbeigeführte Amnesie; Rekurs auf nationalfaschistische Ideologien; Propaganda und Zensur; Folklorekitsch als Kultur der Lüge; Schriftsteller und Intellektuelle im Strudel des Nationalismus."

Produktbeschreibung
Die Kultur der Lüge entstand als Reaktion auf den Zerfall Jugoslawiens, auf den unseligen Krieg in Kroatien wie in Bosnien. Die Essays analysieren, was in Ex-Jugoslawien geschieht: Aggression gegen den eigenen »Bruder«; künstlich herbeigeführte Amnesie; Rekurs auf nationalfaschistische Ideologien; Propaganda und Zensur; Folklorekitsch als Kultur der Lüge; Schriftsteller und Intellektuelle im Strudel des Nationalismus."
Autorenporträt
Dubravka Ugreši¿, 1949 in Kutina geboren, war eine kroatische Schriftstellerin. Sie studierte und lehrte an der Universität in Zagreb. Ihr Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Heinrich-Mann-Preis 2000. Ugreši¿ lebte und arbeitete als freie Autorin in Amsterdam. Sie starb am 17. März 2023 im Alter von 73 Jahren in ihrem Amsterdamer Exil.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.2000

Und so reckt der Hohepriester des Chaos auch weiterhin sein Kinn
Seit zehn Jahren ist Krieg auf dem Balkan: Die Biografie des Slobodan Milosevic lehrt, wie in Serbien eine Kultur der Lüge wachsen konnte

Wenn es um das Phänomen Slobodan Milosevic geht, werden immer wieder zwei Arten von Erklärungen angeboten. Die eine macht ihn für alles verantwortlich, was im jugoslawischen Bürgerkrieg geschehen ist, und sagt voraus, dass Serbien nach seinem Tod wieder zur Vernunft kommen wird. Der andere Erklärungsversuch geht davon aus, dass die Serben eingefleischte Nationalisten sind, und bezweifelt, dass sich nach Milosevic viel ändern wird. In ihrer neuen Milosevic-Biografie greifen Dusko Doder und Louise Branson auf beide Erklärungsmuster zurück und lassen ihre Leser im Unklaren darüber, welcher Perspektive mehr Gewicht zugemessen werden sollte.

Während ich diesen Widersprüchen nachging, fiel mir ein Bild des jungen Milosevic auf der Titelseite einer Belgrader Wochenzeitung in die Hände. Er ist auf diesem Bild neunzehn Jahre alt, seine zukünftige Frau ist achtzehn. Die beiden sitzen auf den Rängen eines Sportstadions, gut gekleidet und attraktiv. Wenn man sie anschaut, sieht man zwei wohlerzogene junge Menschen, die vermutlich fleißig lernen, alten Damen über die Straße helfen und gerade schüchtern ihre Liebe zueinander entdeckt haben. Es muss aus dem ehemaligen Jugoslawien tausende solcher Schnappschüsse von netten, unschuldigen jungen Leuten geben, die später ihre Nachbarn umgebracht haben. Die Gesichter auf diesen Bildern lassen nichts von den Schrecken und Tragödien der letzten neun Jahre erkennen, von den Hunderttausenden, die vertrieben und getötet wurden, von den Städten und Dörfern, von denen nur noch Ruinen übrig geblieben sind. Ich habe so viele Erklärungen gehört, aber für mich erzählt keine von ihnen die ganze Geschichte.

Der Mann, den die westlichen Medien mit Hitler verglichen haben, wurde am 22. August 1941 in Pozarevac geboren, einer Stadt, die eine Autostunde östlich von Belgrad liegt und vor allem für ihr Gefängnis bekannt ist. Milosevics Vater war ein orthodoxer Priester, seine Mutter Lehrerin. Sie waren kurz vor seiner Geburt mit ihrem dreijährigen Sohn Borislav von Montenegro nach Serbien gezogen. Die Nazis hatten Jugoslawien im April besetzt, nachdem ein Putsch serbischer Offiziere die Regierung gestürzt und das vierundzwanzig Stunden vorher unterzeichnete Neutralitätsabkommen mit Hitler aufgehoben hatte. Der Putsch wurde in den Straßen von Belgrad von jubelnden Massen gefeiert, die "Lieber Krieg als Vertrag" skandierten. Hitler reagierte sofort. Am 6. April wurde die Stadt im Rahmen der "Operation Bestrafung" bombardiert.

Für meinen Vater und meinen Großvater war der Putsch eine heroische Tat in nobelster serbischer Tradition: Wir durften in dieser schwierigen Situation unsere Verbündeten England und Frankreich nicht im Stich lassen. Meine Mutter hat den Putsch bis an ihr Lebensende für eine der dümmsten Entscheidungen gehalten, die die Serben je getroffen haben. In jenem Frühjahr gab es Aufstände gegen die Nazis auf Seiten der von Mihailovic geführten Monarchisten und der von Tito geführten Kommunisten. Es kam zum Bürgerkrieg, der sich nach Montenegro, Bosnien und Hercegovina ausbreitete, wo die kroatischen Faschisten schon damit begonnen hatten, Serben, Juden und Sinti zu massakrieren.

Es erstaunt, zu sehen, dass von den 700 000 bis 800 000 Jugoslawen, die im Zweiten Weltkrieg starben, die meisten nicht von den Nazis, sondern von ihren eigenen Landsleuten umgebracht wurden. In dem Dorf bei Belgrad, in dem meine Mutter und ich immer meinen Großvater besuchten, wurden wir 1944 jeden Morgen durch die Nachricht geweckt, dass jemand ermordet aufgefunden worden war. Da jede der kämpfenden Gruppierungen ihre eigene Art zu töten hatte, versuchten wir anhand der Exekutionsweise die Mörder herauszufinden. In dieser Zeit brachen Familien auseinander, weil ihre Mitglieder sich an verschiedenen Fronten gegenüberstanden. Auch unsere Familie war gespalten.

Milosevic' Frau Mirjana Markovic ist ein Kind dieser schrecklichen Zeiten. Ihre Mutter entstammte einer gut situierten Familie und studierte Französisch an der Universität in Belgrad, wo sie sich in einen Studenten verliebte, der bereits ein angesehenes Mitglied der verbotenen Kommunistischen Partei war. Ihre Tochter Mirjana (oder Mira) wurde 1942 geboren, "ein Zufallsprodukt wilder Partisanenorgien in den Wäldern", wie Danica Draskovic, die Ehefrau des Oppositionsführers Vuk Draskovic, es vor einigen Jahren beschrieben hat. Mira wurde bald zu ihren Großeltern nach Pozarevac geschickt, damit ihre Mutter sich der Arbeit im kommunistischen Untergrund widmen konnte. Sie wurde 1943 von der Gestapo festgenommen und gefoltert. Als kurz darauf prominente Parteimitglieder verhaftet und ihre Organisationen zerschlagen wurden, entstand der Verdacht, Miras Mutter habe ihre Genossen verraten. Die Kommunisten behaupteten allerdings, sie sei von der Gestapo hingerichtet worden. Wahrscheinlicher ist, dass sie von ihren Genossen umgebracht und ihr Verrat vertuscht wurde, um ihren Liebhaber zu schützen, der zu diesem Zeitpunkt bereits ein Kriegsheld war.

Milosevic war vier Jahre alt, als der Krieg zu Ende war und die Kommunisten an die Macht kamen. Er wuchs in einer Zeit auf, die von Hunger, Armut und dem Terror der Geheimpolizei überschattet war. Seine Mutter war Parteimitglied, sein Vater, nun ein Priester ohne Amt, nicht. Der Vater verließ die Familie und kehrte nach Montenegro zurück, um dort Russisch zu unterrichten. Beide Eltern begingen später Selbstmord: Der Vater schoss sich in den Kopf, nachdem ein Schüler, dem er eine schlechte Note gegeben hatte, sich umgebracht hatte; die Mutter hängte sich 1972 aus weniger einsichtigen Gründen an der Lampe im Wohnzimmer auf.

Auch Mira wurde früh von ihrem Vater verlassen. Er gründete eine neue Familie und ließ sie bei ihren Großeltern in Pozarevac, wo er sie nur selten besuchte. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Slobodan und Mira am Gymnasium unzertrennlich waren. Zeitzeugen haben die junge Frau übereinstimmend als verbittert beschrieben, während ihr Freund als bescheidener und wenig bemerkenswerter junger Mann wahrgenommen wurde. Er trat mit achtzehn Jahren in die Partei ein, Mira folgte ihm ein Jahr später nach. An der Belgrader Universität, wo er Rechtswissenschaften und sie Soziologie studierte, kletterte er durch verschiedene Studentenorganisationen die Karriereleiter der Partei empor.

Doder und Branson zeigen, dass Milosevic von Anfang an Erfolg hatte. Innerhalb von drei Jahren hatte er sich zu einem bezahlten Aktivisten im Dienste der Indoktrination hochgearbeitet. Er begriff schnell, dass er einen mächtigen Förderer brauchen würde, und fand ihn in Ivan Stambolic, der einer einflussreichen kommunistischen Familie entstammte. Ivans Onkel, Peter Stambolic, war einer der obersten Funktionäre des Landes. Ivan war fünf Jahre älter als Milosevic, aber sie wurden schnell Freunde an der Universität. Stambolic machte eine steile Karriere mithilfe der Beziehungen seiner Familie. Nach seinem Examen wurde er Direktor der staatlichen Energiegesellschaft, später Direktor der Belgrader Handelskammer, darauf Sekretär des Serbischen Zentralkomitees und 1975 schließlich serbischer Premierminister.

Seinen Freund Milosevic verlor er nicht aus den Augen und verschaffte ihm immer wichtigere Parteiämter. Auf diese Weise wurde Milosevic Chef der Informationsabteilung des Stadtrats von Belgrad, dann ersetzte er Stambolic als Generaldirektor der Energiegesellschaft, und 1975 folgte die Ernennung zum Präsidenten der Beobanka, der größten staatlichen Bank. Durch solche Seilschaften arbeiteten sich im ganzen Land Kommunisten in führende Positionen empor, und es verwundert deshalb nicht, dass sich sogar weltläufige Parteimitglieder nur schwer vorstellen können, dass westliche Demokratien nicht auf ähnlich ausgeklügelten Intrigen gegründet sind. Doder und Branson beschreiben in ihrem Buch auch die Manöver, mit deren Hilfe es Milosevic in den achtziger Jahren gelang, Stambolic als Serbenführer zu ersetzen. In dieser Zeit wurde aus dem Kommunisten Milosevic ein Nationalist. Stambolic beklagte später: "Viele Leute hatten mich vor ihm gewarnt, aber ich habe sie nicht ernst genommen. Er hatte doch nie eigene politische Ideen." Milosevic orientierte sich an dem Vorbild Stalin. Dieser hatte gezeigt, dass in seinem System intellektuelle Überzeugungen für einen Opportunisten nur ein Hindernis darstellten.

Wie konnte sich ein Mann, von dem viele Amerikaner in den achtziger Jahren den Eindruck hatten, er sei ein Pragmatiker mit vernünftigen wirtschaftspolitischen Anschauungen, wie konnte sich dieser Mann zur Inkarnation eines wüsten Nationalismus entwickeln? Die gängige Erklärung führt Milosevics demagogischen Opportunismus in der Kosovo-Krise ins Feld. Am 24. April 1987 schickte Stambolic Milosevic ins Kosovo, um die Serben zu beruhigen, die aufgebracht über albanische Misshandlungen waren. Milosevic reiste mit einer versöhnlichen Rede an, aber er kam nicht dazu, sie zu halten. Wo er sprechen sollte, versammelten sich tausende zorniger Serben - vermutlich von Milosevic selbst organisiert - und warfen Steine. Die ortsansässige Polizei, zum großen Teil Albaner, setzte Schlagstöcke ein, um die aufgebrachte Menge unter Kontrolle zu halten. Milosevic begann seine Rede mit dem Satz: "Die Partei wird dieses Problem lösen." Als er von dem Protestruf "Wir werden geschlagen!" unterbrochen wurde, antwortete er sichtlich erregt: "Niemand wird es jemals wieder wagen, euch zu schlagen!" Dieser Satz wurde in westlichen Medien oft falsch übersetzt als "Niemand wird euch jemals wieder besiegen." Als er mit seiner Rede fortfuhr, beschwor er die Serben, in Albanien zu bleiben: "Euer Land ist hier. Hier sind eure Häuser, eure Felder, eure Gärten, eure Erinnerungen. Ihr hofft doch wohl nicht darauf, all dies verlassen zu können, weil das Leben hart ist und ihr Ungerechtigkeiten und Demütigungen ausgesetzt seid?"

Die Massen waren begeistert und skandierten: "Slobo, Slobo!" Es schien, als hätte Milosevic für einen Moment lang Frieden zwischen den verfeindeten Bürgerkriegsparteien gestiftet. Für Milosevic war dies nur der Anfang. Er organisierte Massendemonstrationen und brachte das Parlament dazu, die Verfassung von 1974 dahin gehend zu ändern, dass die Unabhängigkeit der zwei serbischen Provinzen Vojvodina und Kosovo aufgehoben wurde, die viele Serben ohnehin für einen Schachzug Titos hielten.

Als Mitte der achtziger Jahre separatistische nationale Aufwallungen das titosche Prinzip von "Brüderlichkeit und Einheit" unterminierten, verlor die Idee eines Gesamt-Jugoslawiens an Einfluss. In Kroatien begann die nationalistische Agitation bereits 1970, als einige Intellektuelle verlangten, "den kroatischen Studenten die grundlegenden Werke und Werte der kroatischen Literatur und Kultur zu vermitteln". Tito zerschlug diese Protestbewegung, nicht aber ihre Ideen. So begann der Zerfall des Landes damit, dass Schriftsteller kulturelle Eigenständigkeit einforderten. Die Politiker sprangen erst später auf diesen Zug auf. Für viele Intellektuelle war nun nicht mehr entscheidend, was uns verband, sondern was uns voneinander trennte. Andrew Baruch Wachtels Buch "Making a Nation" rekonstruiert diese Kulturkämpfe sehr gründlich und beschert ein melancholisches Leseerlebnis.

In einem der besten Bücher über den Zusammenbruch Jugoslawiens, "Die Kultur der Lüge", beschreibt die kroatische Autorin Dubravka Ugresic die Brutalität und den Kitsch des neuen Nationalismus: "Der Krieg in Jugoslawien ist eine deprimierende Fabel über menschliche Solidarität. Als der Krieg begann, haben sehr wenige Mitgefühl mit den Slowenen gehabt, genauso wie die Slowenen dann später die Grenzen ihres neuen Staates für alle abriegelten. Die Kroaten haben für niemanden Solidarität aufgebracht, und nur wenige brachten Solidarität für die Kroaten auf. Die Serben entwickelten keine Sympathien für irgendjemand, niemand hatte Verständnis für die Serben. Niemand hatte je Mitgefühl für die Albaner, und die Albaner waren taub für die Nöte anderer Volksgruppen."

Die von der Regierung kontrollierten Medien tragen die Hauptverantwortung für die Verbreitung von nationalistischem Wahnsinn und Hass. Ein Belgrader Journalist sagte mir einmal, dass er Rassenunruhen in Amerika anzetteln könnte, wenn man ihm nur drei große Fernsehgesellschaften und drei führende Zeitungen für ein Jahr überließe. Die tägliche Ration von Lügen und Dummheit wirkte sogar auf gebildete Menschen betäubend. Man sagte ihnen, die Serben seien eines der ältesten Völker der Welt, älter als die Pyramiden; einer meiner Verwandten behauptete, sogar die Affen stammten von ihnen ab. Man erweckte den Anschein, als wären die neue Weltordnung, der Vatikan und der Islam darauf aus, dieses kleine, friedliebende Volk zu vernichten; ein Volk, das nur für sein Recht kämpfte und niemals jemandem etwas zu Leide getan hatte.

Tudjman sicherte sich durch mächtige Verbündete ab - in Amerika, in Deutschland -, bevor er die Serben und Muslime zu vertreiben begann. Milosevic hatte keine Verbündeten. Er glaubte, er könne seinen Willen den anderen Republiken und ihren Führern aufzwingen. Viele Serben sahen sich als heroisches Volk, das immer auf der Seite der Unterdrückten gekämpft hatte, und konnten es nicht akzeptieren, dass in ihrem Namen Gräueltaten begangen wurden. Andere sahen das Unheil schon früh kommen. Doder und Branson erinnern in ihrem Buch daran, dass es seit März 1991, als Milosevic Panzer in die Straßen Belgrads schicken musste, unzählige Versuche gegeben hat, den Führer zu stürzen. Irgendwann war ein Viertel der serbischen Truppen desertiert. Die Autoren zitieren den Bericht eines Generals, der Freiwillige zwingen wollte, in Kroatien zu kämpfen. Der General forderte von allen, die nicht bereit seien, "die Ehre der serbischen Nation zu verteidigen", ihre Waffen niederzulegen und ihre Uniformen auszuziehen: "Es war kaum zu glauben, aber alle folgten der Anweisung, selbst der kommandierende Offizier. Sie standen vor mir und ich wurde zornig und befahl ihnen, auch ihre Unterwäsche abzulegen. Mit Ausnahme eines einzigen Mannes zogen sich alle aus und gingen nackt davon. Ich hoffte immer noch, sie umzustimmen, aber es war nicht möglich."

In einer überraschenden Passage ihres Buchs erfährt man, wie serbische Politiker und Militärs vergeblich die Unterstützung der Vereinigten Staaten erbaten, um Milosevic zu stürzen. Nach dem Abkommen von Dayton schien sich der "Schlächter vom Balkan", vorher noch der Hauptschuldige für das Elend Jugoslawiens, plötzlich in einen Friedensbringer verwandelt zu haben. Auch wenn das amerikanische Außenministerium noch an seiner rituellen Verurteilung Milosevics festhielt, sahen Amerika und Europa ihn nun als einen Garanten von Stabilität in der umkämpften Region.

Gingen unsere Politiker davon aus, dass Serbien, wie so viele andere Länder, in denen sie Diktaturen unterstützt hatten, einen starken Mann brauchte? So gut wie jeder Schritt, den Amerika unternommen hat und noch unternimmt, hat Milosevic den Rücken gestärkt. Die 1992 verhängten wirtschaftlichen Sanktionen haben ihm in einem Moment politischer Schwäche geholfen, denn sie haben unabhängige Unternehmen zerstört und bis dahin relativ wohlhabende Bauern verarmen lassen. Die Sanktionen ermöglichten es der offiziellen Oligarchie, sich auf eine Weise zu bereichern, von der sie vorher nur hatte träumen können. Sanktionen beruhen auf der Theorie, dass entweder der Tyrann irgendwann durch den Anblick eines hungernden Kindes gerührt wird oder dass die Menschen, deren Kinder hungern, ihn stürzen. Ganz wie in einem klassischen kommunistischen Pamphlet ging man davon aus, dass die unbewaffnete serbische Bevölkerung sich unter dem Druck der Sanktionen irgendwann gegen Milosevic erheben und ihn dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag übergeben würde. Kann man sich eine unrealistischere Strategie vorstellen?

Was die viel gepriesene "humanitäre Intervention" betrifft, so war diese Bombardierung - entgegen allen Beteuerungen von Frau Albright - eine kollektive Strafmaßnahme, mit der unschuldige Serben für die Verbrechen ihrer Führer zur Rechenschaft gezogen wurden. In Serbien wurden Raffinierien, Fabriken, Brücken, Wasserwege, Bahnlinien und Kraftwerke zerstört, um das Leben der Zivilbevölkerung zu erschweren. In einem Graffito in Belgrad hieß es: "Nato in the sky; Milosevic on the ground". Als die Bomben auf sie fielen, konnte man von den Serben wohl kaum mehr erwarten, dass sie zwischen diesen beiden noch unterscheiden würden.

Wenn Milosevic sich heute besänftigt gibt, so liegt dies daran, dass seine Polizei und seine Armee noch intakt sind. Bei seinen wenigen öffentlichen Auftritten hält der Hohepriester des Chaos den Kopf aufrecht und streckt das Kinn vor. Seine kleinen Augen werden noch kleiner, wenn er mit seiner melodramatisch erhobenen Stimme zu den Leuten spricht; sie zeugen davon, dass man einen wendigen und hinterhältigen Mann vor sich hat. Wenn er einmal lächelt, bleiben seine Augen gefroren. Falls Milosevics Gegner aggressiver würden und dadurch einer groß angelegten Vernichtungsaktion zum Opfer fielen, würde dies die Welt für drei Tage schockieren, aber damit hätte es sich. Da die Vereinigten Staaten darauf bestehen, dass die Sanktionen bestehen bleiben, bis Milosevic in freien Wahlen abgelöst wird - also bis er sich freiwillig einsperren lässt -, wird er dem Land vermutlich noch für eine Weile erhalten bleiben. Als jemand, der an nichts glaubt und kein Gewissen hat, ist er heute, was er immer war: ein Narziss, der von Schmeichlern umgeben ist.

CHARLES SIMIC

Aus dem Amerikanischen von Julika Griem.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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