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Produktbeschreibung
Autorenporträt
<p>Navid Kermani, geboren 1967, ist habilitierter Orientalist und lebt als freier Schriftsteller in K&ouml;ln. F&uuml;r seine Romane, Reportagen und wissenschaftlichen Werke wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2015.</p>
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.1999

Das offene Kunstwerk
Hartmut Bobzin und Navid Kermani lesen den Koran

"1. Beim Morgen 2. und bei der Nacht, wenn alles still ist! 3. Dein Herr hat dir nicht den Abschied gegeben und verabscheut (dich) nicht. 4. Und das Jenseits ist besser für dich als das Diesseits. 5. Dein Herr wird dir (dereinst so reichlich) geben, daß du zufrieden sein wirst. 6. (Doch auch schon im diesseitigen Leben hat er dir Gnade erwiesen.) Hat er dich nicht als Waise gefunden und (dir) Aufnahme gewährt, 7. dich auf dem Irrweg gefunden und rechtgeleitet, 8. und dich bedürftig gefunden und reich gemacht? 9. Gegen die Waise sollst du deshalb nicht gewalttätig sein, 10. und den Bettler sollst du nicht anfahren. 11. Aber erzähle (deinen Landesleuten wieder und wieder) von der Gnade deines Herrn."

Diese 93. Sure des Korans mit dem Titel "Der Morgen" läßt erahnen, was den Propheten Muhammed umgetrieben hat und worin die Sendung von Gottes "Gesandten" bestand. Es ist jedoch schwierig, einen Weg durch die 114 Suren des Korans zu finden, da diese weder historisch noch systematisch, sondern eher schon nach ihrer Länge geordnet sind. Sure 2 (286 Verse auf 615 Zeilen) ist die längste, Sure 108 (3 Verse auf anderthalb Zeilen) die kürzeste. Auch Goethe beschreibt, wie er mit dem Koran gerungen hat: Immer wieder habe er ihn gelesen, und immer wieder sei er "von neuem angewidert" gewesen. Doch eine intensivere Lektüre habe dann bewirkt, daß der Koran ihn angezogen, in Erstaunen gesetzt und ihm "am Ende Verehrung abgenötigt" habe.

Um dem heutigen nichtmuslimischen Koranleser den Weg zum Verständnis dieses Buches zu erleichtern, hat der Erlanger Islamwissenschaftler Hartmut Bobzin nun eine "Einführung" in den Koran geschrieben. Sie ist kaum halb so lang wie Tilman Nagels Einführung (1983), doch dafür übersichtlicher. Neben einem historischen Abriß über die Entdeckung des Korans im Abendland und der Erklärung einiger koranischer Grundbegriffe spricht Bobzin auch über die literarische Form des Korans, seine Textgeschichte, die Koranphilologie und das Problem der Übersetzbarkeit. Außerdem befaßt er sich mit den Hauptthemen der koranischen Verkündigung und ihrer Entwicklung. Daß Bobzin das Philologische mit dem Theologischen zu verknüpfen weiß, ist eine Stärke seines empfehlenswerten Buches.

Bobzin versucht, den Koran aus sich selbst zu verstehen: Nach Möglichkeit meidet er Vergleiche mit den jüdischen und christlichen Offenbarungstexten, und die Berichte der muslimischen Traditionsliteratur zum Leben Muhammads berücksichtigt er nicht. Der Koran wird als eine eigene und ganz eigentümliche literarische Gattung religiöser Rede respektiert und analysiert. Die eingangs zitierte Sure 93 (in der Übersetzung von Rudi Paret) ist für Bobzin demnach kein Bericht über Muhammad als Waise beziehungsweise Halbwaise oder eine Trostrede des angefochtenen Propheten, sondern ganz allgemein eine Aufforderung zur Gerechtigkeit.

In der textgeschichtlichen Darstellung geht Bobzin auch auf die Redaktion des Korans unter dem Kalifen Uthman (er regierte 644 bis 656) ein, der sich um eine endgültige Festsetzung der verschiedenen Lesarten des arabischen Textes bemühte. Da es im Altarabischen für die achtundzwanzig Konsonanten nur achtzehn Schriftzeichen gab, in bestimmten Fällen, je nach Position im Schriftzug, für fünf verschiedene Konsonanten nur ein einziges Zeichen zur Verfügung stand und die Vokale nicht immer notiert wurden, konnte es zu unterschiedlichen (und mehrdeutigen) Lesarten des Textes kommen. Diese verschiedenen Lesarten entwickelten sich zu bestimmten Traditionen in den verschiedenen Gegenden der Welt des Islams. Sieben solcher Lesetraditionen sind heutzutage als kanonisch anerkannt. "Darin", schreibt Bobzin, "kommt eine charakteristische Eigenschaft des Islams insgesamt zum Tragen, nämlich seine ganz erstaunliche Fähigkeit, dem Prinzip der Pluralität Rechnung zu tragen, dies aber zugleich in der Weise einzugrenzen, daß daraus keine Tendenzen zur Spaltung entstehen."

Auf diese "Offenheit des Korans" geht auch Navid Kermani in seiner Bonner Dissertation ein, die unter dem Titel "Gott ist schön" als Buch vorliegt. Doch ist sein Vorgehen dem Bobzins genau entgegengesetzt: Er schreibt eigentlich gar nicht über den Koran, sondern über "das ästhetische Erleben des Koran", über die von Bobzin ausgeklammerte muslimische Traditionsliteratur also. Kermani hat die Geschichte der Rezeptionsästhetik des Korans geschrieben. Das Leitmotiv seiner Untersuchung ist der i'dschas, die Unnachahmlichkeit (wörtlich "Unfähigmachung") des Korans, der Koran als Wunder im Verständnis seiner Hörer und seiner Leser.

Daß drei der sechs Kapitel des Buches das Hören der Koranlesungen zum Thema machen, zeigt an, wie sehr Kermani den Akzent auf die sinnliche Erfahrung des rezitierten Wortes legt. Das ist sachlich gerechtfertigt, denn das Wort "Koran" bezieht sich als erstes auf den "Vortrag" (gur'an) eines Offenbarungstextes, den Muhammad hörte und dann selbst öffentlich vortrug. Erst in einer zweiten Bedeutung kann der Koran als Text und Buch verstanden werden, aber selbst dann bleibt er ein Text, der vorgetragen wird. Der Koran will gehört werden. Von der Gewalt, die von diesem Hören ausgeht, erzählt Kermani eindrücklich, und der Leser seines Buches ertappt sich dabei, daß er anfängt, selbst laut zu lesen: ma achsana hada l-kalama wa-adschmalahu - "wie herrlich, wie wunderschön sind diese Worte".

Bobzins "Einführung" soll den Leser befähigen, dem Koran Verständnis, vielleicht sogar Verehrung entgegenzubringen. Kermanis fesselnder Gang durch die Rezeption des Korans bei seinen muslimischen Hörern und Lesern beginnt mit dieser Verehrung und Begeisterung. Kermani analysiert nicht den Koran als Kunstwerk, doch berichtet er von der kollektiven Erinnerung der muslimischen Gemeinde an die Wirkung dieses Kunstwerkes und von der ästhetischen Erfahrung des einzelnen Hörers.

Einer der bekanntesten Verse des Korans ist der Vers 35 in der 24. Sure ("Das Licht"). In der Übersetzung lautet er: "Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. / Das Gleichnis Seines Lichtes ist das einer Nische, / In der eine Lampe brennt, / Eine Lampe in einem Glas, / Und das Glas funkelt wie ein Stern, / Angezündet von einem gesegneten Baum, / Einem Ölbaum, weder östlich noch westlich, / Dessen Öl beinahe leuchtet, / Auch wenn kein Feuer es berührt / Licht über Licht! / Gott leitet zu Seinem Licht, wen er will. / Und Gott prägt die Gleichnisse für die Menschen. / Und Gott ist aller Dinge wissend." Dieser Text ist "nicht auf Anhieb nachvollziehbar und ruft leichte Verstörung hervor", schreibt Kermani. Das Bild des "beinah" leuchtenden Öls erinnert ihn an die kühnen Metaphern des Surrealismus: "Gerade die Offenheit, die Mehrdeutigkeit der kurzen Sätze und der schwer zu entschlüsselnden Bilder" seien "verantwortlich für die Poetizität des Verses". Aber nicht nur auf diese will Kermani mit diesem Lichtvers verweisen, sondern prinzipiell auf die "Offenheit" des Korans, der über längere Passagen hinweg kaum verstehend gelesen werden kann: die Schlichtheit der Worte kontrastiert mit der Vielschichtigkeit ihrer Bedeutung. In dieser offenen, nicht im Text festgelegten Mehrdeutigkeit sieht Kermani den Grund "für die suggestive Wirkung der Sure auf den Leser". Die Komplexität der Aussage, die Stimmungen, Rhythmen und Bilder erzeugt, ist Bestandteil der koranischen Mitteilungen.

Und genau hier setzt methodisch die Untersuchung Kermanis ein: Da der Rezipient der Verkündigungen Muhammads selbst ein Bestandteil dieser Botschaft ist, gibt sein ästhetisches Erleben des Korans Auskunft über das, was dieser mitteilen will. Es besteht eine unabgeschlossene Interaktion zwischen dem Text und dem Hörer, die immer neue Aspekte und Resonanzen hervorruft. Erst durch das ästhetische Erlebnis des Hörers wird der Koran zu einer Botschaft für den Hörer. Und erst die Summe der möglichen ästhetischen Erlebnisse der Hörer und die resultierenden je unterschiedlichen Folgen machen den Koran zu einem Wunder (i'dschas). Scheich Abu Madyan (gestorben 1126) sieht gerade dieses Wunder darin, daß Gott alle möglichen Bedeutungen des Korans kenne und daß es keine gebe, "die nicht der Ausdruck dessen wäre, was Gott dieser besonderen Person sagen wollte".

Kermani beruft sich bei seinem Vorgehen auf den Koran selbst, der in Sure 3, Vers 7, von den "festgefügten Versen" und den "mehrdeutigen Versen" spricht. Durch diesen Hinweis werde der Koran zu einem frühen Beispiel eines Textes, "dem nicht nur implizit eine Poetik der Offenheit zugrunde liegt, sondern der diese Offenheit auch verbalisiert". Navid Kermanis Versuch, den Koran als ästhetischen Wahrheitsbeweis des Islam seinen deutschen Lesern verständlich zu machen, ist auch geschrieben mit dem Wunsch, einen von der "westlichen" Islamkunde wenig beachteten Aspekt des muslimischen Umgangs mit dem Koran als gleichberechtigt neben die historisch-kritische Koranforschung in Europa zu stellen. Das geht nicht immer ohne Spitzen ab - doch dem Korankenner Bobzin wird ausdrücklich gedankt.

Die hier vorgestellten Bücher ergänzen einander: Was Bobzin nicht behandelt, macht Kermani zu seinem Thema. Aber er weiß auch, daß die vielen in seinem Buch dargestellten phantastischen Überlieferungen von der Wirkung des Korans auf seine Hörer vielleicht gar nicht "wahr" sind. Ob "wahr" oder "falsch", das interessiert hier nicht. Um zu zeigen, daß "Wahrheit und Falschheit nicht die einzig relevanten Kategorien kulturwissenschaftlicher Wissenschaft sind", muß Kermani viele Geschichten erzählen, während Bobzin sich in diskursiver Kürze mitteilen darf. Beide Bücher sind ein großer Gewinn. Sie werden hoffentlich das schlechte Buch mit dem Titel "Satanische Verse" etwas vergessen machen und ihre Leser dazu anspornen, die wunderschönen Verse hören zu wollen: "Und das Glas funkelt wie ein Stern, / Angezündet von einem gesegneten Baum, / Einem Ölbaum, weder östlich noch westlich, / Dessen Öl beinah leuchtet."

FRIEDRICH NIEWÖHNER.

Hartmut Bobzin: "Der Koran". Eine Einführung. Beck'sche Reihe Wissen. Verlag C. H. Beck, München 1999. 128 S., 3 Abb., br., 14,80 DM.

Navid Kermani: "Gott ist schön". Das ästhetische Erleben des Koran. Verlag C. H. Beck, München 1999. 550 S., geb., 98,- DM.

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