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Produktdetails
Autorenporträt
Heinrich von Kleist, dessen Werk bereits auf die Moderne vorausweist, wurde am 18. Oktober 1777 in Frankfurt/Oder geboren. Die Beschäftigung mit Kants Philosophie löste 1801 eine Krise aus, die zur Infragestellung der Lebenspläne Kleists führte. Es folgten Reisen durch Deutschland, Frankreich und die Schweiz. 1807 wurde Kleist von französischen Behörden unter Spionageverdacht verhaftet. 1809 publizierte er patriotische Lieder und Aufsätze gegen die französische Besatzung. Von 1810 bis 1811 war er Herausgeber der Berliner Abendblätter , zunehmende Schwierigkeiten mit der Zensur führten zu deren Verbot. Gemeinsam mit der krebskranken Henriette Vogel beging Kleist am 21. November 1811 am Ufer des Wannsees in Berlin Selbstmord.
Von den Dichtern der Goethezeit ist Heinrich von Kleist einer der lebendigsten und zerrissensten. Sowohl sein Leben als auch sein Werk standen im Zeichen einer aus den Fugen geratenen Zeit, und die extremen Gefühlslagen und radikalen Zweifel, die sich in den Werken dieses zu Lebzeiten erfolglosen Dichters Bahn brachen, sind auch heute noch höchst aktuell.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.12.2003

Der Himmel hat uns zum Narren
Anekdote aus dem letzten editorischen Kriege: Kleists „Familie Schroffenstein” in der Brandenburger Ausgabe
Am 30. November 1802 wurde im Zürcherischen Intelligenz-Blatt angezeigt, dass in der „Geßnerischen Buchhandlung beym Schwanen” zum Preis von „8 a 16 Bazen” ein Trauerspiel in fünf Aufzügen zu haben sei: „Die Familie Schroffenstein”. Ein Autor wird weder in der Anzeige noch auf dem Titel des Buches genannt, das „Bern und Zürch, bei Heinrich Gessner, 1803” erschien. Es war das erste von acht Dramen Heinrichs von Kleist, kalkuliert, kühn, die Geschichte eines totalen Familienkonflikts, an dessen Ende zwei Väter, durch einen Erbvertrag und Verwandtschaft verbunden, ihre einander liebenden Kinder, Ottokar und Agnes, ermorden. Zuvor imaginieren diese in einer Kleidertauschszene die Hochzeitsnacht – dies ist eine der ersten der immer bedrohten, in Katastrophen endenden Idyllen Kleists, eine seiner berückendsten Szenen.
Er hat, so weit wir wissen können, kaum ein Jahr an seinem Familienschauergemälde gearbeitet. Wie er es tat, können wir – ein seltener Glücksfall, da von Kleist nicht eben viele Manuskripte überliefert sind – gut beobachten. Die Staatsbibliothek zu Berlin besitzt eine umfangreiche eigenhändige Handschrift Kleists, die es erlaubt, dem allmählichen Verfassen von Trauerspielen auf die Spur zu kommen.
Geheimnisse der Wasserzeichen
Kleist hat die Namen seiner Figuren mehrfach gewechselt, das Stück aus einem imaginären Spanien in ein ebenso imaginäres Schwaben versetzt. In der Handschrift findet sich ein Entwurf, mit vielfachen Strichen und Ergänzungen. Er beginnt: „1. Alonzo und Fernando von Thierez sind zwei Vettern, deren Großväter einen Erbvertrag miteinander geschlossen haben.” Weiterhin enthält die Handschrift das vollständige Manuskript eines Trauerspiels in fünf Akten, von Herausgebern „Die Familie Ghonorez” genannt. Auch hier finden sich Streichungen, Ergänzungen, Neuformulierungen und Randbemerkungen Kleists: „Katze frißt Mäuse und Speck obenein”, heißt es da, oder „Rodrigo muß lebhafter und roher sein”, oder auch „Nachricht für den Abschreiber: statt Rodrigo wird überall Ottokar gesetzt.” Es gibt auch Einträge von fremder Hand. Der Erstdruck, voller Setzerfehler, also unzuverlässig, bietet einen anderen, noch einmal überarbeiteten Text. Ein Manuskript der „Familie Schroffenstein”, das es gegeben haben muss, ist nicht überliefert.
Lang hat es gedauert, bis „Die FamilieSchroffenstein” in der Brandenburger Kleist-Ausgabe (BKA) erschien. Nun liegt endlich Band I, 1 vor. Die Ausgabe sämtlicher Werke Kleists, 1988 von Roland Reuß und Peter Staengle begonnen, war in den ersten Jahren ihres Erscheinens von Betriebsgeräusch und Kampfgestöhn begleitet. Hatten hier nicht junge Philologen das germanistische Establishment herausgefordert und waren auf dem Weg, einen neuen Kleist zu entdecken? Hatten nicht Klaus Kanzog und Hans Joachim Kreutzer eine historisch-kritische Kleist-Ausgabe geplant, die allerdings nie erschienen ist?
Die Debatte, reich an Injurien und Ideologiemüll, bot Staengle, Reuß und ihrem „Institut für Textkritik” die Möglichkeit, durch Polemik Platz zu schaffen und sich als Neulinge im Feld der Editionsphilologie zu etablieren. Inzwischen ist sie verebbt. Band I,1 ist jedoch eine gute Gelegenheit nachzufragen, was die Brandenburger Ausgabe leistet, schließlich wird hier „das umfangreichste und, was die Aufschlüsse über Kleists Arbeitsweise anlangt, sicher interessanteste Arbeitsmanuskript, das von Kleist überliefert ist” (Roland Reuß), ediert.
Auch dieser Band der BKA begeistert durch den großzügigen Druck. Nur widerwillig kehrt der Leser zu den engzeiligen Ausgaben (etwa Helmut Sembdners oder des Deutschen Klassiker Verlages) zurück. Den Text findet er freilich auch dort weitgehend verlässlich dargeboten.
Reuß und Staengle bieten zuerst „Die Familie Schroffenstein” nach dem Erstdruck, mit Korrekturen der zahlreichen Fehler des Setzers, der gern ein „n” für ein „u” nahm, auch blieb im Stück der Name „Vetorin” stehen, obwohl Kleist laut Personenverzeichnis den Vasallen Ruperts „Fintenring” genannt wissen wollte. Es folgt das Faksimile der Handschrift, die aus dem Besitz von Kleists Freund Friedrich Christoph Dahlmann stammt, nebst diplomatischer Umschrift. Die Grenzen des Faksimilierens werden sofort offenkundig, denn die Verhältnisse der Handschrift sind in der Ordnung der Buchseiten kaum nachzubilden. Kleist hatte 34 halbe Foliobogen jeweils in der Mitte zu Doppelblättern im Quartformat gefaltet und aufeinander gelegt. Einzelblätter kamen hinzu. Kleist numerierte nicht durchlaufend, sondern begann mit jeder neuen Szene wiederum mit einer „1”. Später eingelegte Blätter werden in dieser Ausgabe grau unterlegt, was die Übersicht sehr erleichtert. Auch einzelne Korrekturen überblickt man schneller als beim Blättern zwischen Haupttext und Varianten, zu dem andere Ausgaben zwingen.
Allerdings vermisst der Leser in diesem Band den Text des Trauerspiels, das als „Familie Ghonorez” in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Geboten wird ihm lediglich die diplomatische Umschrift der Handschrift. Auf die Konstitution eines Leittextes haben die Herausgeber bewusst verzichtet – der Leser, der ihre Ausgabe nutzen will, muss selbst einen Text erstellen. Das ist ein starkes Stück.
Es gibt etwa im 5. Akt eine längere Klage Alonzos: „Des Lebens Güter sind in weiter Ferne” (unsere Abbildung). Im Fettdruck verzeichnet die Ausgabe Kleists Korrekturen, etwa Zahlen am Rand, die eine andere Reihenfolge der Zeilen vorschreiben. Gern würde man die 15 Zeilen, von denen nur acht, leicht verändert in die „Familie Schroffenstein” eingehen, in der von Kleist gewollten Reihenfolge lesen – und dann bedenken, wie er dahin gekommen. Dazu muss der Leser eine andere Ausgabe konsultieren oder mit dem Stift in der Hand das Geschäft der Editoren erledigen und den Text aufschreiben, Varianten notieren. Das ist trotz Tintenfleck nicht schwer – Philologie ist ja keine Geheimwissenschaft, sondern schlichte Technik des genauen Lesens.
Die Verfahren der Editionsphilologie dienten einst dazu, gegen Überlieferung und Autorität einen zuverlässigen Text herzustellen. Die BKA dagegen nutzt die Mittel der Philologie vor allem, um zu zeigen, wie schwer das Herstellen von Texten ist. Einen anderen Handwerker, der uns so käme, würden wir wohl Wichtigtuer nennen. Das Verfahren führt auf jeden Fall zu Informationsverlust. Im 5. Akt gibt es einen Einweisungshaken am Rand, der sich von den anderen in der Handschrift unterscheidet. Ist er von fremder Hand? In dieser Ausgabe wird nicht einmal darauf hingewiesen.
Unverständliche Entscheidungen sind getroffen worden: In der zweiten Szene des zweiten Akts sagt Franziska zunächst: Und an seiner Pforte / Stehn wir, die Deinen, Deine Engel, liebreich / Dich zu empfangen. Kleist ändert die Wortfolge durch Ziffern: Stehn Deine Engel, wir, Die Deinen, liebreich ... Der Erstdruck bringt nun „die Diener” statt „die Deinen”, doch wohl ein Setzerfehler und keine Korrektur Kleists. So haben es bisherige Herausgeber gesehen. Man kann anderer Ansicht sein. Reuß und Staengle aber verschweigen das Problem und lassen „Diener” stehen.
Dafür werden wir in der editorischen Nachbemerkung in die Geheimnisse der Wasserzeichenanalyse eingeführt. Kleist nutzte zwei verschiedene Papiersorten, ausschließlich Berner Papier. Daraus folgt vor allem, dass er erst in der Schweiz und nicht schon in Paris, wie oft behauptet, mit der Niederschrift begann. Klaus Kanzog hat 1994 für eine überaus nützliche synoptische Ausgabe der beiden Texte die Handschrift beschrieben, und hat behauptet, es sei kontrovers, ob zwei oder drei Papiersorten vorliegen. Der Ton, in dem er hier dafür abgekanzelt wird, erinnert an eine Art wilhelminischen Gymnasiallehrer, der hinter jedem philologischen Irrtum einen charakterlichen Defekt wittert. Diese Ausfälle finden sich nicht im Rahmen einer Würdigung bisheriger Editionen – die gibt es nicht. Offenkundig kühlt Roland Reuß lediglich sein Mütchen am Gegner von gestern. Von zwei Papiersorten und Arbeitsbeginn in der Schweiz sprach übrigens Kreutzer bereits 1968. So groß ist der Erkenntnisgewinn neuer Ausgaben dann doch nicht. Auf eine Beschreibung der Kleistschen Handschrift und ihrer Veränderungen, von Kreutzer vor Jahrzehnten angeregt, verzichten die Herausgeber.
Geschürzte Knoten
Ein Kommentar liegt noch nicht vor, aber eine Interpretation in der beiliegenden Nummer 15 der „Brandenburger Kleist-Blätter”. Reuß weist sehr überzeugend auf die Komik, den Spaß im Trauerspiel hin, dessen erste Lesung vor Freunden in Lachsalven geendet haben soll. Über den Leichen der Kinder sagt Rupert am Schluss:Du hast den Knoten / Geschürzt, Du hast ihn auch gelöst. Trit ab. In der Ausgabe des Klassiker Verlages liest man, es sei der gordische Knoten gemeint und bricht nun verlässlich in Lachen aus über so viel Gelehrsamkeit an der falschen Stelle. „Knoten” ist, Reuß belegt es, ein dramentechnischer Begriff. Aber die glänzende Beobachtung bleibt im Aperçu verkapselt.
Man müsste daran erinnern, dass am Schluss der „Penthesilea” die Begriffe der Aristotelischen Poetik herbeigerufen werden und darauf hinweisen, dass Kleist in der „Familie Schroffenstein” den konventionellen Schluss bürgerlicher Familiengemälde parodiert. Wir lesen Iffland nicht mehr, aber wir kennen diese Form des Dramenschlusses aus Lessings „Nathan der Weise”, dessen Bedeutung für Kleist nicht überschätzt werden kann. Bei Lessing garantiert die Familie, die Unterschiede des Glaubens und der Herkunft überwölbend, Eintracht, bei Kleist wird sie zur Quelle der Zwietracht. Die voraussetzungslose Liebe zweier Individuen, um 1800 Glutkern einer Familie nach der bürgerlichen Mode, verträgt sich nicht mit der adligen Familienpolitik durch Erbverträge.
Dankbar sieht man in den Kleist-Blättern den neu gefundenen Autographen des Gedichts „Auf die Rückkehr des Königs . . .” und Albumblätter aus Kleists Umkreis. Im unermüdlichen Sammeln und intelligenten Dokumentieren von Kleist-Zeugnissen besteht wohl das größte Verdienst der Herausgeber dieser Ausgabe, von der wir spätestens nach diesem Band I,1 wissen, dass sie anderen als bloß philologischen Interessen dienen muss, denn diesen dient sie nur halb. Es scheint, als sollte Kleist durch Vollständigkeit und Faksimile aus dem Totenreich heraufbeschworen werden: unverfälscht und verstörend zu uns sprechend wie am ersten Tag. Ach.
JENS BISKY
HEINRICH VON KLEIST: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle. Band I,1. Die Familie Schroffenstein. Stroemfeld / Roter Stern, Frankfurt am Main 2003. 559 S., Brandenburger Kleistblätter 15, 82 S., 119 Euro.
„Des Lebens Güter sind in weiter Ferne / Wenn ein Verlust so nah wie diese Leiche.”: Die Seiten 76 r und 76 v aus Kleists Manuskript zum Familienschauergemälde. Mit Tintenfleck, Korrekturen, Umstellungen.
Abb. aus dem bespr. Band
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Fünfzehn Jahre nach Beginn der mit viel Trara und Streit, mit - wie Jens Bisky es formuliert - "Injurien und Ideologiemüll" begonnenen Brandenburger Kleist-Ausgabe erscheint nun mit Band I,1, "Familie Schroffenstein", Kleists erstes Theaterstück. Und schlauer ist man jetzt schon, meint der Rezensent, allerdings eher, was das Unternehmen Brandenburger Ausgabe angeht als in Sachen Kleist. Eines vor allem wollten einem die Herausgeber Reuß und Staengle nämlich klar machen: "wie schwer das Herstellen von Texten ist." Und das, so Bisky, gelingt durchaus, wenngleich oftmals ohne weitere Erläuterungen der abgedruckten Faksimiletexte. Und noch etwas stößt Bisky sehr unangenehm auf: der Ton, den die Herausgeber manchmal am Leib haben, der erinnere nämlich an einen "wilhelminischen Gymnasiallehrer". Lob gibt's dagegen für die Interpretation des Stücks in den beiliegenden "Brandenburger Kleistblättern" - der Hinweis auf die komischen Intentionen nämlich ist, meint der Rezensent, höchst angebracht.

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