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Imre Nagy (1896-1958) wurde in der Nacht zum 24. Oktober 1956 zum zweitenmal nach 1953 Ministerpräsident Ungarns. Sein Name wurde binnen weniger Tage weltbekannt, als er, ohne es geplant zu haben, zur Zentralfigur des ungarischen Volksaufstandes wurde. Die kurzen 13 Tage der Revolution wurden von sowjetischen Panzern beendet, Imre Nagy wurde nach Rumänien verschleppt, verhaftet und 1958 nach einem Schauprozess in Budapest hingerichtet. Er blieb als 'Märtyrer der Revolution von 1956' im Gedächtnis der westlichen Welt mehr als jeder andere die Symbolfigur des dramatischen Freiheitskampfes der…mehr

Produktbeschreibung
Imre Nagy (1896-1958) wurde in der Nacht zum 24. Oktober 1956 zum zweitenmal nach 1953 Ministerpräsident Ungarns. Sein Name wurde binnen weniger Tage weltbekannt, als er, ohne es geplant zu haben, zur Zentralfigur des ungarischen Volksaufstandes wurde. Die kurzen 13 Tage der Revolution wurden von sowjetischen Panzern beendet, Imre Nagy wurde nach Rumänien verschleppt, verhaftet und 1958 nach einem Schauprozess in Budapest hingerichtet. Er blieb als 'Märtyrer der Revolution von 1956' im Gedächtnis der westlichen Welt mehr als jeder andere die Symbolfigur des dramatischen Freiheitskampfes der Ungarn gegen die Sowjetherrschaft.
Über das Leben von Imre Nagy ist außerhalb Ungarns dennoch fast nichts bekannt. Im Gedenkjahr der 50. Wiederkehr des Volks-aufstandes von 1956 erscheint deshalb im September die einfühlsame Biographie von János M. Rainer, einem der besten Kenner der Ungarischen Revolution. Sein mit zahlreichen Dokumentarphotos versehenes Buch fußt auf umfangreichen Recherchen in ungarischen und russischen Archiven sowie auf den Selbstzeugnissen Nagys.
Es schildert das Leben eines überzeugten Kommunisten, eines Parteisoldaten aus der Provinz, der 1930 in die UDSSR emigrierte und nach der Rückkehr aus Moskau 1945 Inhaber höchster Parteiämter wurde, sich zugleich aber zum Gegner des Stalinismus und zum Verfechter eines 'Neuen Kurses', einer 'wirklich sozialistischen Gesellschaft' entwickelte. Rainer bettet Nagys Lebensweg in den Rahmen seines 'stürmischen Zeitalters', wie Nagy selbst es nannte, ein. So gelingt ihm das überzeugende Portrait eines Mannes, dessen bewegte Lebensgeschichte über ihn selbst noch hinausweist, steht sein Werdegang zum Antistalinisten und Patrioten doch in vielerlei Hinsicht auch für den anderer Kommunisten Mittel- und Osteuropas.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2006

Nagys später Sieg
Neuerscheinungen zum ungarischen Volksaufstand von 1956 und seinen Folgen

Wie wird einer zum Nationalhelden? Es scheint zwei Wege zu geben. Vor allem den glücklichen, der denen vorbehalten ist, die Staaten gründen oder ihre Nation vereinigen. Zu ihnen zählen der Deutsche Bismarck, der Amerikaner Washington und der Italiener Garibaldi. Aber es gibt auch den unglücklichen Weg derer, die für die Befreiung ihres Volkes von Fremdherrschaft oder sonstiger Not mit dem Leben bezahlt und ihren Erfolg nicht mehr erlebt haben. Der Ungar Imre Nagy ist ein tragischer Nationalheld. Seine Lebensgeschichte, in Grundzügen seit fünfzig Jahren bekannt, ist nun in wesentlichen Einzelheiten endlich auch auf deutsch zu lesen. János M. Rainer, Direktor des Instituts für die Geschichte der Ungarischen Revolution 1956 in Budapest, hatte vor einigen Jahren eine zweibändige Biographie Nagys auf ungarisch veröffentlicht. Die deutsche Ausgabe ist daraus die Quintessenz, angereichert um neue Erkenntnisse.

Nagys Lebenslauf ist leicht zu rekonstruieren - aber nicht, weil er so einfach, sondern weil er so verwirrend war. Was in einem bürgerlichen Leben ein Widerspruch wäre, ist im Leben eines Kommunisten der Lenin-, Stalin- und Chruschtschow-Zeit geradezu eine Regelhaftigkeit. Denn zu einem führenden Kommunisten konnte nur aufsteigen, wer die Kaderüberprüfungen überlebt hatte - und die konnte nur überleben, wer aus unterschiedlichsten Anlässen einwandfreie Lebensläufe zu schreiben vermochte, aus denen kein nachweisbares Detail ausgelassen, aber alles so geordnet war, daß auch die Geheimpolizei keine fragwürdige, verdächtige Stelle entdeckte. Einwandfreie Lebensbekenntnisse - eher Lebensgeständnisse - garantierten zwar noch nicht, daß der Verfasser die jeweils anstehende Säuberungswelle überleben würde, aber sie machte das Weiterleben immerhin wahrscheinlicher, oft sogar auf einer höheren Karrierestufe.

Nicht nur Lebensnotizen für die Geheimpolizei, sondern auch gegen sie schrieb Nagy - etwa, als er nach seinem ersten Sturz als Ministerpräsident 1955 anfing, programmatische Aufzeichnungen zu verfertigen und als er nach seinem zweiten Sturz im Winter 1956/57 wieder sein Leben niederschrieb, so für sich allein und doch irgendwie wissend, daß es für die Nachwelt sein wird. Noch einmal, zum letzten Mal, gab der Häftling Nagy Kernstücke seines Lebens zu Protokoll, als 1957/58 der Prozeß gegen ihn vorbereitet wurde. Danach folgte nur noch der biografische Teil der Anklageschrift.

Der am 16. Juni 1958, neun Tage nach seinem zweiundsechzigsten Geburtstag, gemeinsam mit seinem Verteidigungsminister Pál Maleter und seinem Berater Miklós Gimes hingerichtete Nagy hat, hatte zumindest - so nennt Rainer sein letztes Kapitel - ein Nachleben, eines der grausigen Art. Nachdem die Ärzte den Tod durch Erhängen bestätigt hatten, "wurden die Leichname in Särge gesteckt und auf dem Gefängnishof im Ausgangsbereich ohne jede Markierung unter die Erde gebracht. Die Särge wurden am 24. Februar 1961 ausgegraben, in Teerpappe eingewickelt und auf den nahe gelegenen Friedhof ,Újtemetö' verbracht. Hier wurden die Särge auf der Grabstätte 301 erneut ohne Grabplatte unter falschen Namen (Imre Nagy als ,Piroska Borbiró') verscharrt. Die Überreste der Toten wurden im Frühjahr 1989 nach mehrmonatiger Suche gefunden und exhumiert. Am 16. Juni 1989 wurde Imre Nagy dann an der Stelle, wo er seit 1961 geruht hatte, im Rahmen einer ganztägigen Zeremonie feierlich bestattet."

Rainer hätte den Lesern diese genaue Beschreibung der letzten irdischen Einzelheiten nicht ersparen können. Denn sonst hätten die Nachgeborenen keine Ahnung davon, wie gefährlich, wie einflußreich ein Toter noch werden kann. Nagys zunächst siegreiche Todfeinde hatten eine klare Vorstellung davon, daß es ihr Schicksal besiegeln würde, wenn es ihnen nicht gelingen sollte, den gehenkten früheren Ministerpräsidenten aus der Gegenwart und Zukunft zu tilgen. Deswegen ließen sie keine Grabstätte, nicht einmal die öffentliche Trauer der Angehörigen zu, deswegen vertrieben sie Jahrzehntelang jeden, der sich dem verunkrauteten Feld in der hintersten Ecke des riesigen Friedhofs nähern wollte.

Niemand weiß, ob der Mann, der vier Fünftel seines Lebens Kommunist gewesen war, in dem Moment der Verkündung des Todesurteils daran dachte, daß er nach seinem Tod von seinen angeblichen und vermeintlichen Gesinnungsgenossen - Rainer stellt heraus, daß Nagy nicht mehr von der durch die Partei gelenkten Arbeiterbewegung, sondern von der unorganisierten Arbeiterklasse gesprochen hat - wenig zu erwarten hätte, um so mehr aber von den sogenannten Klassenfeinden unter seinen Landsleuten.

Tatsächlich war es die ungarische Emigration, unter der sogar Sozialdemokraten eine winzige Minderheit und die Antikommunisten die überwältigende Mehrheit stellten, die Nagys Andenken bewahrte. Von Anfang an standen Nagy, Maléter und in gewisser Weise der katholische Kardinal Mindszenty als die Helden des Volksaufstandes im Mittelpunkt der jährlichen Gedenkfeiern am Ungarischen Gymnasium, das 1957 für die Flüchtlingskinder in Kastl in der Oberpfalz gegründet worden ist. Treffender als Rainer hat der ungarische Staatspräsident Sólyom jüngst darauf hingewiesen, daß es die Emigranten waren, die über die Jahrzehnte die wirklichkeitsgetreue Geschichte des Volksaufstandes und damit der Rolle Nagys bewahrt, veröffentlicht und der Welt kundgetan hatten.

Dies war die Voraussetzung dafür gewesen, daß es Nagy nicht so erging wie zum Beispiel seinem kommunistischen Genossen Rajk, der gleichfalls - Jahre vor Nagy - hingerichtet worden war. Dessen Rehabilitierung und feierliche Neubestattung war eine Angelegenheit der kommunistischen Partei gewesen, welche die allgemeine Bevölkerung - über das Mitleid mit einem aus politischen Gründen Gehenkten hinaus - nur als Beweis dafür interessierte, daß die Partei selbst eigene Fehler eingestehen mußte und ihre Unfehlbarkeit fortan zweifelhaft blieb. Im Unterschied zu Rajk ist Nagy auf Grund seines Schwenks vom Sowjetdiener zum Volksdiener und seiner Erklärung der Neutralität Ungarns zu einem von allen politischen Strömungen anerkannten Nationalhelden geworden.

Rainer macht dem Ministerpräsidenten des Volksaufstandes dennoch einen Vorwurf. Er nimmt an, daß nicht die Neutralitätserklärung und der Austritt aus dem Warschauer Pakt den Ausschlag für das Todesurteil gaben, sondern die Radioansprache vom 4. November 1956, dessen "Tragweite" Nagy in den letzten Tagen seines Prozesses "offenbar bewußt geworden" sei. Rainer zitiert die kurze Ansprache: "Hier spricht Ministerpräsident Imre Nagy. Sowjetische Truppen haben im Morgengrauen zu einem Angriff auf unsere Hauptstadt angesetzt, mit der eindeutigen Absicht, die gesetzmäßige demokratische Regierung der Ungarischen Volksrepublik zu stürzen. Unsere Truppen stehen im Kampf. Die Regierung ist auf ihrem Platz. Ich bringe die Tatsachen dem ungarischen Volk und der ganzen Welt zur Kenntnis." Rainer hält diese Schicksalsrede nicht nur politisch, sondern auch moralisch für verfehlt. Nagy habe die angreifende Sowjetunion als eine "aggressive imperialistische Großmacht" hingestellt, was ihn wahrscheinlich das Leben gekostet habe. "Aus dem Munde eines kommunistischen Politikers war ein solcher Satz noch nie zu hören gewesen." Schlimmer seien jedoch Nagys Behauptungen gewesen, daß die Truppen im Kampf stünden und die Regierung auf ihrem Platz sei. Tatsächlich war Nagy schon bald darauf in die jugoslawische Botschaft geflohen, aber viele einfache Leute verstanden seine Worte als Aufforderung zum Widerstand. "Viele, die am 4. November zur Waffe griffen, bezahlten dafür mit ihrem Leben - auch noch Jahre später, als in den Prozessen die Urteile gegen die Aufständischen gefällt wurden", klagt Rainer nun Nagy an.

Eine ganze andere Anklage führt Paul Lendvai, der österreichische Journalist ungarischer Herkunft, in seiner Geschichte des Aufstandes, die zu einer Geschichte des kommunistischen Ungarns geraten ist. Seine Anklage gilt Nagys vom Kremls erkorenem Nachfolger János Kádár: in Wirklichkeit sei "Kádár selbst der eigentliche Drahtzieher" beim Prozeß gegen Nagy gewesen: "Er und kein anderer hat das entscheidende Wort besonders bei der Bestimmung des Strafmaßes" gesprochen. Nagys Existenz sei "die Verkörperung der fehlenden Legitimation Kádárs gewesen". Lendvai argumentiert in seiner Darstellung nicht von Einzelpersonen, sondern vom Volk her. "Die Erinnerung daran, wie der Westen nach der Niederschlagung der Revolution das kleine Land seinem Schicksal überlassen hatte, ähnlich wie schon 1849 und nach 1945, bestimmte den Seelenzustand der geschlagenen Nation ebenso wie es das Trauma der wiederholten russischen Unterdrückung tat." Nicht die breit ausladenden Einzelheiten über große und kleine Helden und Zaungäste der Revolution machen jedoch den besonderen Wert seiner Arbeit aus, das haben schon ein Vierteljahrhundert früher auch andere geleistet, sondern sein überall eingeflossenes politisches Urteil.

Lendvai hilft vor allem dem außerungarischen Leser, das Geschehen in und um Ungarn herum und die Folgen einzuordnen, selbst wenn manche seiner Hauptthesen auch anders akzentuiert werden können. Er verneint "im Rückblick und in Kenntnis der heute verfügbaren Dokumente" die über Jahrzehnte gestellte Frage "eindeutig", ob die Volkserhebung "letzten Endes" nicht doch noch gesiegt habe. "János Kádár konnte unter den gegebenen Realitäten im Ostblock nicht das verwirklichen, wofür Imre Nagy stand und starb: ein demokratisches Mehrparteiensystem und echte Unabhängigkeit." Dieser Satz trifft zwar ins Schwarze, beantwortet die gestellte Frage jedoch überhaupt nicht. Natürlich konnte Kádár Nagys Ziele nicht verwirklichen, denn damit hätte er sich selbst als kurzsichtigen Mörder Nagys entlarvt, aber der Aufstand hat "letzten Endes" tatsächlich gesiegt, mehr oder minder zufällig, sobald Kádár seiner Altersschwäche verfallen war.

Es lohnt sich nicht, darüber zu spekulieren, was 1988 und 1989 geschehen wäre, wenn Kádár zu diesem Zeitpunkt nicht 76 Jahre alt gewesen wäre, sondern erst 66 - wie der ehemalige Ministerpräsident Hegedüs, der mit seiner Unterschrift 1956 die sowjetischen Truppen ins Land gerufen hatte. Wahrscheinlich hätte auch ein vitalerer Kádár den späten Sieg der Aufständischen nicht aufhalten können, aber andererseits wäre er genausowenig zur Verantwortung gezogen worden wie die Größen seines in den ersten fünf Jahren brutalen Regimes, die den Systemwechsel bei guter Gesundheit überlebt haben. Jedenfalls haben die Aufständischen nach ihrem späten Sieg nicht an ihren einstigen Unterdrückern Vergeltung geübt. Das mag im strafrechtlichen Sinne als ungerecht erscheinen und die unverjährbaren Verbrechen verniedlichen, entspricht aber ziemlich genau dem Geist des Volksaufstandes, bei dem die unbestreitbaren Lynchmorde nicht Methode hatten, sondern Wutanfällen entsprangen.

Einen unmittelbaren Eindruck von der Stimmung im Lande und von den Motiven der Aufständischen, unter denen viele kurz zuvor entlassene oder während des Aufstands freigekommene politische Gefangene waren - der bedeutendste und bekannteste dieser Kategorie war Kardinal Mindszenty -, gibt ein Band mit Rückblicken von "Augenzeugen und Revolutionären", die jetzt in Deutschland leben. Ihre Erinnerungen sind frei vom kühlen Blick des Nachgeborenen und vom geschmeidigen Duktus des journalistischen Alleskenners. Das ist Graswurzelgeschichtsschreibung. Der Abstand von fünfzig Jahren mag manches in einem glanzvolleren Licht erscheinen lassen, aber die Schilderungen sind der Wirklichkeit verhaftet - kein Aufständischer war je allein, jetzt die Wahrheit zu verdrehen, würde in der Gemeinschaft der ungarischen Emigranten nicht zu unverdientem Heldenruhm, sondern zur Verachtung des Angebers führen. Daher lohnt sich die Lektüre für alle, die nicht an der Weltgeschichte, nicht an der Geschichte der Mächtigen, sondern an den Absichten, Taten und Schicksalen der Männer auf der Straße interessiert sind. Denn das Geschehen von 1956 war keine Palastrevolution im kommunistischen Politbüro, kein Putsch der zweiten Reihe gegen die Parteiobersten, keine Kulturrevolution der Schriftsteller allein, sondern ein Volksaufstand, zu dem neben all diesen Elementen als Hauptelement eben die Bevölkerung gehörte.

GEORG PAUL HEFTY.

János M. Rainer: Imre Nagy. Vom Parteisoldaten zum Märtyrer des ungarischen Volksaufstands. Eine politische Biographie 1896 - 1958. Geleitwort von György Konrád. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006. 282 S., 29,90 [Euro].

Paul Lendvai: Der Ungarnaufstand. 1956 - Die Revolution und ihre Folgen. C. Bertelsmann Verlag, München 2006. 319 S., 22,95 [Euro].

Ungarnaufstand 1956. Zeitzeugen und Revolutionäre blicken nach 50 Jahren zurück. Lyra Verlag, Targa-Mures 2006. 206 S., 15,- [Euro]. Bestellbar: BUOD, Magdi.B@web.de

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.10.2006

Die ungarische Katastrophe
Vor 50 Jahren begann der Volksaufstand – In neuen Monografien wird deutlich, dass es auf beiden Seiten Verbrechen und Schuld gab
Als vor genau 50 Jahren, am 23. Oktober 1956, in Ungarn der antistalinistische Sturm losbrach und sich binnen kurzem zu einem nationalen Befreiungskampf auswuchs, hatte Paul Lendvai gerade mehrere Monate Haft und ein dreijähriges Berufsverbot hinter sich. In den folgenden Tagen hielt sich der damals 27-jährige, regimekritische Budapester Journalist im Zentrum des revolutionären Geschehens auf – doch dies eher zufällig und ohne aktiv beteiligt zu sein. Denn sein Elternhaus stand in unmittelbarer Nähe der Kilian-Kaserne und der Corvin-Passage, also dort, wo die Kämpfe sowohl in den ersten Tagen der Revolution als auch nach der brachialen zweiten sowjetischen Invasion des 4. November besonders heftig tobten. Am Ende war Lendvais Elternhaus ein Trümmerhaufen; er selbst hat in schützenden Kellern ausgeharrt und mit Glück überlebt.
1957 ist Lendvai nach Österreich emigriert. Die ungarische Revolution hat den profilierten Publizisten tief geprägt. Die Ausläufer seiner damaligen Erschütterung sind auch 50 Jahre später, in seiner großen Bilanz des Aufstands, noch spürbar: Lendvai ergreift Partei, versteckt seine Gefühle nicht. Er lässt die dramatischen Herbsttage des Jahres 1956 wieder lebendig werden, erzeugt eine mitunter atemlose Spannung. Doch ungeachtet allen Engagements hält er stets die Balance, ist er immer auch der souveräne, nüchterne, historisch und politikwissenschaftlich bestens informierte Analytiker, der zwar oft hart, doch niemals unfair oder leichtfertig urteilt, der ebenso pointiert wie differenziert zu argumentieren versteht.
In Lendvais Deutung gewinnt die ungarische Revolution Züge einer Tragödie. Schein und Wirklichkeit waren für die Beteiligten nur schwer zu trennen, die Frontlinien befanden sich in ständiger Bewegung. Auch auf Seiten der Aufständischen gab es Verbrechen und Schuld. Allzu pauschale Etikettierungen – „hier die bösen Kommunisten, dort die strahlenden Freiheitskämpfer” – sind daher fehl am Platz.
Anders als Lendvai war der heute in Berlin lebende Schriftsteller György Dalos 1956 noch ein halbes Kind, erst 13 Jahre alt. Zudem hat er seine Haltung zum Aufstand im Laufe der Jahre mehrmals geändert. Am Anfang, so bekennt er, war er traurig über die Niederlage. Als Jungkommunist in den sechziger Jahren sah er in den Ereignissen hingegen eine „Konterrevolution”. In den Siebzigern entwickelte er zunehmend Verständnis für die Anliegen der Aufständischen, doch erst seit den frühen achtziger Jahren erarbeitete er sich dann, wie er es heute nennt, „einen kühleren Blick auf die Historie”.
Vielleicht ist dieser kühlere, wenngleich alles andere als unbeteiligte Blick ursächlich dafür, dass Dalos in seiner Gesamtdarstellung der Revolution zwar zu substanziell ähnlichen Ergebnissen gelangt wie Lendvai, doch insgesamt einen anderen Ton anschlägt. Er schreibt distanzierter, skeptischer, gelegentlich mit feiner Ironie oder aphoristisch zugespitzt, auf eine eigentümliche Weise hintergründig. Ein Beispiel: Während Lendvai ein ganzes Kapitel der unrühmlichen Haltung des Westens, insbesondere der fatalen Rolle des amerikanischen Propagandasenders „Radio Free Europe”, in der Ungarnkrise widmet und mit harscher Kritik nicht spart, wendet Dalos die seinerzeit bitter enttäuschten Hoffnungen der Ungarn auf Hilfe aus der freien Welt in eine sarkastische Selbstkritik: „Wir Ungarn hingen am Weltempfänger, ließen uns von dem magischen grünen Auge verzaubern und erwarteten von den Radiowellen jenseits aller Störsender nicht einfach nur Nachrichten, sondern Trost, Erlösung und Rettung. Wir wurden betrogen, aber wir haben uns auch selbst betrogen. (. . .) Das war das Unreife, Halbgare, Romantische unseres damaligen Bewusstseinsstands.” Dalos hat ein kluges, reflektiertes Buch geschrieben, dessen besondere Qualitäten sich vielleicht erst auf den zweiten Blick erschließen.
Tödliche Konfrontation
Die Tragik, oder neutraler, die Ambivalenz der ungarischen Revolution veranschaulichen Lendvai und Dalos nicht zuletzt in plastischen Porträts der beteiligten Personen. Ihr Hauptaugenmerk gilt selbstverständlich Imre Nagy und János Kádár. Beide Politiker hatten unter dem Stalinismus gelitten und sahen die Notwendigkeit von Reformen – der eine mehr, der andere weniger. Ende Oktober 1956 regierten sie für kurze Zeit zusammen, Nagy als Ministerpräsident, Kádár als Parteichef. Wäre diese personelle Konstellation, so die Autoren übereinstimmend, einige Monate früher eingetreten, hätte sich die ungarische Katastrophe vielleicht verhindern lassen. So aber kam es zwischen den beiden Männern und den von ihnen repräsentierten Strömungen zur tödlichen Konfrontation.
János Kádár erscheint beiden Autoren als durchaus zwiedeutige Figur. Kaum hatte er sich am 1. November öffentlich mit den Zielen des Aufstands solidarisiert und sogar den von der Regierung proklamierten Austritt aus dem Warschauer Pakt gutgeheißen, verschwand er von der ungarischen Bildfläche und kehrte erst im Gefolge der sowjetischen Panzer wieder nach Budapest zurück – mit dem Kainsmal der Verrats auf der Stirn. Ein halbes Jahrzehnt währte der fürchterliche Rachefeldzug des neuen Herrschers von Moskaus Gnaden; in den sechziger und siebziger Jahren erwarb er sich dann jedoch jenen landesväterlichen Nimbus, der ihm noch heute, im demokratischen Ungarn, die Sympathien großer Bevölkerungsteile sichert. Auch Paul Lendvai zögert am Ende, ohne Weiteres den Stab über Kádár zu brechen. Für ein ausgewogenes Urteil über diesen „ungewöhnlichen Menschen” sei die Zeit vielleicht noch nicht reif.
Ähnliches gilt für Kádárs Gegenspieler Imre Nagy. Sein Weg „vom Parteisoldaten zum Märtyrer des ungarischen Volksaufstands”, wie es im Untertitel von János Rainers großer Biografie dieses Mannes heißt, war lang und keineswegs geradlinig. Loyalitätskonflikte, innere Widersprüche und Skrupel kennzeichneten sein Handeln, das auf seine Umgebung oft zögerlich und unentschlossen wirkte. Nagy war, wie Rainer zeigt, an vielen Wendemarken und neuralgischen Punkten seines Lebens kein Mann schneller Entschlüsse, sondern langwieriger Entscheidungsprozesse. Als er in der Ungarnkrise endlich seinen „toten Punkt” überwunden hatte, handelte er als ungarischer Patriot und nicht als proletarischer Internationalist – und geriet damit in einen Widerspruch, den er später in seinen Gefängnisschriften zwar zu harmonisieren versuchte, doch nach Ansicht seines Biografen letztlich nicht auflösen konnte.
Zu den bedeutenden Würdigungen der ungarischen Revolution und ihrer Protagonisten gehört auch ein großformatiger, repräsentativ gestalteter Bildband, der die legendären Fotos des „Magnum”-Mitarbeiters Erich Lessing versammelt. Lessings Schwarz-Weiß-Aufnahmen spiegeln nicht allein die existenzielle Konfrontation jener Tage wider, sie erzählen auch vom Alltagsleben in einer Ausnahmesituation, vom Kampf um Symbole, sie zeigen Menschen, Gesichter, bilden Gefühlszustände ab – Glück und Leid, Hoffnung und Verzweiflung.
Viele dieser Menschen standen angesichts der heranrückenden sowjetischen Militärwalze vor der Frage, ob sie ihr Land verlassen oder dort ausharren sollten. Die aus Ungarn stammende Journalistin Marta Halpert hat einige von ihnen, prominente wie unbekannte, aufgesucht und erzählt in einem kleinen, einfühlsamen Porträtband von ihren Beweggründen und Schicksalen. Etwa 200 000 Menschen haben damals Ungarn den Rücken gekehrt, die meisten zunächst in Richtung Österreich. Ein verdienstvoller, von österreichischen und ungarischen Wissenschaftlern gemeinsam gestalteter Sammelband erinnert umfassend an die damalige – im wahren Sinn des Wortes – uneingeschränkte Solidarität der Österreicher mit ihren entwurzelten Nachbarn. Diese Welle der Hilfsbereitschaft, so Paul Lendvai, „war und ist ein Ruhmesblatt der neueren österreichischen Geschichte”. In der Stunde ungarischer Not hat die gerade erst in die Unabhängigkeit und Neutralität entlassene Alpenrepublik westlicher gehandelt als der Westen.
ULRICH TEUSCH
PAUL LENDVAI: Der Ungarnaufstand 1956. Eine Revolution und ihre Folgen. C. Bertelsmann Verlag, München 2006. 320 Seiten, 22,95 Euro.
GYÖRGY DALOS: 1956. Der Aufstand in Ungarn. Verlag C.H. Beck, München 2006. 247 Seiten, 19,90 Euro.
JÁNOS M. RAINER: Imre Nagy. Vom Parteisoldaten zum Märtyrer des ungarischen Volksaufstands. Eine politische Biographie 1896-1958. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006. 282 Seiten, 29,90 Euro.
BUDAPEST 1956. Die Ungarische Revolution. Fotografien von Erich Lessing. Christian Brandstätter Verlag, Wien 2006. 250 Seiten, 39,90 Euro.
MARTA S. HALPERT: Gegangen und geblieben. Ungarn 1956 – Lebensläufe nach dem ungarischen Volksaufstand. Molden Verlag, Wien 2006. 220 S., 19,90 Euro.
IBOLYA MURBER/ZOLTÁN FÓNAGY: Die Ungarische Revolution und Österreich 1956. Czernin Verlag, Wien 2006. 544 Seiten, 26 Euro.
Zerstörte sowjetische T-54-Panzer vor der im Oktober und November 1956 schwer umkämpften Kilian-Kaserne in Budapest. Der ungarische Aufstand begann am 23. Oktober 1956, breitete sich im ganzen Land aus und wurde am 4. November von der sowjetischen Armee niedergeschlagen. Mindestens 2500 Menschen wurden während des Aufstands getötet, etwa 200 000 flohen ins Exil, die meisten zunächst nach Österreich. Foto: epd
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Als Standardwerk würdigt Andreas Oplatka dieses Buch über Imre Nagy, die Symbolfigur des Volksaufstands in Ungarn 1953, das der Historiker Janos M. Rainer verfasst hat und das nun in einer ausgezeichneten deutschen Übersetzung vorliegt. Dass der deutschen Ausgabe die gekürzte Version des Werks zugrunde liegt, ist für Oplatka völlig in Ordnung, zumal es sich keineswegs um eine "verwässerte Volksausgabe" handelt. So bietet auch die vorliegende Ausgabe zu seiner Freude einen umfangreichen wissenschaftlichen Apparat mit vielen Literaturhinweisen. Die auf zahlreichen Quellen basierende Biografie beeindruckt ihn durch die sachliche, präzise und fundierte Darstellung. Den Hauptakzent des Werks sieht er in der Zeit nach 1945 und bei Nagys Rolle während des Volksaufstands, dem Nagy-Prozess und den letzten anderthalb Jahren seines Lebens.

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