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Normalität bedeutete das Verlässliche in der Gesellschaft. Es war jene Zeit, als Familie noch lebenslange Schicksalgemeinschaft bedeutete und sich nicht ein- und ausschalten ließ wie ein Pay-TV-Programm. Damals begann nach der Ausbildung der "Ernst des Lebens" und nicht das nächste Praktikum. Es war jene Zeit, als man drei Freunde im Café traf und nicht 500 Freunde auf Facebook. Damals bekamen Banker noch einen Schreck, wenn sie das Wort Risiko hörten, und nicht wie ihre Nachfahren einen Erregungszustand. Das Kennzeichen unserer Zeit ist das Verschwinden der vielen Selbstverständlichkeiten.…mehr

Produktbeschreibung
Normalität bedeutete das Verlässliche in der Gesellschaft. Es war jene Zeit, als Familie noch lebenslange Schicksalgemeinschaft bedeutete und sich nicht ein- und ausschalten ließ wie ein Pay-TV-Programm. Damals begann nach der Ausbildung der "Ernst des Lebens" und nicht das nächste Praktikum. Es war jene Zeit, als man drei Freunde im Café traf und nicht 500 Freunde auf Facebook. Damals bekamen Banker noch einen Schreck, wenn sie das Wort Risiko hörten, und nicht wie ihre Nachfahren einen Erregungszustand. Das Kennzeichen unserer Zeit ist das Verschwinden der vielen Selbstverständlichkeiten. Millionen von Menschen spüren die Überforderung: Jedes Mal, wenn man alle Antworten gelernt hat, wechseln die Fragen. Dennoch muss der Gezeitenwechsel kein Drama sein, sagt Steingart. Das Gefühl der Fremdheit und die Vorfreude auf ein Leben, das anders sein wird als unser bisheriges, schließen sich nicht aus. Steingart berichtet in seinem schwungvollen Essay von dem, was geht, was bleibt und was kommt.
Autorenporträt
Gabor Steingart, geb. 1962, studierte Volkswirtschaft und Politikwissenschaft in Marburg und Berlin und absolvierte die Georg von Holtzbrinck-Schule für Wirtschaftsjournalismus. Seit 1990 arbeitet er beim Spiegel und übernahm 2001 die Leitung des Hauptstadtbüros in Berlin. Im Juli 2007 wechselt er als Autor und Korrespondent in das Büro in Washington. Sein Bestseller »Deutschland. Der Abstieg eines Superstars« entfachte eine leidenschaftliche Diskussion um die deutsche Dauerkrise und ihre Ursachen. Angeregt durch Steingarts Analyse entstanden die große ZDF-Dokumentation 'Der Fall Deutschland' und das Buch 'Der Fall Deutschland. Abstieg eines Superstars' (Stefan Aust, Claus Richter, Gabor Steingart unter Mitarbeit von Matthias Ziemann). 2004 wurde Steingart zum Wirtschaftsjournalisten des Jahres gewählt, 2007 erhielt er den Helmut-Schmidt-Journalistenpreis.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.03.2011

Gesamtstörung
Für Gabor Steingart ist „Das Ende der Normalität“ erreicht
Ach je, Zeitgenossenschaft ist ganz schön anstrengend. Das muss offenbar auch Gabor Steingart, seit einem Jahr Chefredakteur der Wirtschaftszeitung Handelsblatt, leidvoll erfahren. Denkt er zwischen Meetings zum iPad-App und dem nächsten Talkshowauftritt zurück an jene Zeit, „als man zum Musikhören einen Stereorekorder benutzte und die Tageszeitung auf Papier las, als man an der Hotelrezeption den Zimmerschlüssel ausgehändigt bekam und nicht eine Magnetkarte“ – dann kommt der 48-Jährige zu dem Schluss, dass „das Ende der Normalität“ nun endgültig erreicht sei.
Also hat Gabor Steingart ein Buch über das Ende der Normalität geschrieben. Stil und Inhalt des Buches changieren auf das Eigenwilligste zwischen „Generation Golf“ von Florian Illies (2000) und „Verlust der Mitte“ von Hans Sedlmayr (1948). Die wohlige relative Sicherheit der Nachkriegszeit mit dem Kassettenrekorder, die Steingart bis in die neunziger Jahre als angeblich stabiles Wertesystem erlebte, ist durch eine schwindelerregende Komplexität ersetzt – eine vielbeschriebene Eigenschaft der Moderne, die der Autor wie eine ganz neue Beobachtung präsentiert: „Die abendländische Generalprägung lässt nach. (. . .) An die Stelle der einen großen Wirklichkeit ist eine Vielzahl von Flüchtigkeiten und Instabilitäten getreten. (. . .) Es kommt zu einer Vielzahl konkurrierender Traditionen und Einflüsse.“
Das sind Sätze, die nicht bloß aus den Gesellschaftswissenschaften der letzten Jahrzehnte vertraut klingen, sondern so ähnlich auch 1811 oder 1911 hätten geschrieben werden können. Und auch geschrieben wurden: So sprach Walther Rathenau vor hundert Jahren in dem Buch „Kritik der Zeit“ (1912) vom „Strom der zudringenden Notionen“, von der „Geschwindigkeit und Zusammenhanglosigkeit“ der Informationsgesellschaft seiner Zeit, von „Tollheiten und Überreizungen“: „Es ist“, so Rathenau vor dem Ersten Weltkrieg, „als sei die Welt flüssig geworden und zerrinne in den Händen.“
Gabor Steingart schließt sich in vielen kleinen Kapiteln mit schonungsloser Kulturkritik daran an: Nichts sei mehr „normal“, in der Weltpolitik, im Sozialstaat, in der Firma oder auf den tätowierten Oberarmen der Bundespräsidentengattin. Alles Vergangene – die Dynamik der Industrialisierung etwa oder der Siegeszug des Fernsehens – scheint aus der Sicht Steingarts dagegen eher „normal“ gewesen zu sein. Beim Internet jedoch kommt auch der klügste Kopf nicht mehr mit. Und die Autorität der alten Eliten schwindet dermaßen, auch auf dem Feld der Kultur, dass der Autor das Undenkbare ausspricht: „Es gibt eine Literatur jenseits von Grass.“ Wie bitte?
Gabor Steingart, langjähriger Spiegel-Redakteur, hat durchaus vernünftige, lesbare Reportagen und Analysen zu Wirtschaftsthemen, zu den USA, zur Globalisierung vorgelegt, auch in Buchform. Doch was ist jetzt? Untypische Kriege, Terrorismusangst, staatliche Hilfe für unkalkulierbare Finanzmärkte – all diese Dinge, so scheint es, sind kurz davor, Steingart in den auch literarischen Wahnsinn zu treiben. Hans Sedlmayr beklagte einst eine „Gesamtstörung“ unserer Kultur; Steingart schreibt: „Das lineare Leben früherer Zeiten endet mit einem Feuerwerk von Komplexität.“
Doch es bleibt nicht bei diesen verblüffenden Explosionen düsterer Kulturkritik: Auf die Depression folgt die Manie. In einer beherzten Wende ersteht mit Macht der Mensch mit seiner „treibenden Vorwärtsenergie“, und der ist auch „auf Fortschritt aus“. Ja, es sind schwierige Zeiten, doch „im selben Augenblick wird es bunter und aufregender, natürlich auch, weil es gefährlicher wird.“ Nietzsches Übermensch wird bemüht: „Wer auf die Zuteilung von Chancen wartet, wird ewig warten. Nichts ist jetzt riskanter, als nicht zu riskieren. (. . .) Antriebsschwäche wird mit großer Gnadenlosigkeit geahndet.“ (Obacht in der Handelsblatt-Redaktionskonferenz!)
Nach diesem plötzlichen vitalistischen Lobgesang auf „einen starken Charakter“ folgt kurz vor dem Höhepunkt ein transzendentales Ritardando: „Aber woher stammt die Kraft des eigenen Kraftwerks? Wer feuert es an?“ Dafür seien vielleicht doch noch mal die alten Werte und die Kirchen nützlich (Gruß an Wolfram Weimer!). Aber dann kommt der finale Befreiungsschlag: „An das Individuum stellt die neue Zeit hohe und höchste, womöglich sogar heroische Anforderungen. (. . .) Es wird keine leichte Zeit sein. Aber es könnte unsere glücklichste werden.“
Selten wurde Niklas Luhmanns Satz „Die Gesellschaftskritik ist Teil des kritisierten Systems“ so anschaulich wie mit diesem seltsamen Buch eines Wirtschaftspublizisten. Für Gabor Steingart ergeben die Zustände der Gegenwart „einen Problemcocktail, dessen Wirkung sich der Vorhersage entzieht“. Fragt sich nur noch, welchen Cocktail der Autor eingenommen hat. JOHAN SCHLOEMANN
GABOR STEINGART: Das Ende der Normalität. Nachruf auf unser Leben, wie es bisher war. Piper Verlag, München und Zürich 2011. 176 Seiten, 16,95 Euro.
Dieses Buch changiert
zwischen „Generation Golf“
und „Verlust der Mitte“
Schwere Zeiten, fester Blick: Gabor Steingart Foto: Martin H. Simon
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Nur lustig machen kann sich der Rezensent Johan Schloemann über diese Zeitdiagnose des Handelsblatt-Chefredakteurs (und früheren Spiegel-Manns) Gabor Steingart. Eine unfreiwillig komische Mischung aus - über weite Strecken - kulturkritischen Anmerkungen zur schrecklich angeschwollenen Komplexität des Lebens in der internet- und medien- und in jeder anderen Hinsicht verkomplizierungswütigen Gegenwart. Dann eine seltsam Nietzscheanische Wendung mit dem optimistischen Aufruf an die Mitwelt, angesichts der schwierigen Lage in Richtung Übermensch voranzuschreiten. Sonst hält Schloemann, versichert er, den Autor für zurechnungsfähig, hier aber kommt er ihm doch wie von allen guten Geistern verlassen vor.

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