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Eine Liebe über die Zeiten hinweg
Eine Frau, ein Mann, eine Sommerliebe. Sascha und Wolodja werden durch einen Krieg getrennt und können sich nur Briefe schreiben. Sie erzählen einander darin von allem und jedem: von Kindheit, Familie, Alltag, von Freud und Leid. Ein normaler Briefwechsel zweier Liebender - bis sich beim Leser Zweifel regen und klar wird, dass die Zeit der beiden ver-rückt ist, dass sie durch Raum und Zeit getrennt sind. Sie lebt in der Gegenwart, er kämpft im Boxeraufstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen chinesische Rebellen. Er stirbt in einem der ersten Gefechte…mehr

Produktbeschreibung
Eine Liebe über die Zeiten hinweg

Eine Frau, ein Mann, eine Sommerliebe. Sascha und Wolodja werden durch einen Krieg getrennt und können sich nur Briefe schreiben. Sie erzählen einander darin von allem und jedem: von Kindheit, Familie, Alltag, von Freud und Leid. Ein normaler Briefwechsel zweier Liebender - bis sich beim Leser Zweifel regen und klar wird, dass die Zeit der beiden ver-rückt ist, dass sie durch Raum und Zeit getrennt sind. Sie lebt in der Gegenwart, er kämpft im Boxeraufstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen chinesische Rebellen. Er stirbt in einem der ersten Gefechte dieses halb vergessenen Krieges, aber seine Briefe kommen weiterhin an. Sie heiratet, verliert ein Kind - und schreibt ihm unbeirrt weiter, als ob eine Parallelwelt bestünde, als ob die Zeit keine Rolle spielte, ebenso wenig wie der Tod.

Ein großer, anrührender Liebesroman, der die grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz behandelt und der durch die Macht des Wortes die Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft setzt.
Autorenporträt
Michail Schischkin ist einer der meistgefeierten russischen Autoren der Gegenwart. Er wurde 1961 in Moskau geboren, studierte Linguistik und unterrichtete Deutsch. Seit 1995 lebt er in der Schweiz. Seine Romane »Venushaar« und »Briefsteller« wurden national und international vielfach ausgezeichnet, u.a. erhielt er als einziger alle drei wichtigen Literaturpreise Russlands. 2011 wurde ihm der Internationale Literaturpreis Haus der Kulturen der Welt in Berlin verliehen. Sein Roman »Die Eroberung von Ismail« wurde u.a. mit dem Booker-Prize für das beste russische Buch des Jahres ausgezeichnet.Andreas Tretner, geb. 1959 in Gera, Übersetzer u.a. von Boris Akunin und Vladimir Sorokin, ist schon längst die "deutsche Stimme" von Viktor Pelewin. Zu Pelewins letztem Buch schrieb Wladimir Kaminer: "Die deutsche Fassung ist noch besser als das Original - innovativ und durchgeknallt."
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Bei Schischkin spielt die Zeit verrückt, notiert Lothar Müller, der das schon in Schischkins vorangegangenem Roman "Venushaar" beobachtet hatte und nun im vorliegenden Briefroman deutlich bestätigt sieht, in dem Briefe eines russischen Soldaten von der Front selbst dann noch eintreffen, nachdem er bereits im Feld gefallen ist - wobei Müller sich nicht ganz im Klaren ist, ob die Geliebte zuhause oder der Leser des Buchs deren Adressat ist. Wenn der Autor dieses Romans über die paradoxale Zwischenstellung des Briefs, der einen Dialog nur als Monolog führen lässt (es gebe keine Antwortbriefe in diesem Buch, fügt Müller an), sich selbst in der Tradition der großen russischen Literatur verortet, so geschieht dies mit Recht, pflichtet der Rezensent bei: In seiner sprachlich lebendigen Schilderung des modernen Krieges steht Schischkin Stendhal und Tolstoi in nichts nach. Ein Lob geht im übrigen auch an den Übersetzer Andreas Tretner für sein "sehr lebendiges Deutsch".

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2012

Was uns das Loch im Strumpf über die Welt erzählt

Der russische Autor Michail Schischkin lässt Seelen und Worte über die Zeit wandern wie Wolken über den Himmel. Was seinen Wortatlas verbindet, ist nicht der Wille zur Macht, sondern die Suche nach Liebe. Sein neuer Roman ist eine kleine Sensation.

Haben Sie den neuen Schischkin?" Mit diesen Worten stürmte ein junger Mann kurz vor Ladenschluss in eine kleine, aber feine Berliner Buchhandlung. Letzte Woche, so erklärte der atemlose Literaturfan einer ungläubig schauenden Dame, sei das Buch hier restlos ausverkauft gewesen. Das gibt es also noch: ein zeitgenössischer russischer Roman, für den die Leute Buchhandlungen stürmen.

Tatsächlich ist der Roman des seit 1995 in der Schweiz lebenden Michail Schischkin auf dem besten Weg, eine literarische Sensation zu werden. Das Buch erschien jetzt gleichzeitig in fünfundzwanzig Ländern. Für 2013 ist eine Übersetzung ins Englische unter dem Titel "The Light and the Dark" angekündigt. In Russland erhielt der Autor für sein jüngstes Werk die höchste literarische Auszeichnung, und in Moskau, der Ukraine und in der Schweiz wurde es von dem Pianisten Alexej Botvinov bereits auf die Bühne gebracht. Daraus ist ein Hörbuch hervorgegangen. Dabei hatte Schischkins letzter Roman, "Venushaar", der 2011 auf Deutsch erschien, dem Leser durch das komplizierte Ineinanderschachteln verschiedener Zeit- und Erzählstränge einiges abverlangt. Auf den ersten Blick versprach auch der neue Roman keine einfache Lektüre zu werden. Und dann noch dieser verstaubt klingende Titel! Als "Briefsteller" bezeichnet man eine bis ins neunzehnte Jahrhundert verbreitete Ratgeberliteratur zur Etikette der Korrespondenz. Schischkin revitalisierte das Wort wie Gartenliebhaber vergessene Obst- oder Blumensorten.

Eigentlich ist alles ganz simpel. Eine romantische Sommerliebe wird jäh beendet. Um die europäischen Handelsmissionen gegen die marodierenden chinesischen Boxer zu verteidigen, rückt Wolodja mit russischen Truppen in den Fernen Osten vor. Das ist um das Jahr 1900. Dort erlebt er die Greuel des Krieges, Massaker, Verwundungen, Leichen im vergifteten Flusswasser, Erschöpfung, Krankheiten, grausame Verwundungen, Tod, Einsamkeit, aber auch Freundschaft und kameradschaftliche Wärme. Darüber und über vieles mehr aus seinem Leben schreibt der Soldat der zurückgebliebenen Sascha, einer Medizinstudentin und angehenden Gynäkologin. Sascha, die nach ihrem frühverstorbenen Bruder benannt wurde, wiederum schreibt über ihre anfangs noch mädchenhaften Träume, über Kindheitserinnerungen, Enttäuschungen in der Liebe, Niedertracht, über ihre eintönige, deprimierende Arbeit in einer Abtreibungsklinik, über die geschiedenen Eltern, die sie bis zu deren Tod pflegt. Und über das kurze Glück, das sich zwischen all dem Elend in den Ritzen des Schicksals niederlässt.

Irgendwann spürt man, wie sich die Zeiten und Ereignisse voneinander entfernen, ohne dass die Intimität zwischen den Schreibenden irgendeinen Schaden nimmt. Während wir Wolodja nur über ein paar Monate begleiten, nimmt uns Sascha mit auf eine Reise durch ihr Leben, das noch dazu in einer undefinierten Gegenwart stattzufinden scheint. Es entsteht eine Seelenverwandtschaft über Zeiten und Räume hinweg. Wolodja, der längst gefallen zu sein scheint, schreibt unbeirrt weiter über Liebe und Leid, über seine Mutter und den blinden Stiefvater, den er hasste, obwohl dieser ihm viel näherstand als der leibliche Erzeuger, der dann doch wieder nicht der leibliche war. Und auch in Saschas Leben gerät kaum etwas nach Plan, je weiter es voranschreitet, desto weniger Plan gibt es darin, dafür umso mehr Tristesse. Das ersehnte Kind soll sie nicht bekommen, sie baut es sich in einem unserer Zeit nahen russischen Winter aus Schnee. Ihre Liebe zerbricht, sie altert und ergraut. Das Glück ist ihr nur beim Schreiben an Wolodja ein verlässlicher Begleiter. Immer mehr muss man befürchten, dass die Briefe ihre Adressaten vielleicht nie erreichten, dass wir, die Leser, die vielleicht einzigen Zeugen dieser berührenden Korrespondenz sind. Doch geschriebene Briefe kommen irgendwann an, nur die ungeschriebenen bleiben ungelesen.

Verfasst ist diese Korrespondenz in einer federleichten, geradezu durchscheinenden Sprache, die Andreas Trettner meisterlich ins Deutsche übertragen hat. Man möchte gar nicht aufhören zu lesen! Nebenbei gelingt Schischkin mit diesem ungewöhnlichen Briefroman noch ein weiterer Geniestreich, für den er den großen Autoren des Genres aufmerksam auf die Feder geschaut hat. "Briefsteller" verbindet die männlich dominierte Kriegserzählung, die grausamen Berichte über die Nackten und die Toten, die blutigen Geschichten von den Reiterarmeen und ihrem roten Lachen scheinbar mühelos mit einem klassischen Familien- und Liebesroman. Während Wolodja über den Krieg und die Welt philosophiert, plaudert Sascha vom der alltäglichen Mühsal und Lust im Frieden. Auch darin ist dies ein Buch über die Verständigung durch Sprache, die eigentlich immer zu Missverständnissen führt, und eines über den Tod, den wir nur durch die Sprache besiegen können. Zuweilen fühlt man sich - wie schon in dem Vorgängerroman - an David Mitchells "Wolkenatlas" erinnert. Auch hier wandern die Seelen über die Zeit wie Wolken über den Himmel, nur dass bei dem Russen nicht der Wille zur Macht, sondern der zur Liebe diese Seelen vereint.

Für den 1961 in Moskau geborenen Schischkin ist das Wort das, was bleibt, für ihn wie für seinen Helden ist "die Tinte der Urstoff aller Existenz". Das lange Exil, auf das er häufig kritisch von russischen Landsleuten angesprochen wird, habe ihn nur noch mehr in der Muttersprache verwurzelt, erst die Ferne ermögliche die Nähe, schließlich haben auch die großen Russen des neunzehnten Jahrhunderts, in deren Tradition sich Schischkin sieht, viele ihrer Werke im Ausland geschrieben. Zu den Aufgaben des Schriftstellers gehöre es, wie er in einem Interview erklärt, das wirklich Wichtige aus der unübersichtlichen Jetztzeit auf eine andere zeitliche Ebene zu heben, auf eine Ebene, in der es keinen Tod mehr gibt. Tolstoi ist tot, aber Anna Karenina ist unsterblich. "Weißt Du", schreibt Wolodja seiner Sascha, "ich denke, es ist so: Da, wo die sichtbare, die stoffliche Hülle der Welt - die Materie - überdehnt wird oder speckig ist vom vielen Gebrauch, abgewetzt und fadenscheinig, da reißen Löcher auf. Und hervorschaut wie der Zeh aus dem Loch im Strumpf - das Wesentliche." Manch einer wird denken, das sei Esoterik, andere dagegen: So schön kann es nur ein Russe schreiben.

SABINE BERKING.

Michail Schischkin: "Briefsteller". Roman.

Aus dem Russischen von Andreas Trettner. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012. 380 S., geb., 22,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2012

Wenn die Zeit verrückt spielt
Ein Briefroman sollte ein Liebesroman sein, aber hier hat er einen Gegenspieler: Der russische
Schriftsteller Michail Schischkin erzählt in seinem Buch „Briefsteller“ vom Tod in Zivil und in Uniform
VON LOTHAR MÜLLER
Dieses sehr gegenwärtige, sehr altmodische Buch beginnt mit einer leicht hingetupften, in helles Licht getauchten Liebesgeschichte. Aber es ist ein indirektes, durch Papier gefiltertes Licht. Alle Berührungen, alle Küsse, alle Umarmungen, alle Schaumkronen im Wasser eines Sees nahe einer Datsche sind schon vergangen. Die Liebenden werden schon auf den ersten Seiten getrennt, Wolodenka muss an die Front, Saschka, die Sommerliebe, auch Saschenka genannt, bleibt daheim. Es bleibt ihnen nur das Briefeschreiben, einen ganzen Roman lang, in dem sie die einzigen Stimmen sind und bleiben, auch wenn schon nach knapp hundert Seiten die Nachricht eintrifft, Wolodenka sei gefallen.
  Es ist ein alter Trick der modernen Literatur, sich auf die Wissenschaft zu berufen, wenn sie in einem Roman das epische „und dann, und dann“ außer Kraft setzen will. Moderne Experimente, sagt sie dann, hätten erwiesen, dass die Zeit verrückt spielt und die Reihenfolge der Ereignisse beliebig sei: „Man kann in der Küche sitzen und auf einem Kamm mit Zigarettenpapier blasen und zu selben Zeit in einer ganz anderen Küche einen Brief lesen von jemandem, den es gar nicht mehr gibt.“
  „Briefsteller“ heißt der neue Roman des russischen Autors Michail Schischkin, in dem die Zeit verrückt spielt und Briefe die Grenze zwischen Leben und Tod überqueren. Aber das hat ihm nicht die moderne Wissenschaft erlaubt, sondern die moderne Literatur selbst. Durch ihre eigenen Experimente hat sie erwiesen, „dass die Vergangenheit mit den Jahren immer näher rückt, statt sich zu entfernen“.
  Schischkin, geboren 1961 in Moskau, hat in seiner Heimatstadt Germanistik und Anglistik studiert, journalistische Artikel und Erzählungen publiziert, ehe er 1995 in die Schweiz übersiedelte. Dass er dort fast ein Jahrzehnt als Lehrer und Dolmetscher tätig war, hat in seinem Roman „Venushaar“, der im Original 2005, bei uns 2010 erschien, deutliche Spuren hinterlassen. Ein „Dolmetsch“ hat dort die Auswanderungsgründe russischer Immigranten zu protokollieren, die in der Schweiz Aufnahme finden wollen und darum ihre Geschichten so erzählen, dass sie zu Türöffnern werden. Daraus ergaben sich schillernde Innenansichten nicht nur der russischen Gesellschaft nach dem Zerfall des Sozialismus, sondern auch der Kriegslandschaften Tschetscheniens, der Attentate und Vergeltungsaktionen. Aber schon in diesem Roman, für den der Autor und sein Übersetzer Andreas Tretner den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin erhielten, spielte die Zeit verrückt, ließ sich das Erzählen vom Stoff der Zeitgeschichte seinen Duktus nicht vorschreiben, sondern machte das fiktive Tagebuch einer russischen Sängerin, deren langes Leben das gesamte 20. Jahrhundert umspannte, zu einem Kaleidoskop der Kunst- und Kulturgeschichte vom Zarenreich bis zur Gorbatschow-Ära.
  Die Zeit verrückt spielen lassen – das klingt, als wolle hier wieder einmal jemand die alten Formen der Literatur zerbrechen, noch einmal den Geist der Avantgarde aufrufen oder die endlos in den Spiegel blickenden Erzählerfiguren. Aber Michail Schischkin sagt zu Recht von sich, sein Schreiben wurzele tief in der russischen Tradition des 19. und 20. Jahrhunderts, von Puschkin und Gogol über Tolstoi bis zu Nabokov. Diese Tradition ist ja kein Hort des selbstgewissen Realismus, sondern ein Experimentierfeld gewagter Parallelführungen und Verflechtungen, vertrackter Prosa-Kaleidoskope.
  Der „Briefsteller“, der diesem Roman den Titel gibt, ist die Formvorgabe, der die Schreiber an der Front beim Verfassen der Briefe an die Angehörigen mit der Nachricht über den Tod eines Soldaten zu folgen haben. Wolodenka ist ein solcher Schreiber, er gehört zu den russischen Truppen, die vom Frühjahr 1900 bis zum Herbst 1901 gemeinsam mit Deutschen, Briten, Franzosen, Österreichern, Japanern und Amerikanern den chinesischen „Boxeraufstand“ niederschlagen.
  Es gibt aber in diesem Roman keine Jahreszahlen, und keiner der Briefe ist datiert. Denn der andere, nicht-amtliche Briefsteller, dem sie folgen, sind die Briefromane aller Zeiten, in denen Liebende – oder Verräter, Verführer, Treulose – im Schreiben ihre Trennung überbrücken, vertiefen, bedenken oder beklagen. Jeder Schreibende aber ist mit sich selbst allein. Aus dem eigentümlichen Paradox des Briefes, ein Medium des Dialogs und zugleich ein Monolog zu sein, hat Schischkin die Formidee seines Romans gewonnen. Jeder Brief ist an den Geliebten, die Geliebte adressiert. Aber keiner ist ein Antwortbrief.
  Wolodenka mag nach knapp hundert Seiten gefallen sein, aber es treffen weiter Briefe von ihm ein – beim Leser, ob bei der Geliebten ist ungewiss. Der Soldat ist eingeschlossen in die Gegenwart des Krieges und seiner Kindheitserinnerungen, er wird nicht älter. Seine Geliebte, Saschenka, sieht sich nach der Todesnachricht im Sarg, geht aber weiter durch die Zeit, arbeitet Jahr um Jahr in einer Klinik, wird älter, liebt trostlos, sieht Kinder sterben und führt Abtreibungen durch, verliert Vater und Mutter, verliert ihre Zukunft und ihre Jugend. Sie erlebt einen russischen Desillusionsroman.
  Die beiden Sphären, die durch die Briefe verklammert werden, sind: Krieg und Frieden. Ein Vers aus Hamlet spukt Wolodenka durch den Kopf: „Die Zeit ist aus den Fugen“. Ihre Adressatin macht seine Briefe zu Liebesbriefen, vom Gehalt her sind sie Kriegsbriefe. Im Blick auf den in Russland hinter dem „Großen Vaterländischen Krieg“ nahezu verschwundenen „Boxeraufstand“ zeichnet Schischkin das Bild des modernen Krieges in einer Härte und Schärfe, die den Vergleich mit Stendhal und Tolstoi nicht scheuen muss. „Solange man noch schreibt, ist man noch am Leben. Dass Du diese Zeilen liest, heißt, der Tod ist hinausgeschoben.“
  Schischkin lässt seine Hauptfiguren in einer einfachen, anschaulichen Sprache schreiben, die dem Gesehenen, Gehörten, Gefühlten und den Gerüchen nahe bleibt, ob es um die Latrinen und die Leichen in der Kriegswelt oder das Parfüm und die Säuglingswindeln der Friedenswelt geht. Aber er fügt in das Kaleidoskop der Krieg- und Friedens-Bilder knappe, markante Reflexionen ein. Gleich zu Beginn kommt Saschenka der Gedanke, „dass die wirklich großen Bücher oder Gemälde gar nicht von Liebe handeln, das geben sie nur vor, damit das Lesen Spaß macht. In Wirklichkeit geht es um den Tod. Da ist die Liebe nur Fassade, oder besser gesagt: eine Augenbinde. Damit man nicht zuviel sieht. Sich nicht graust.“
  Saschenka spricht hier auch für ihren Autor. Je länger man in diesem Buch liest, desto mehr wird der Briefroman, der doch eigentlich wie kaum eine andere literarische Form mit der Liebe im Bunde ist, zur Fassade einer Doppelgängergeschichte, in deren Zentrum der Tod abwechselnd in Zivil und in Uniform auftritt. Das gelingt Schischkin, weil die Sprache der Briefe hier wie dort überaus lebendig, manchmal auch sarkastisch ist und, wenn es um die Sehnsüchte und vergeblichen Hoffnungen geht, nie sentimental wird, sondern einfach bleibt: „Meine liebe, geliebte Saschenka! Ich bin auf dem Weg zu dir. Es dauert gar nicht mehr lange.“
  Andreas Tretner hat diesen sehr lebendigen Roman über den Tod in Krieg und Frieden in ein sehr lebendiges Deutsch übertragen.
Schischkin sagt zu Recht von sich,
sein Schreiben wurzele tief in
der russischen Tradition
„Dass Du diese Zeilen liest,
heißt, der Tod
ist hinausgeschoben“
Michail Schischkin, 1961 in Moskau geboren, lebt seit 1995 in Zürich. Sein Roman „Venushaar“ erhielt 2011 den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt.
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Michail Schischkin: Briefsteller. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012. 384 Seiten, 22,99 Euro.  
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»Michail Schischkin ist ein mächtig ausgreifender Erzähler und Wortgläubiger mit Klassikerpotenz, wie man ihn schon lange nicht mehr sah in der russischen Weltliteratur.« NZZ am Sonntag