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1835 erschien mit der "Rheinreise" der erste Reiseführer im Baedeker-Verlag. Es folgten die Bände "Belgien", "Holland", "Schweiz", "Paris und Umgebung" - das Reisehandbuch, aber auch eine neue Art des Reisens und des Sehens war geboren. Denn die Welt, die durch ein Reisehandbuch betrachtet wird, ist eine andere. Reisehandbücher, so Susanne Müller, sind in erster Linie touristische Sehhilfen: Sie erleichtern das Auffinden von Sehenswürdigkeiten und sorgen dafür, dass der Reisende die "richtigen" Dinge auch "richtig" sieht.
Vornehmlich am Beispiel des populärsten europäischen Reiseführers
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Produktbeschreibung
1835 erschien mit der "Rheinreise" der erste Reiseführer im Baedeker-Verlag. Es folgten die Bände "Belgien", "Holland", "Schweiz", "Paris und Umgebung" - das Reisehandbuch, aber auch eine neue Art des Reisens und des Sehens war geboren. Denn die Welt, die durch ein Reisehandbuch betrachtet wird, ist eine andere. Reisehandbücher, so Susanne Müller, sind in erster Linie touristische Sehhilfen: Sie erleichtern das Auffinden von Sehenswürdigkeiten und sorgen dafür, dass der Reisende die "richtigen" Dinge auch "richtig" sieht.

Vornehmlich am Beispiel des populärsten europäischen Reiseführers erzählt Susanne Müller seine Geschichte von den Anfängen um 1830 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie ist eng verwoben mit der Aufklärung und dem Aufstieg des Bürgertums, der Entstehung von Dampfschifflinien, der Eisenbahn sowie der modernen Fotografie.

1945 endet die Darstellung, denn auch die "große Zeit" des Baedekers war vorbei. Der Mythos, er hätte den Deutschen bei den Bombenangriffen auf England als Zielhilfe gedient, ruinierte seinen Ruf. Ebenso hatte sich das klassische Zielpublikum gewandelt: Der moderne Massentourismus eroberte die Kontinente.
Autorenporträt
Susanne Müller, Dr. phil., lebt in Berlin und forscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam. Neben der Kulturgeschichte des Reisens liegen ihre Forschungsschwerpunkte in der Mediengeschichte und Medienkultur des 19. und 20. Jahrhunderts.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.07.2012

Warum ist es am Rhein so schön?

Sehenswürdigkeiten abtraben mit Baedeker: Eine sehr anregende Kulturgeschichte des Reiseführers erzählt von Bedingungen unserer touristischen Existenz.

In Essen, das zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts kaum mehr als 5000 Einwohner hatte, kommt kurz nach der Jahrhundertwende Karl Baedeker als Sohn eines Buchhändlers und Zeitungsherausgebers zur Welt. Er studiert ein wenig, lernt bei Mohr & Winter in Heidelberg sowie beim Berliner Verleger der Romantiker, Reimer, und lässt sich schließlich, weil ihm Essen zu provinziell ist, 1827 in Koblenz als Verlagsbuchhändler nieder. Die Stadt ist damals ein Knotenpunkt des beginnenden bürgerlichen Tourismus, der es mit dem Rhein mindestens so hatte wie die Romantiker. Im selben Jahr wird der regelmäßige Schiffsverkehr zwischen Köln und Mainz eröffnet.

Es war die Zeit der Naturbesichtigung. Man schaute an Kirchtürmen nicht mehr empor, sondern bestieg sie, um Ausblicke zu gewinnen. Der erste reinen Aussichtszwecken dienende Turm war 1772 im Odenwald auf dem Melibocus errichtet worden. In Immanuel Kants Ästhetik wurde nicht einmal zwanzig Jahre später das Erhabene als Reflex unserer Fähigkeit bestimmt, Dinge, die uns bedrohen - beispielsweise Wasserfälle, Wälder, Stromschnellen, Gletscher - ohne wirkliche Furcht zu genießen. Selbstverständlich bedrohte das alles höchstens dann, wenn man eigens zur Gefahr hinreiste. Doch eben dies, das freiwillige Spiel mit der Unlust, etablierte sich nach 1800 als Vergnügen weiterer Kreise. Die Romantik sang mehr als ein schauriges Lied davon, für den Tourismus bildete es die Geschäftsgrundlage.

Karl Baedeker ergriff die Chance, die darin lag, dass die "Schnelltouristen", wie sie damals genannt wurden, weil sie sich weniger Zeit nahmen als die Adligen auf ihren "Grand Tours" durch halb Europa, gerade deshalb nicht völlig unvorbereitet aufs Außerordentliche sein wollten. Der Tourist kennt die Sprache der Bereisten nicht - also braucht er Wörterbücher. Wem soll er trauen? Also braucht er Tipps. Wo genau ist überhaupt das Sehenswerte? Die Einheimischen helfen einem da nicht, denn sie wollen ja in erster Linie Geschäfte machen und womöglich sogar die eigentlichen Sensationen gar nicht herzeigen.

1832 kauft Baedeker die Rechte an Johann August Kleins "Rheinreise von Mainz bis Köln", und ein Unternehmen, dessen Name heute noch gilt, begann. Die Potsdamer Historikerin Susanne Müller hat mehr als seine Chronik geschrieben. Wenn sie ihre Geschichte des Reiseführers eine "Medienkulturgeschichte" nennt, dann klingt das anstrengend, und die ersten zwanzig Seiten, denen man die Dissertation noch anmerkt, die der Text ist, kann der am Tourismus interessierte Leser ohne Verlust schnelltouristisch hinter sich bringen. "Medienkultur" ist aber in ihrem Buch ganz pragmatisch gemeint: Das Buch will zeigen, in wie vielfältigen Nutzungszusammenhängen die Reiseführer standen und wie sie sich mit dem Tourismus und er mit ihnen entwickelt haben.

Um 1840 nimmt das von Lektüre begleitetet Reisen Fahrt auf, was damals hieß: Man kann mehr als tausend Exemplare der Reiseführer verkaufen. Baedeker druckt Handbücher für Belgien, Holland, Österreich und die Schweiz. Er legt Stadtpläne bei, unterscheidet ab 1846 Dampfschiff- und Eisenbahnreisen. Nur Frankreich mag er nicht, "Paris und Umgebungen" verfasst er 1855 nur widerwillig, trotzdem wird es ein großer Erfolg.

Was war die Attraktion des damaligen Fremdenverkehrs? Warum war es am Rhein so schön? Weil das Naturschauspiel zugleich Geschichtsschauspiel war: Felsen, Burgen, Mittelalter, Loreley, Nibelungen. Die entsprechende Insistenz, man sei mit Wichtigstem - etwa Denkmälern - beschäftigt, nervte verständlicherweise schnell. "Tourist" schreibt 1845 das Grimmsche Wörterbuch, ist derjenige, zumeist Engländer oder Amerikaner, der mit dem Baedeker unterm Arm Sehenswürdigkeiten "abtrabt".

Auch dem Baedeker, schreibt Müller, teilt sich dieses Paradox mit: dass einer großen Zahl der einzige richtige Blickwinkel empfohlen wird, der sich aber, sonst müsste man ihn nicht empfehlen, nicht von selbst aufdrängt, womit klar ist, dass man "nur sieht, was man weiß", wie es viel später heißen sollte. Die Aussicht vom Rigi in der Zentralschweiz wird drei Seiten lang beschrieben, damit der Reisende auch wirklich sieht, was zu sehen ist. Aber das nimmt im Verlauf der Zeit ab, und im zwanzigsten Jahrhundert enthalten die Reiseführer dann kaum mehr solche ausführlichen Vorschriften des Erlebens. Schließlich darf der Helfer die Reise nicht ersetzen wollen, weswegen die Medien und die touristische Behauptung, man könne sich das Erlebnis nicht medial aneignen, in einen Wettlauf treten. Die mediale Wiedergabe wird immer raffinierter, aber sie geht an der Frage vorbei, ob das, was der Tourist sucht, wirklich eine Anschauung ist.

Man kann die Geschichte des Reiseführers darum auch als eine Geschichte der thematischen Universalisierung des Tourismus lesen. Das schnelle und das langsame Reisen wird als reizvoll entdeckt, nicht nur Landschaften sind schön, auch Städte, man reist "weltoffen und eurozentristisch zugleich" (Müller), die Eisenbahn legt Hinfahren und Dableiben - Alpenpanorama! - nahe, das Auto führt zu Einmalübernachtungen und zur Möglichkeit, noch größere Mengen an Sehenswürdigkeiten abzuarbeiten. "Unterwegs noch eine schöne Dampfmaschine auf einem Kohlberge besehen", notiert schon 1828 ein Tourist in Belgien, und selbst der Baedeker nimmt schon 1849 Oberhausen als Reiseziel auf, von Elberfeld ganz zu schweigen.

Bis 1979 hingegen verweigerte der Baedeker standhaft Fotografien, außer in Handbüchern für Griechenland und den Nahen Osten. Der praktische Grund für die Bildlosigkeit waren die Kosten, der tourismusmetaphysische aber lag vermutlich darin, dass der Tourist die Dinge ja ohnehin sehe und ihre Abbildungen dahinter nur zurückbleiben könnten. Siegfried Kracauer hingegen meinte: "Im Grunde reisen viele Leute ins Ausland, ohne irgendetwas zu sehen. Kaum haben sie sich überzeugt, daß etwa der Parthenon sich an der im Reiseführer angegebenen Stelle findet, machen sie unverzüglich Aufnahmen von ihren Lieben vor einer antiken Säule."

Schärfer noch kritisierte Ludwig Wittgenstein sogar den bilderlosen Baedeker: Touristen läsen in ihm über die Entstehungsgeschichte von etwas, das sie eben deshalb nicht sähen. Der Reiseführer als Sehhilfe - Müller berichtet von dem zynischen Titel "Bomber's Baedeker", der als Bordbuch englischen Militärpiloten die Abwurfstellen in Deutschland beschrieb - ist ein Medium, das den Blick einstellt, aber auch lenkt. Vor allem aber erlaubt er interaktionsarmes Reisen, er tröstet den Touristen gewissermaßen über die Nachteile seiner Zwecksetzung hinweg, "in der Fremde" sein zu wollen. Dass sich das verändert, wenn es jene kulturellen Taschenrechner gibt, die wir Smartphones nennen und die zugleich Navigationsgeräte wie Telefone und Reiseführer sein können, liegt auf der Hand. Nur wissen wir so wenig wie Karl Baedeker mit seinen Büchern, was genau wir da in der Hand halten.

JÜRGEN KAUBE

Susanne Müller: "Die Welt des Baedeker". Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830-1945.

Campus Verlag, Frankfurt am Main 2012. 354 S., Abb., br., 29,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Erhellend scheint Malte Thran diese mediengeschichtliche Untersuchung über den Reiseführer Baedeker, die Susanne Müller vorgelegt hat. Bei der Lektüre hat er allerlei Interessantes gelernt - etwa dass die Nazis den Baedeker zur Vorbereitung ihres Überfalls auf Dänemark und Norwegen nutzten. Im Zentrum der Untersuchung steht für ihn aber die Frage, wie das Reisehandbuch als "Seh-Schule" fungierte und eine "Seh- und Raumordnung" konstruierte, die die Wahrnehmung der Reisenden färbte. Allerdings geht ihm die Autorin ein wenig zu weit, wenn sie das Spezifische des Baedeker als ein Instrument für den "seh-süchtigen" bürgerlichen Touristen auf das Medium Reisehandbuch generell bezieht und so suggeriert, "dass solcher Tourismus Lüge ist und dass Reisehandbücher wie der Baedeker eine Anleitung zum Selbstbetrug sind."

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Warum ist es am Rhein so schön?
"Eine sehr anregende Kulturgeschichte des Reiseführers erzählt von Bedingungen unserer touristischen Existenz." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.07.2012)

Anleitung zur Seh-Sucht
"Die Stärke von Susanne Müllers Untersuchung liegt im Aufzeigen der Verbindungen zwischen Reise, Medien und der neuen Art, die Welt zu sehen - der 'Seh-Sucht' des modernen Tourismus." (Süddeutsche Zeitung, 03.08.2012)

Man sieht nur, was man weiß
"Die detaillierte Studie ist auch eine Reise durch die Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, eine Beschreibung des aufsteigenden Bürgertums, der Entwicklung von Dampfschifffahrt und Eisenbahn sowie der Fotografie." (NZZ am Sonntag, 26.08.2012)