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Wehrwissenschaften - Eine Ideengeschichte des Krieges im 20. Jahrhundert.Mit der Erfahrung des Ersten Weltkrieges wurde das Verhältnis von Krieg, Militär und ziviler Gesellschaft neu verhandelt. Das Deutungsmuster des »totalen Krieges« und die spezifischen Zeitumstände lieferten den Nährboden für Ideen, die unter dem Stichwort Wehrwissenschaften firmierten und sich nur unzureichend mit den Kategorien eines nach Disziplinen geordneten Wissenschaftssystem begreifen ließen. Die Geschichte der Wehrwissenschaften zeigt, wie die Idee des Krieges sich einmal in den Disziplinen manifestierte, aber…mehr

Produktbeschreibung
Wehrwissenschaften - Eine Ideengeschichte des Krieges im 20. Jahrhundert.Mit der Erfahrung des Ersten Weltkrieges wurde das Verhältnis von Krieg, Militär und ziviler Gesellschaft neu verhandelt. Das Deutungsmuster des »totalen Krieges« und die spezifischen Zeitumstände lieferten den Nährboden für Ideen, die unter dem Stichwort Wehrwissenschaften firmierten und sich nur unzureichend mit den Kategorien eines nach Disziplinen geordneten Wissenschaftssystem begreifen ließen. Die Geschichte der Wehrwissenschaften zeigt, wie die Idee des Krieges sich einmal in den Disziplinen manifestierte, aber auch in inter- und transdisziplinäre Räume und Kontaktflächen zu gesellschaftlichen Teilsystemen diffundierte. Diese umfassende Ausrichtung auf den Krieg ist eine Fallstudie zur »Bellifizierung« der Gesellschaft, denn hier zeigt sich die umfassende Selbstmobilisierung ziviler Akteure in Fragen des Krieges im 20. Jahrhundert.
Autorenporträt
Frank Reichherzer, Studium Geschichte, Politik und Rhetorik (Tübingen, Florenz): SFB 437 Kriegserfahrungen (Tübingen); Mitarbeiter Humboldt-Universität zu Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Gedachte Siege, verlorene Kriege ...

Je restriktiver nach 1918 der Versailler Vertrag den Umgang mit militärischen Ressourcen regelte, umso größer wurde das deutsche Bedürfnis, für einen neuen Waffengang gerüstet zu sein.

Von Carsten Kretschmann

Woran mag Claudia Schiffer gedacht haben, als sie vor Jahren einmal in Camouflage-Jeans eines großen deutschen Bekleidungsherstellers vor der Kamera posierte? Wahrscheinlich an nicht allzu viel. Vielleicht an das Honorar. Was stand einer Mutter vor Augen, die ihren kleinen Sohn hundert Jahre zuvor in einen Matrosenanzug steckte? Der nächste Krieg? Wohl kaum. Das unerhörte Prestige der kaiserlichen Flotte? Schon eher. Die Mode der Zeit? Sicher auch. Dass das Verhältnis von Gesellschaft, Militär und Krieg ausgesprochen vielschichtig ist, voller Überraschungen und nicht frei von Friktionen, belegt Frank Reichherzers eindrucksvolle Studie. Auf breiter Quellenbasis zeichnet der Verfasser - methodenbewusst und thesengeleitet - die Entwicklung der Wehrwissenschaften von der Weimarer Republik bis in die Bundesrepublik nach und rekonstruiert zugleich ein interdisziplinäres Forschungsfeld, an dem Natur- und Ingenieurwissenschaften ebenso beteiligt waren wie Geschichte, Philosophie und Geographie. Die "Entgrenzung", von der nach 1918 nicht selten die Rede war, betraf keineswegs nur den Krieg, sondern auch die Wissenschaft. Und das galt bereits in den zwanziger Jahren als modern und innovativ.

Allerdings versteht sich die Studie nicht in erster Linie als Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte. Sie betrachtet den Aufstieg der Wehrwissenschaften vielmehr als Triebfeder einer konsequenten Ausrichtung der Gesellschaft auf den Krieg, als Ausdruck einer Weltanschauung also, die alle Erscheinungen des Lebens in den Kategorien von Krieg und Frieden bewertete. Im Mittelpunkt steht dabei zunächst das "wehrwissenschaftliche Feld" mit seinen verschiedenen Akteuren und Konzepten. Doch wird rasch deutlich, dass die Logik des Krieges auch andere soziale Felder beeinflusste: "Durch, mit und in der Bellifizierung wurde der Krieg für die Zeitgenossen zum Maß aller Dinge."

Der Aufstieg der Wehrwissenschaften, so Reichherzer, wäre undenkbar gewesen ohne das "Wehrsyndrom" nach dem Ersten Weltkrieg. Je restriktiver der Versailler Vertrag den Umgang mit den militärischen Ressourcen regelte, umso größer wurde das Bedürfnis, für einen neuen, vermeintlich unabwendbaren Waffengang gerüstet zu sein. Und je bitterer die Niederlage von 1918 nachwirkte, umso süßer winkten die Siege der Zukunft. Der Krieg ging derweil nicht nur in den Köpfen weiter. Der Wehrsport etwa wurde für die akademische Jugend zum Ersatz für die abgeschaffte Wehrpflicht und zugleich zum "Balsam für den Phantomschmerz eines romantisch verklärten, kriegerisch-militanten Männlichkeitsideals". Die öffentliche Hand förderte die Produktion geländegängiger Fahrzeuge, und die staatlichen Kampagnen zur Volksgesundheit zielten auf eine kriegstaugliche Gesellschaft. Die "totale Mobilmachung" (Ernst Jünger) setzte eine permanente Bereitschaft zum Krieg voraus.

Dass das "Wehrsyndrom" nach dem Ersten Weltkrieg besonders ausgeprägt war, ist nicht zu bestreiten. Die Anamnese reicht jedoch weiter zurück, als es die Studie vermuten lässt. Tatsächlich wurde der Siegeszug der Wehrwissenschaften auch durch längerfristige Faktoren ermöglicht. Die Kriegführung etwa war bereits im 19. Jahrhundert immer weiter verwissenschaftlicht worden, und speziell die vom älteren Moltke eingerichtete Militärwissenschaftliche Abteilung im Preußischen Generalstab hatte zu einer Spezialisierung und Professionalisierung der Offiziersausbildung geführt. Science-Fiction-Romane wiederum hatten schon vor Ausbruch des Weltkriegs apokalyptische Visionen heraufbeschworen, die einen militärischen Schlagabtausch unvermeidlich und den Einsatz von Giftgas wahrscheinlich erscheinen ließen. Und die "Grenzen zwischen ziviler Gesellschaft und Militär" waren spätestens durch die Herrschaft der Dritten Obersten Heeresleitung verwischt worden. Doch weder Paul von Hindenburg noch Erich Ludendorff werden in diesem Buch erwähnt.

Stattdessen ist ausführlich von den Konflikten innerhalb der Wehrwissenschaften die Rede. Besonders anschaulich traten sie bei der Wehrwissenschaftlichen Tagung deutscher Hochschullehrer hervor, die im April 1933 an der Technischen Hochschule in Berlin stattfand. Zwar zeichnete sich die Veranstaltung, die noch vor der nationalsozialistischen Machtübernahme konzipiert worden war, einerseits durch einen Grad von Selbstmobilisierung aus, der die Gleichschaltung gewissermaßen vorwegnahm. Andererseits war nicht zu übersehen, dass "über den Gegenstand" der Wehrwissenschaften "fast jeder eine andere Ansicht" besaß, wie Karl Linnebach, seit 1932 einflussreicher Hauptschriftleiter der Zeitschrift "Wissen und Wehr", im Rückblick festhielt. Uneinigkeit herrschte dabei vor allem zwischen den Vertretern naturwissenschaftlich-technischer, (also: anwendungsorientierter) Fächer und den Vertretern geisteswissenschaftlicher Fächer. Mochten einzelne Stimmen auch darauf hinweisen, der Soldat benötige eine "charakterliche Bildung" und insbesondere die Geschichtswissenschaft sei in der Lage, die Jugend "moralisch zur Opferbereitschaft" zu erziehen - aus der Perspektive eines Panzerkonstrukteurs klang das nach Damenprogramm.

Gleichwohl waren es nicht zuletzt Historiker, die vom Aufschwung der Wehrwissenschaften profitierten. Ob etwa Paul Schmitthenner, ein Privatdozent fortgeschrittenen Alters, der im Mai 1933 auf die neugeschaffene "Professur für Wehrgeschichte und Wehrkunde" an der Universität Heidelberg berufen wurde, ohne diesen Rückenwind je Rektor der altehrwürdigen Ruperta Carolina geworden wäre, darf füglich bezweifelt werden. Und auch Gerhard Oestreich, dessen Konzept der "Sozialdisziplinierung" später ganze Sonderforschungsbereiche beschäftigen sollte, verdankte seine Karriere bis 1945 maßgeblich dem Auftrieb der Wehrwissenschaften. Ihren "vornehmsten Zweck" sah Oestreich - seit 1935 Assistent am Berliner Institut für Wehrpolitik, einem wichtigen think tank der nationalsozialistischen Kriegsplanung - nach eigenem Bekunden darin, "unmittelbar mit ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen der politischen und militärischen Führung von Volk und Staat zu dienen".

Ob es sich damit im Kalten Krieg, den der Verfasser nurmehr im Rahmen eines gedrängten Ausblicks streift, wesentlich anders verhielt, muss vorerst offenbleiben. Mit paradoxen Wendungen ist dabei zu rechnen. Schließlich waren es ausgerechnet die neuen sozialen Bewegungen, durch die sich in den siebziger Jahren eine ungeahnte Selbstmobilisierung der Gesellschaft vollzog. Und nicht nur im militanten Pazifismus dachte man unverhohlen in den Kategorien von Freund und Feind. Die Demonstranten, die am Bauzaun von Wackersdorf rüttelten, trugen mehr als einmal olivgrüne Parkas.

Frank Reichherzer: "Alles ist Front!" Wehrwissenschaften in Deutschland und die Bellifizierung der Gesellschaft vom Ersten Weltkrieg bis in den Kalten Krieg.

Ferdinand Schöningh, Paderborn 2012. 515 S., 44,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit großem Interesse hat Carsten Kretschmann diese Studie gelesen, in der Frank Reichherzer die Entwicklung der Wehrwissenschaft nachzeichnet, die sich ab dem Ersten Weltkrieg aus einer Vielzahl von Disziplinen speiste und mit einer enormen Bellifizierung der Gesellschaft einherging, wie Kretschmann darstellt. Je drückender die Kriegsniederlage und der Versailler Vertrag empfunden wurden, umso größer wurde die Sehnsucht nach Vergeltung, die etwa durch den aufkommenden Wehrsport genährt wurde. Dass sich der Autor auf die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen konzentriert und den Zweiten Weltkrieg wie den Kalten Krieg nur streift, findet der Rezensent offenbar nicht schlimm, er hätte sich aber gewünscht, dass Reichherzer weniger Augenmerk auf innerakademische Konflikte gelegt hätte, stattdessen aber die tatsächliche Machtübernahme der obersten Heeresleitung (Hindenburg und Ludendorff) in der Weimarer Republik behandelt hätte.

© Perlentaucher Medien GmbH