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Die Geschichte der Individualisierung ist in den letzten Jahren, insbesondere vor dem Hintergrund historisch-anthropologischer Forschungen, neu entdeckt worden: Fragen nach der geschichtlichen Entwicklung subjektiven Individualitätsbewusstseins sind in diesem Kontext ebenso in den Vordergrund gerückt wie Formen gelebter Individualität. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen zeigen, dass sich vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart in unterschiedlichen sozial-kulturellen Milieus und bei beiden Geschlechtern immer wieder der Wunsch, aber auch konkrete Möglichkeiten zur individuellen Planung oder…mehr

Produktbeschreibung
Die Geschichte der Individualisierung ist in den letzten Jahren, insbesondere vor dem Hintergrund historisch-anthropologischer Forschungen, neu entdeckt worden: Fragen nach der geschichtlichen Entwicklung subjektiven Individualitätsbewusstseins sind in diesem Kontext ebenso in den Vordergrund gerückt wie Formen gelebter Individualität. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen zeigen, dass sich vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart in unterschiedlichen sozial-kulturellen Milieus und bei beiden Geschlechtern immer wieder der Wunsch, aber auch konkrete Möglichkeiten zur individuellen Planung oder Gestaltung wesentlicher Lebensbereiche nachweisen lassen. Menschen erscheinen zu keinem Zeitpunkt der Geschichte als passive Subjekte, sie erfahren nicht nur Geschichte, sondern gestalten sie auch. Wie sich diese Entdeckung des "Ich" über Jahrhunderte hinweg entwickelte, versuchen die Autorinnen und Autoren dieses Bandes herauszufinden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001

Es sucht das Ich am liebsten sich
Jägerlatein: Richard van Dülmen erzählt, wie das Selbst sich selber fand / Von Roland Kany

Ernst Gombrich gab seinen Studenten einmal eine Anekdote über den greisen Jacob Burckhardt zum besten. Als "Die Cultur der Renaissance in Italien" nach Jahrzehnten in vierter Auflage erschien, sei Burckhardt gefragt worden, ob er noch an der These seines Buches festhalte, wonach dem Zeitalter der Renaissance die Entdeckung der Welt und des Menschen, ja die Bewußtwerdung des Individuums zu bescheinigen sei. Burckhardt habe geschmunzelt und nur gesagt: "Wo denken Sie hin? Aber die Leute lesen's halt so gern." Gombrich fügte hinzu, daß es Burckhardt nicht entgangen sein könne, daß viele der schönsten Belegstellen für seine große These aus Dantes Werk stammten, der nun gerade kein Dichter der Renaissance, sondern des Mittelalters gewesen sei.

Doch markante Theorien sind zählebig. "Entdeckung des Ich" heißt ein Band mit dem Umfang und Bildmaterial eines großen Ausstellungskataloges, in dem Richard van Dülmen vierundzwanzig Aufsätze verschiedener Kollegen so arrangiert und eingeleitet hat, daß Burckhardts ursprüngliche Auffassung noch immer als Bezugspunkt durchscheint. Sie wird als eine gängige Vorstellung bezeichnet, die problematisiert werden müsse, weil schon im christlichen Mittelalter "erstmals eine verstärkte Ich-Reflexion und Hervorhebung des Individuellen einsetzte". Unsere Gegenwart sei durch die Individualisierung der Lebensverhältnisse und Lebensstile gekennzeichnet. Vorgegebene Lebensweisen würden in Frage gestellt, eine Loslösung von Zwängen und Traditionen angestrebt, was eine individuelle Lebensgestaltung, selbst entworfene Leitbilder und Selbstbestimmung erfordere.

Worin liegen die Ursprünge dieser Situation der Zeit? Als Vertreter der historischen Anthropologie greift van Dülmen weit aus und umreißt mit Hilfe der Einteilung des Bandes in vier Epochenabschnitte das Bild einer rund vierzehnhundertjährigen Entwicklung, die zwar nicht einlinig, aber doch tendenziell so verlaufen sei soll: Am Anfang stehen die "Spuren der Individualität im Mittelalter und in der Renaissance", die "Entdeckung des Selbst in der Frühen Neuzeit" schließt sich an, "Individuum und bürgerliche Gesellschaft" bilden im neunzehnten Jahrhundert eine spannungsvolle Einheit, und die "Individualität in der modernen Lebenswelt" reicht bis heute.

Wer die vier so betitelten Räume dieser imaginären Ausstellung betritt, findet oft reizvoll dekorierte Vitrinen vor, in denen jedoch ganz verschiedene Geschichten erzählt werden. Peter Dinzelbacher etwa meint "deutlich" zu erkennen, daß die "Entdeckung des Individuums" sich im zwölften Jahrhundert ereignet habe, und findet, daß der allen Katholiken seit dem dreizehnten Jahrhundert auferlegte Zwang zur jährlichen Einzelbeichte eine bedeutende Komponente für die Genese europäischer Individualität sei. Aber kann man aus Normen auf massenhafte Mentalität schließen? Christoph Wagner beobachtet eine Zunahme von Porträts und Selbstbildnissen in Mittelalter und Renaissance. Die Entdeckung des Helldunkels im Porträt habe seit Jan van Eyck eine ganz neue seelische Charakterisierung des porträtierten Menschen ermöglicht. Die Beobachtung mag richtig sein. Aber betrifft sie wirklich die Mentalitätsgeschichte und nicht vielmehr einzig und allein einen stilgeschichtlichen Sachverhalt? Zu oft scheint hier noch die alte geistesgeschichtliche Methode durch, aus Dichtung, Kunst oder theologischen Traktaten auf das Wesen der Menschen einer Epoche zu schließen.

Mehrere Autoren unterlaufen die Rahmenerzählung wohltuend, indem sie sich auf ein begrenztes Corpus von Dokumenten beschränken, ohne daraus epochale Konstrukte hervorzuzaubern. Viele interessante kulturgeschichtliche Aspekte des Sports, der Pädagogik oder des Krieges scheinen auf. Rebekka Habermas zeigt, daß im neunzehnten Jahrhundert die bürgerliche Familie eigentlich erst erfunden wurde, doch bereits damals der Vorwurf laut wurde, eine unerhörte Individualisierung der weiblichen Natur drohe die Familie zu zerstören. Freilich wird von Aufsatz zu Aufsatz immer unklarer, was genau das Thema des Bandes ist.

Am Schluß konfrontiert Richard van Dülmen den Besucher seiner Ausstellung mit einer Überraschung. Im letzten Raum, an der letzten Vitrine, lehnt lässig Gerhard Schulze und erklärt sehr vernünftig: "Die Kultivierung des Individuellen stellt sich im Rückblick als Inszenierungsgeschichte dar. Hält man einzelne Bilder nebeneinander, so fühlt man sich an den Gang durch ein Museum erinnert. Fortschritt im Sinn einer Annäherung an ein Ideal - das der angeeigneten Individualität - ist nicht erkennbar, lediglich ein Weitergehen von einer symbolischen Kreation zur nächsten. Was sich im Lauf der Zeit steigerte, jedenfalls in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts, war lediglich die Lautstärke, mit der die Durchsetzung von Individualität behauptet, suggeriert, beschworen wird." Der abgebildete Minister Fischer in Turnschuhen ist nicht individualistischer als der Minister im feinen Sakko mit Weste. Die Verachtung der Masse ist selbst massenhaft.

Zum Ausgang wird der Besucher von zwei Humangenetikern begleitet; beide halten nichts vom Klonen, geben aber Entwarnung: Auch der geklonte Mensch könne sich biographisch zu einem Individuum entwickeln. Wer Menschenmassen manipulieren wolle, der brauche kein Klonlabor, sondern die Macht über die Medien. Was bleibt von der großen Erzählung van Dülmens, wenn der archaische Mensch genau wie der moderne gar nicht anders als singulär sein kann? Spätestens jetzt wird klar, wie ungenau die Begriffe in van Dülmens Einleitung sind. Bald ist von der Individualisierung die Rede, bald vom Individuum, vom Ich, vom Selbst, vom Subjekt, von "verstärkter Ich-Reflexion" und "Hervorhebung des Individuellen". Jeder dieser Termini besagt etwas anderes und hätte, scharf gefaßt, eine eigene Geschichte verdient. Alle zusammengerührt ergeben nur ein Potpourri.

Die zentrale These des Buches, der Beginn des Prozesses der Individualisierung sei ins Mittelalter zu datieren, läßt sich mit unscharfen Kriterien nicht argumentativ belegen. So ist schon Archilochos, einer der allerfrühesten griechischen Dichter, ein Mann höchst subjektiver Individualität. Eduard Meyer hat in seinem klassischen Werk die Geschichte des Altertums als Prozeß fortschreitender Individualisierung mit Sokrates als Höhepunkt dargestellt. Die ausgearbeitetste, im Reflexionsniveau am ehesten mit der Moderne vergleichbare Theorie des Selbstbewußtseins findet sich bei Plotin - im dritten Jahrhundert nach Christus. Das einzige Argument van Dülmens, die Antike habe "noch keine moderne Begrifflichkeit" gekannt, ist läppisch.

Vielleicht ist der Band mit seinem durchaus faszinierenden Thema ein Zeugnis dafür, daß sich auch nach dem Ende der großen Rahmenerzählungen (Lyotard) gegenwärtige Individualität gerne in ebensolchen Erzählungen mit Anfang, Mitte und Schluß verankert wissen will. Der Narziß auf dem Titelbild ist eben auch das Emblem der Gegenwart. Im Unterschied zu vielen früheren Zeiten wird allerdings heute beflissen dementiert, daß es sich um eine einlinige Erzählung handle. Und doch wird sie erzählt. Die Leute hören sie halt so gerne.

Richard van Dülmen (Hrsg.): "Entdeckung des Ich". Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2001. 638 S., 336 S/W- und 40 farbige Abb., geb., 98,- DM (bis 31. März 2002, danach 129,- DM).

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"Wer spricht in mir, wenn ich spreche? Nicht nur Dichter fragen sich das - wie dieser Band in Großformat vielseitig belegt." (Der Spiegel, Sonderteil "Frankfurter Buchmesse") "(...) umfangreiche und reichlich bebilderte Untersuchung (...) Ein prall gefülltes Werk nicht nur für Skeptiker der Medienwelt und ihrer Ich-Inszenierungen, sondern auch für Bioethiker: Denn die letzte Frage nach dem Ich stellt sich zwangsläufig in einer Welt der Klone." (Der Spiegel) "Ein anregender, kulturgeschichtlicher Reigen, der seinen Reiz auch den zahlreichen Abbildungen verdankt." (Neue Züricher Zeitung)

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Franziska Meier ist nicht zufrieden. Gut zwanzig Autoren schreiben hier über das Thema der Individualität, und jeder dieser Beiträge hat einen individuellen Begriff von der Sache. Aber Meier macht auch gewichtige Einwände: Es stört sie zum Beispiel, dass die Entwicklung der Individualität seit dem Mittelalter in den einzelnen Beiträgen immer als Kontinuum dargestellt wird, obwohl doch allgemein bekannt sei, dass sie sich auch und gerade in Brüchen verwirkliche. Kritisch merkt Meier auch an, dass ausgerechnet die "Blütezeit der Individualität", die Zeit um 1800, im Band unterbelichtet bleibt. Ihr Artikel zum "monstruösen", aber zumindest "üppig bebilderten" Bandes endet kulturpessimistisch: Es habe ja schon gar keinen Sinn mehr, auf Hegels Begriff des Individuums zu verweisen. Anscheinend verstehen ihn heute nicht mal mehr die einschlägigen Professoren!

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