Es gibt wohl keinen Jazz-Fan, der nicht ein entscheidendes Initiationserlebnis der ersten gehörten Aufnahme von Charlie Parker verdankt. Am Anfang steht meist ein tiefes Befremden über ein fast außerirdisches Tempo und die gleißende Kälte der Melodieführung, dann eine Faszination, schließlich erwacht unweigerlich der Ehrgeiz, das zu verstehen, nachzuspielen. Und dann die Trauer und das Erschrecken über ein so kurzes, so in Drogen und Depression gescheitertes Leben bei all der künstlerischen Perfektion und Virtuosität. Von dieser Spannung zwischen musikalischem Höchstniveau und einem Leben voller Abstürze erzählt Wolfram Knauer, der Leiter des renommierten Jazzinstituts in Darmstadt, in seinem Buch über den Autor der Improvisationssprache, die inzwischen der ganze Jazz spricht.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wolfgang Sandner mag dieses bescheidene Büchlein. Das liegt an der unprätenziösen Art, mit der der Musikwissenschaftler und ausgewiesene Jazz-Kenner Wolfram Knauer sich dem großen Charlie Parker nähert, nüchtern, nicht voyeuristisch und mit Sympathie für den Künstler und seine Schwächen. So wird Knauers Buch für den Rezensenten zu einer kleinen Kostbarkeit, die dem Leser nicht zuletzt erläutert, dass selbst ein Genie nur mit harter Arbeit ans Ziel kommt. Dass Knauer nicht nur dem Künstler erstaunlich nahe kommt, sondern auch den Wandel vom Swing zum Bebop bzw. vom Jazz zur Tanzmusik und vom Blues zum Free Jazz anschaulich nachzuzeichnen vermag, ist für Sandner ein weiteres Plus des Buches.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.05.2014Bebop durch alle Tonarten
Exzessives Leben und expressive Kunst: Wolfram Knauers vorzügliche Biographie des Jazzmusikers Charlie Parker
Charlie Parker war eine der schillerndsten Erscheinungen in der mehr als hundertjährigen Geschichte des Jazz. Seinen Einfluss, vor allem als stilbildender Improvisator, kann man kaum überschätzen. Der Pianist Lennie Tristano meinte, wenn Parker Plagiatsklagen angestrengt hätte, die Hälfte aller Jazzmusiker und wohl die meisten Saxophonisten mit einer Karriere nach 1940 wären vor Gericht gestellt worden.
Parkers musikalische Phantasie, seine stupende Spieltechnik auf dem Altsaxophon, die emotionale Kraft seiner Phrasierung, seine harmonisch-rhythmische Originalität, überhaupt sein visionäres Musikverständnis waren schlicht phänomenal. Er war der erste Jazzmusiker, der sich als Künstler, nicht als Entertainer verstand. Gewiss, ein Benny Goodman hatte etwa zur gleichen Zeit mit dem Geiger József Szigeti und Béla Bartók am Klavier dessen Trio "Kontraste" uraufgeführt und Mozarts Klarinettenkonzert eingespielt. Aber selbst so grandiose Auftritte wie mit seiner Bigband Anfang 1938 in der New Yorker Carnegie Hall hätte Goodman selbst nie und nimmer als Kunstereignis eingestuft.
Zugleich aber steht der Name Charlie Parker für viele soziale Probleme und menschliche Katastrophen, die mit dem Jazz, seiner Entstehung und seinem damaligen Umfeld assoziiert werden: Urbane Schmuddelecken mit ihren Rotlichtmilieus und Vergnügungsrevieren, Drogenexzesse und Beschaffungskriminalität, rassistisch motivierte Diskriminierung und kommerzielle Ausbeutung, vorwiegend von Afroamerikanern. Charlie Parker war ein musikalisches Genie und ein asozialer Junkie seit seinen Teenager-Tagen. Sein Privatleben bekam er nie in den Griff, und als er mit vierunddreißig Jahren völlig ausgebrannt starb, dachte der Arzt, der den Totenschein ausstellte, er habe einen Mann Mitte fünfzig vor sich.
Parkers exzessives Leben und seine expressive Kunst sind oft Gegenstand von Biographien und Filmen, von Romanen und Legenden geworden. Ihn zu porträtieren ist - wie bei vielen spektakulären Jazzmusikern - lohnend und schwierig zugleich. Man reiht sich ein in die Phalanx der vieles schon Wissenden, und man tastet sich zurück in die Welt einer primär oral tradierten Improvisationskunst, die sich im Obskuren vieler durchspielter Nächte verliert.
Wolfram Knauer, als Musikwissenschaftler, Direktor des Darmstädter Jazz-Instituts und einzig nichtamerikanischer "Louis Armstrong Professor of Jazz Studies" an der Columbia University in New York bestens ausgewiesen, ist mit seiner Veröffentlichung bescheiden geblieben. Seine im Vorwort als Büchlein bezeichnete Studie über Charlie Parker ist ein unspektakuläres und darum umso angenehmeres Buch: keine sensationellen Erkenntnisse, kein poppiges Porträt für eine junge Klientel, die man ködern möchte, kein sich mit Bedeutung aufplusterndes Medienereignis. Knauers Porträt kommt Charlie Parker näher als manches frühere, indem es sich von allen Autoreneitelkeiten frei hält, die menschlichen Tragödien nicht voyeuristisch ausschlachtet, eher nüchtern, aber mit Sympathie für den Künstler, ein Leben als Gratwanderung zwischen aberwitziger Kunst und banalem Alltag beschreibt.
So sind auch die neueren Einsichten von kluger Sachlichkeit geprägt: etwa wenn beschrieben wird, dass selbst ein Genie wie Charlie Parker durch harte Arbeit zu seiner Stellung im Jazz kam. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er täglich, oft bis zu fünfzehn Stunden, auf seinem Instrument geübt, um in allen Tonarten gleich firm zu sein und keine spieltechnischen Probleme mehr zu haben. Und er hatte anfangs, wie wohl viele Jazzmusiker bis heute, Musik von Platten transkribiert, um zu lernen, wie seine Vorgänger, der Saxophonist Lester Young etwa, improvisierten.
Dabei zeigen schon die ersten Tondokumente in der Band von Jay McShann 1940 Parker als einen Swing-Stilisten auf dem Sprung zur neuen Spielform des Bebop, den er mitgeprägt hat. Gerade der allmähliche, keineswegs revolutionäre Stilwandel vom Swing zum Bebop, der auch ein Bedeutungswandel des Jazz von der Tanzmusik zur Kunstmusik gewesen ist, wird von Wolfram Knauer anschaulich beschrieben. Es gelingt ihm, einem Künstler nahezukommen, dessen Leben nicht nur von der obsessiven Beschäftigung mit Musik bestimmt wurde, sondern ebenso sehr von Sucht, körperlichem Verfall und sozialem Abstieg. Dass dabei auch ein Bild der Jazzentwicklung entsteht, vom Blues in Kansas City bis zum New Yorker Free Jazz eines Ornette Coleman, des musikalischen Erben Charlie Parkers, ist kein geringes Verdienst dieses Buchs.
WOLFGANG SANDNER
Wolfram Knauer: "Charlie Parker".
Reclam, Stuttgart 2014. 203 S., Abb., br., 12,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Exzessives Leben und expressive Kunst: Wolfram Knauers vorzügliche Biographie des Jazzmusikers Charlie Parker
Charlie Parker war eine der schillerndsten Erscheinungen in der mehr als hundertjährigen Geschichte des Jazz. Seinen Einfluss, vor allem als stilbildender Improvisator, kann man kaum überschätzen. Der Pianist Lennie Tristano meinte, wenn Parker Plagiatsklagen angestrengt hätte, die Hälfte aller Jazzmusiker und wohl die meisten Saxophonisten mit einer Karriere nach 1940 wären vor Gericht gestellt worden.
Parkers musikalische Phantasie, seine stupende Spieltechnik auf dem Altsaxophon, die emotionale Kraft seiner Phrasierung, seine harmonisch-rhythmische Originalität, überhaupt sein visionäres Musikverständnis waren schlicht phänomenal. Er war der erste Jazzmusiker, der sich als Künstler, nicht als Entertainer verstand. Gewiss, ein Benny Goodman hatte etwa zur gleichen Zeit mit dem Geiger József Szigeti und Béla Bartók am Klavier dessen Trio "Kontraste" uraufgeführt und Mozarts Klarinettenkonzert eingespielt. Aber selbst so grandiose Auftritte wie mit seiner Bigband Anfang 1938 in der New Yorker Carnegie Hall hätte Goodman selbst nie und nimmer als Kunstereignis eingestuft.
Zugleich aber steht der Name Charlie Parker für viele soziale Probleme und menschliche Katastrophen, die mit dem Jazz, seiner Entstehung und seinem damaligen Umfeld assoziiert werden: Urbane Schmuddelecken mit ihren Rotlichtmilieus und Vergnügungsrevieren, Drogenexzesse und Beschaffungskriminalität, rassistisch motivierte Diskriminierung und kommerzielle Ausbeutung, vorwiegend von Afroamerikanern. Charlie Parker war ein musikalisches Genie und ein asozialer Junkie seit seinen Teenager-Tagen. Sein Privatleben bekam er nie in den Griff, und als er mit vierunddreißig Jahren völlig ausgebrannt starb, dachte der Arzt, der den Totenschein ausstellte, er habe einen Mann Mitte fünfzig vor sich.
Parkers exzessives Leben und seine expressive Kunst sind oft Gegenstand von Biographien und Filmen, von Romanen und Legenden geworden. Ihn zu porträtieren ist - wie bei vielen spektakulären Jazzmusikern - lohnend und schwierig zugleich. Man reiht sich ein in die Phalanx der vieles schon Wissenden, und man tastet sich zurück in die Welt einer primär oral tradierten Improvisationskunst, die sich im Obskuren vieler durchspielter Nächte verliert.
Wolfram Knauer, als Musikwissenschaftler, Direktor des Darmstädter Jazz-Instituts und einzig nichtamerikanischer "Louis Armstrong Professor of Jazz Studies" an der Columbia University in New York bestens ausgewiesen, ist mit seiner Veröffentlichung bescheiden geblieben. Seine im Vorwort als Büchlein bezeichnete Studie über Charlie Parker ist ein unspektakuläres und darum umso angenehmeres Buch: keine sensationellen Erkenntnisse, kein poppiges Porträt für eine junge Klientel, die man ködern möchte, kein sich mit Bedeutung aufplusterndes Medienereignis. Knauers Porträt kommt Charlie Parker näher als manches frühere, indem es sich von allen Autoreneitelkeiten frei hält, die menschlichen Tragödien nicht voyeuristisch ausschlachtet, eher nüchtern, aber mit Sympathie für den Künstler, ein Leben als Gratwanderung zwischen aberwitziger Kunst und banalem Alltag beschreibt.
So sind auch die neueren Einsichten von kluger Sachlichkeit geprägt: etwa wenn beschrieben wird, dass selbst ein Genie wie Charlie Parker durch harte Arbeit zu seiner Stellung im Jazz kam. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er täglich, oft bis zu fünfzehn Stunden, auf seinem Instrument geübt, um in allen Tonarten gleich firm zu sein und keine spieltechnischen Probleme mehr zu haben. Und er hatte anfangs, wie wohl viele Jazzmusiker bis heute, Musik von Platten transkribiert, um zu lernen, wie seine Vorgänger, der Saxophonist Lester Young etwa, improvisierten.
Dabei zeigen schon die ersten Tondokumente in der Band von Jay McShann 1940 Parker als einen Swing-Stilisten auf dem Sprung zur neuen Spielform des Bebop, den er mitgeprägt hat. Gerade der allmähliche, keineswegs revolutionäre Stilwandel vom Swing zum Bebop, der auch ein Bedeutungswandel des Jazz von der Tanzmusik zur Kunstmusik gewesen ist, wird von Wolfram Knauer anschaulich beschrieben. Es gelingt ihm, einem Künstler nahezukommen, dessen Leben nicht nur von der obsessiven Beschäftigung mit Musik bestimmt wurde, sondern ebenso sehr von Sucht, körperlichem Verfall und sozialem Abstieg. Dass dabei auch ein Bild der Jazzentwicklung entsteht, vom Blues in Kansas City bis zum New Yorker Free Jazz eines Ornette Coleman, des musikalischen Erben Charlie Parkers, ist kein geringes Verdienst dieses Buchs.
WOLFGANG SANDNER
Wolfram Knauer: "Charlie Parker".
Reclam, Stuttgart 2014. 203 S., Abb., br., 12,95 [Euro].
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