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Der Gedanke an die Grausamkeit des Menschen im Umgang mit Tieren bedrängt die Romanautorin Elizabeth Costello mit zunehmendem Alter immer mehr: Die Menschen machen sich in ihren Augen eines Verbrechens von unvorstellbarem Ausmaß schuldig, das sie täglich in den Zuchtbetrieben und Schlachthäusern, in den Versuchsstationen und Forschungslabors rund um die Welt geschehen lassen. Costellos Sohn, Professor für Physik, an dessen Universität Elizabeth eine Vorlesung über dieses Thema hält, sieht sich in der schwierigen Situation, zu weniger fundamentalen Positionen in der Debatte um die Rechte der…mehr

Produktbeschreibung
Der Gedanke an die Grausamkeit des Menschen im Umgang mit Tieren bedrängt die Romanautorin Elizabeth Costello mit zunehmendem Alter immer mehr: Die Menschen machen sich in ihren Augen eines Verbrechens von unvorstellbarem Ausmaß schuldig, das sie täglich in den Zuchtbetrieben und Schlachthäusern, in den Versuchsstationen und Forschungslabors rund um die Welt geschehen lassen. Costellos Sohn, Professor für Physik, an dessen Universität Elizabeth eine Vorlesung über dieses Thema hält, sieht sich in der schwierigen Situation, zu weniger fundamentalen Positionen in der Debatte um die Rechte der Tiere vermitteln zu sollen. Haben Tiere Rechte? Haben Menschen Tieren gegenüber Pflichten, unabhängig davon, ob sie Rechte haben? Welche Art Seele haben Tiere? Und welche die Menschen? Elizabeth Costello provoziert und verstört mit ihren elementaren Fragen die Intellektuellen. J. M. Coetzee nutzt die Form der literarischen Erzählung, um nachzudenken über eine der wesentlichsten Menschheitsfrage
Autorenporträt
J. M. Coetzee, geb. 1940 in Kapstadt, lehrte von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt und gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize. 22003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien.

Reinhild Böhnke, geb. 1944 in Bautzen, ist als literarische Übersetzerin in Leipzig tätig. Sie ist Mitbegründerin des sächsischen Übersetzervereins. Seit 1988 überträgt sie die Werke J. M. Coetzees ins Deutsche, weiter hat sie u.a. Werke von Margaret Atwood, Rebecca Miller, Nuruddin Farah, D. H. Lawrence und Mark Twain ins Deutsche übertragen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.12.2000

Lesetip zum Wochenende
Schlächter unter uns
J. M. Coetzees „Leben der Tiere”
„Heute vormittag hat man mir Waltham gezeigt. Es scheint eine recht angenehme Stadt zu sein. Ich habe nichts Schreckliches gesehen, keine Versuchslabors der Pharmaindustrie, keine Großmästereien, keine Schlachthöfe. Und doch bin ich sicher, dass es sie gibt. Sie machen nur keine Reklame für sich. Sie sind überall in der Nähe, während ich rede, nur wissen wir in gewissem Sinne nichts von ihnen. ”
Es ist die Literaturwissenschaftlerin Elizabeth Costello, die Coetzee hier sprechen lässt, an einer amerikanischen Universität – die Einladung verdankt sie ihrem Roman über die Molly Bloom aus Joyces „Ulysses”. Erfundenes mischt sich mit Wirklichem: Heute, erklärt Coetzees distanzierter Erzähler, zähle „Das Haus in der Eccles Street” zusammen mit „Das goldene Notizbuch” und „Nachdenken über Christa T. ” zu den bahnbrechenden Werken der feministischen Literatur. Elizabeth Costello nimmt sich die Freiheit, in ihrer Vorlesung nicht über Literatur, sondern über Tiere zu sprechen. Und eben nicht nur über Tiere: „Ich will es deutlich sagen. Rings um uns herrscht ein System von Entwürdigung, der Grausamkeit und des Tötens, das sich mit allem messen kann, wozu das Dritte Reich fähig war, ja, es sogar noch in den Schatten stellt, weil unser System kein Ende kennt, sich selbst regeneriert, unaufhörlich Kaninchen, Ratten, Geflügel, Vieh für das Messer des Schlächters auf die Welt bringt. ”
Wie eines der preiswert bibliophilen „Geschenkbücher” hat der Verlag den neuen Coetzee aufgemacht. Wer dieses Geschenk annimmt, dem vergehen Hören und Sehen so schnell wie dem Paar John und Norma. Norma, Philosophin mit dem Spezialgebiet Erkenntnistheorie, nimmt die Feindseligkeiten, die sie mit ihrer Schwiegermutter „verbinden”, wieder auf, als sich die alte Dame für ein paar peinliche Tage einquartiert.
„Die Philosophen und die Tiere” (Thomas von Aquin, Platon, Descartes) und „Die Dichter und die Tiere” (Kafka, Rilke, Swift), so heißen die beiden Teile von Coetzees Prosastück: „Wenn ich Sie nicht überzeuge, dann deshalb, weil es meinen hier geäußerten Worten an Kraft fehlt, Ihnen die Ganzheit, die nicht abstrakte Natur dieses Tierseins nahe zu bringen. Deshalb lege ich Ihnen ans Herz, die Dichter zu lesen, welche das lebendige, spannungsgeladene Sein in Sprache verwandeln, und wenn die Dichter Sie nicht bewegen, dann fordere ich Sie auf, gehen Sie Seite an Seite mit dem Tier, das den Laufgang hinunter- und seinem Henker entgegengetrieben wird. ”
Coetzee hat weder einen Essay geschrieben, noch hat er Elizabeths Rede und die von ihr ausgelösten Gegenreden episch integriert – in der deutschen Literatur gibt es ein Modell für einen solchen komplexen Hypertext aus Erzählung, Dialog und Essay: Kleists „Über das Marionettentheater”. Zu einer „Axt für das gefrorene Meer in uns” (Kafka) wird „Das Leben der Tiere” dadurch, dass der erzählerische Rahmen die Unerhörtheit vergrößert, mit der da ein Engel des Eigensinns in die Familie und in die akademische Gesellschaft fährt – und beide nicht erlöst, sondern mit ihrer „menschlichen” Verdrängungsbereitschaft allein lässt. Ohne den narrativen Rahmen wäre es nicht möglich, dass sich der Leser der Erleichterung anschließt, mit der John seine Mutter wieder zum Flughafen bringt. Und genau weiß, daß er sich solchen Trost selber nicht abnimmt: „In wenigen Stunden ist sie fort, dann können wir unser normales Leben wieder aufnehmen. ”
HERMANN WALLMANN

J. M. COETZEE: Das Leben der Tiere. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2000.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2000

Du sollst die Schlachthöfe schließen
Vom Untergang der Arche Noah: Der südafrikanische Schriftsteller J. M. Coetzee hat eine bewegende Fabel über das elfte Gebot geschrieben

Was liegt da auf dem Teller? Das Appleton College, irgendwo in einem Winkel der Vereinigten Staaten, hat den Tisch zu Ehren einer berühmten Schriftstellerin gedeckt. Zehn Professoren setzen sich dazu. Ein weiterer hat sich dem Abendmahl in stillem Protest entzogen. Zuerst serviert man den elfen eine Kürbissuppe. Dann haben sie die Wahl zwischen einer Rotbarbe mit Babykartoffeln oder Fettuccine mit gebackenen Auberginen. Nur drei wählen den Fisch, "der ein Rückgrat hat, aber keine Luft atmet und seine Jungen nicht säugt". Ungemütlich ist es bei diesem Abendessen, und jeder der Teilnehmer ist froh, als der Nachtisch abgeräumt wird. Denn die Schriftstellerin hat ihnen den Appetit und die Laune verdorben - und das nicht nur für diesen Tag.

Knapp hundert Seiten hat "Das Leben der Tiere", die Erzählung des südafrikanischen Schriftstellers J.M. Coetzee. Knapp hundert Seiten für einen Bericht, der eine umgekehrte Fabel ist: Statt sprechender Tiere treten Menschen auf, die von Tieren sprechen, und ein jeder dieser Menschen ist so in seine Botschaft eingeschlossen wie ein Fuchs in seine List und ein Rabe in seine Eitelkeit. Eine Fabel handelt von den elementaren Dingen des Lebens und mündet in eine Moral. Auch die umgekehrte Fabel hat eine Botschaft. Sie besteht darin, daß keiner mit seiner Moral leben kann, der Gast ebensowenig wie die zehn Professoren. Denn in dieser Geschichte geht es um das Leben der Tiere. Und dieses Leben hat geendet, wenn die Tiere auf den Teller kommen. Es ist eine böse Fabel, die J.M. Coetzee erzählt.

Elizabeth Costello, die Hauptfigur des Buches, soll eine Schriftstellerin aus Australien sein, die in den späten sechziger Jahren mit einem einzigen Buch berühmt geworden ist: Von Molly Bloom, der Frau des Anzeigenakquisiteurs und Nierenkäufers Leopold Bloom im "Ulysses" von James Joyce, erzählt dieser erfundene Roman, der als ein bahnbrechendes Werk der feministischen Literatur gelten soll. Um dieses Buches willen - eines Buches, wie geschaffen, um die Theoretiker in den amerikanisierten Geisteswissenschaften zu beschäftigen - ist Elizabeth Costello ans Appleton College eingeladen worden. Dort hat man nicht damit gerechnet, daß sie sich mittlerweile einer neuen Sondergruppe zugewandt hat, den Tieren. Und das mit aller Konsequenz: "Wenn die Dichter Sie nicht bewegen, gehen Sie Seite an Seite mit einem Tier, das den Laufgang hinunter- und seinem Henker entgegengetrieben wird." Nichts erfährt der Leser darüber, warum sich Elizabeth Costello zur Anwältin der Tiere gemacht hat: Sie hat ihnen ins angsterfüllte Auge gesehen, ihr Leben muß ein anderes geworden sein. Im Zweifelsfall kann zwischen Regenwürmern und Menschenaffen nicht unterschieden werden.

Das Tier hat innerhalb weniger Jahre eine erstaunliche Karriere zum Mittelpunkt unserer Kultur durchlaufen. Dafür gibt es einen Grund: Der Mensch weiß, was war, und er kann sich vorstellen, was sein wird. Vor allem aber - erklärt Burkhard Müller in "Das Glück der Tiere", seiner Kritik des Darwinismus (siehe F.A.Z. vom 14. November) - "sehen wir, was wir niemals werden haben können und, schlimmer noch, wie zufällig das ist, was wir statt dessen haben". Den Tieren fehlt der spekulative Sinn, und je mehr uns bewußt wird, wie wenig Fortschritt es gibt und wie sehr das, was wir dafür halten, zerstreuten Bewegungen in unruhigem Gelände gleicht, desto mehr gewinnt das Tier an Interesse: Denn es ist immer schon alles gewesen, was es sein kann. Vor allem weiß es nicht, außer vielleicht in der Sekunde der größten Not, daß es sterben wird. Schön sind die Tiere, und auf diese Schönheit beruft sich Elizabeth Costello, als sie den Professoren des Appelton College eine Einladung verdirbt.

Eine alte Frau wird vom Flughafen abgeholt. Elizabeth Costello hat Verwandte in der Universitätsstadt: Ihr Sohn lehrt dort Physik. Die Schwiegertochter Norma, Philosophin mit dem Spezialgebiet "Erkenntnistheorie", kümmert sich, weil ohne Stelle geblieben, um die Kinder. Solange die Großmutter im Haus ist, müssen diese ihr Huhn im Nebenzimmer verzehren. Unwillkommen ist dieser Gast, der in der Schwiegertochter seinen Gegner hat, und mühsam sind die Versuche des Sohns, die in jeder Sekunde dieses Besuches lauernden Peinlichkeiten, die kaum verborgenen Gegensätze, den offenen Konflikt zu vermeiden. Aus der Perspektive dieses vielfach gequälten Schlichters lernt der Leser die Geschichte kennen, und mit ihm ist er erleichtert, als er die verzweifelte Mutter auf der Fahrt zurück zum Flughafen umarmt: "Der Geruch von Hautcreme und altem Fleisch steigt ihm in die Nase. ,Na, na', flüstert er ihr ins Ohr. ,Na, na. Bald ist es vorbei.'" Das ist zweideutig: Hier sprechen die Angst und die Einsicht, daß dieses Lebewesen bald sterben wird.

Elizabeth Costello ist keine gute Rednerin. Kaum einmal blickt sie aus dem Manuskript auf, das sie mit tonloser Stimme vorträgt: Die Formel "Cogito ergo sum", erklärt sie ihrem Publikum, sei ihr nie geheuer gewesen. "Sie impliziert, daß ein Lebewesen, das nicht das tut, was wir ,denken' nennen, irgendwie zweitrangig ist. Dem Denken, dem Erkenntnisvermögen, stelle ich gegenüber: die Ganzheit, die Körperlichkeit, das Seinsgefühl - gegen die Vorstellung vom Menschen als gespenstischer Denkmaschine, die Gedanken produziert, setze ich das Gefühl, ein Körper zu sein - ein äußerst erregendes Gefühl -, ein Körper mit Gliedern, die eine räumliche Ausdehnung haben, und das Gefühl, für die Welt lebendig zu sein." Gewiß spricht einiges dafür, daß Tiere Glück empfinden können: im "Gefühl, ein Körper zu sein". Es muß ein Behagen geben, gehungert und gegessen zu haben, gefroren zu haben und gewärmt zu werden - und vor allem muß es eine Lust sein, sich ohne Angst in die Luft zu schwingen, die Pfoten ins Gras zu setzen oder einem Ball hinterherlaufen zu können. Tastend spricht Elizabeth Costello von diesen Dingen, aber durch ihre Unbeholfenheit steigert sie die Ahnung von Schönheit.

Die Schriftstellerin weiß, woher der Widerstand kommt: vielleicht aus dem Unbehagen, wenn schon nicht getötet, so doch das Töten gebilligt zu haben. Ganz sicher aus dem Unwillen, mit einem nur scheinbar längst gelösten moralischen Problem konfrontiert zu werden. Den Narren auf eigene Hand erkennt sie an sich selber, und deswegen vergleicht sie sich mit dem Menschenaffen "Rotpeter", in dessen Haut Franz Kafka in der Erzählung "Ein Bericht für eine Akademie" geschlüpft ist. "Freiheit wollte ich nicht", erzählt der Affe, wenn er über seine Zeit im Transportkäfig spricht, "nur einen Ausweg, rechts, links, wohin immer; ich stellte keine anderen Forderungen; sollte der Ausweg auch eine Täuschung sein; die Forderung war klein, die Täuschung würde nicht größer sein. Weiterkommen, weiterkommen!" Elizabeth Costello hat über das Leben der Tiere nachgedacht: "Zu leben heißt eine lebendige Seele zu sein." Kein Fleisch zu essen, Vegetarierin zu sein, zum massenhaften Sterben der Tiere nicht beizutragen - diese Entscheidung ist für sie nicht nur eine Frage der Moral, sondern eine des eigenen Heils. Der Vegetarismus ist ihr "Ausweg". Und doch trägt sie Schuhe aus Leder.

Im Hagenbeckschen Dampfer nach Deutschland unterwegs, sitzt "Rotpeter" in einem halb eisernen, halb hölzernen Käfig, der zu niedrig ist, um ihm das Aufstehen zu erlauben, und zu schmal, als daß er sich setzen könnte. Er hockt mit geknickten, zitternden Knien in seiner Kiste, und die Gitterstäbe schneiden ihm ins Fleisch. "Ich hatte doch so viele Auswege bisher gehabt und nun keinen mehr. Ich war festgerannt. Hätte man mich angenagelt, meine Freizügigkeit wäre dadurch nicht kleiner geworden." Schlimm ist der Tod, der ein Leben auslöscht und gegen den auch ein Tier sich wehrt mit allen Kräften. Doch alles Leben ist endlich, und nicht der Tod ist das Unerträgliche, sondern das, was dem Lebenden widerfährt: Die Freiheit zur Bewegung verloren zu haben.

Franz Kafkas berufene Deuter sprechen gerne davon, "Rotpeter", der gebildete Affe, sei eine verzweifelte Allegorie auf die Assimilation der Juden in den christlichen Gesellschaften Europas. Elizabeth Costello läßt, zur Bestürzung ihrer Zuhörer, aus dem symbolischen Juden wieder das Tier hervorgehen - das Tier, das in eigener Sache das Wort ergreift. "Der Blick, mit dem uns Kafka von allen erhaltenen Fotos anstarrt, ist der starre Blick reiner Verwunderung: Verwunderung, Erstaunen, Angst. Kafka ist unter allen Menschen derjenige, der sich seines Menschseins am wenigsten sicher ist." Nicht davon, daß die Tiere sind wie wir, spricht diese Schriftstellerin, sondern davon, daß wir sind wie sie - daß das größte Verbrechen, das Menschen der eigenen Spezies zugefügt haben, jeden Tag an Hühnern, Schweinen und Rindern wiederholt wird.

Mit dieser Provokation beginnt die Fabel vom "Leben der Tiere": "Rings um uns herrscht ein System der Entwürdigung, der Grausamkeit und des Tötens", erklärt Elizabeth Costello in ihrer Seelennot, "das sich mit allem messen kann, wozu das Dritte Reich fähig war, ja es noch in den Schatten stellt, weil unser System kein Ende kennt, sich selbst regeniert, unaufhörlich Kaninchen, Ratten, Geflügel, Vieh für das Messer des Schlächters auf die Welt bringt." Könnten die Tiere dem Menschen je den Prozeß machen - das Urteil fiele vernichtend aus. Es ist der Vergleich der industriellen Schlachtung von Tieren mit dem Holocaust, der Abraham Stern, den elften Professor, empört: "Wenn man die Juden wie Vieh behandelte, folgt daraus nicht, daß Vieh wie Juden behandelt wird. Diese Umkehrung beleidigt das Andenken der Toten. Sie beutet auch die Greuel der Lager auf billige Weise aus." Deswegen bleibt Abraham Stern dem Abendmahl fern, deswegen ist die Abwesenheit des zwölften Tischgefährten so brisant: Ein Tabu wird gebrochen, um ein neues zu schaffen.

Die Fabel vom "Leben der Tiere" enthält eine kleine Literaturgeschichte: Jonathan Swift wird herbeirufen, um von Gullivers Reisen zu Tieren und Göttern zu erzählen. Rainer Maria Rilkes Gedicht vom "Panther" wird ebenso zitiert wie Ted Hughes' Verse über den "Jaguar". Die Fabel ist mit Fußnoten versehen. Vor allem: Es werden Reden gehalten in dieser kurzen Erzählung, viele Reden. Auch das hat seinen Grund. Die Dramaturgie dieser Fabel, ihre suggestive Spannung entsteht nicht durch die Vorahnung einer Moral. Sie zehrt vom Gegensatz, und dieses eine Mal verbirgt sich darin keine der üblichen Finten der ästhetischen Moderne. Auch hat sich der Südafrikaner J.M. Coetzee dem unvermittelten Gegenüber erst langsam genähert. In seinem letzten Roman, "Schande" (1999), beschreibt er zwar den langen Weg eines Professors zu den schwarzen Bauern in der Provinz Ost-Kap - der Mann geht buchstäblich vor die Hunde. Aber am Ende, jenseits der Schule der Demut, liegt sogar in sterbenden Hunden ein Trost.

Mit dem Gegenüber des Unvereinbaren ist es dem Autor Ernst, und dieser Ernst ergreift auch den Leser: J.M. Coetzee erzählt, in den Worten einer Fabel, die Geschichte einer Begegnung, in der die Meinungen nicht miteinander leben können. Tatsächlich können seine Figuren nicht einmal zusammen essen. Dies aber ist nicht nur eine schlechte Nachricht. Die Geschichte vom "Leben der Tiere" ist eine Huldigung an das Individuum, an das einzelne Tier und an den einzelnen Menschen, in seiner Unberechenbarkeit, in seinem Eigensinn und in seinem Recht auf das eigene Leben. Um jeden einzelnen ist es unendlich schade - das ist die Moral dieser Fabel, und deswegen ist dieses dünne Bändchen ein so gewichtiges Buch.

J. M. Coetzee: "Das Leben der Tiere". Aus dem Englischen übersetzt von Reinhard Kaiser. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 94 S., geb., 20,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Die Stimme, die durch diesen "komplexen Hypertext aus Erzählung, Dialog und Essay"