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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ludwig Baumann desertierte im Zweiten Weltkrieg. Seine Erinnerungen sind schonungslos
Ludwig Baumann, Opfer der NS-Militärjustiz, hat nunmehr 92-jährig unter Mitarbeit des Journalisten Norbert Joa ein „Plädoyer des letzten Wehrmachtsdeserteurs“ verfasst. Die lesenswerte Publikation ist gleichsam Erzählung und Lebensbeichte: das Schlusswort nach Jahrzehnte andauerndem Kampf um die gesellschaftliche und rechtliche Rehabilitation der Männer, die von Kriegsgerichten verurteilt wurden.
Ludwig Baumann, der aus bürgerlichen Verhältnissen stammte, verlor mit 15 Jahren seine Mutter. Der unvermittelte Tod warf den jungen Menschen aus der Bahn und machte ihn zu einem Unangepassten, der es schlicht nicht vermochte, sich im NS-Staat ein- oder gar unterzuordnen. Der Wehrdienst verschlug ihn nach Frankreich, wo er seinen späteren Fluchtgenossen Kurt Oldenburg kennenlernte. Im Winter 1941 erkannte er, dass der Krieg gegen die Sowjetunion ohne Schonung der gefangenen Rotarmisten geführt werde. Es war die letzte Erfahrung, derer er bedurfte, um sich endgültig vom NS-Staat abzuwenden.
Er und sein Freund Oldenburg, die beide keinen Anteil an einem ungerechten Krieg haben wollten, versuchten die Flucht über die Grenze in das unbesetzte Frankreich – und scheiterten. In einem kurzen Prozess folgte das Todesurteil für die zu „Volksverrätern“ Herabgewürdigten. Dann schlossen sich Monate in der Todeszelle an. Eine Zeit, die den Häftling zerbrechen ließ. Eine Begnadigung erfolgte zwar nach einem Gnadengesuch, führte Baumann aber durch Strafeinrichtungen bis in eine Bewährungstruppe, in der Strafsoldaten regelrecht verheizt wurden.
Die allgegenwärtige Militärjustiz umfasste einen Apparat von Gerichten sowie vorgeschalteten Ermittlungsorganen und nachgeschalteten Strafvollzugseinrichtungen. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg hielt ein Militärjurist fest, dass die Todesstrafe das „Rückgrat des Strafsystems“ im Kriege bilden müsse. Dieses Kalkül bedeutete: 30 000 bis 50 000 verhängte Todesurteile während des Zweiten Weltkriegs. Wer diesem Ende durch ein anders lautendes Urteil oder durch Begnadigung entging, musste einen Weg durch abgestufte Vollzugsformen gehen, in denen ein Menschenleben nichts galt. In Gefängnissen, Zuchthäusern, Straflagern, KZs und Strafbataillonen kam eine nicht bekannte Zahl von Verurteilten ums Leben.
Die seit den 1980er-Jahren erfolgte Aufarbeitung der Tätigkeit von Wehrmachtjuristen hat die von vormaligen NS-Richtern verfasste Geschichtsschreibung zwar mittlerweile richtiggestellt. Insbesondere Historiker wie Wolfram Wette und Manfred Messerschmidt haben durch zahlreiche Arbeiten dazu beigetragen, dass das Thema auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Allerdings ist die Perspektive der Opfer nur sehr bedingt in sachlicher Wissenschaftsprosa darstellbar. Ludwig Baumann ist es nun gelungen, deren Schicksal nuanciert verständlich zu machen.
Sein Buch springt zwischen dem Kriegs- und Nachkriegserleben des Verfassers hin und her: Einerseits erfährt der Leser viel über Stationen in den 1930er- und 1940er-Jahren, andererseits geht es um das Leben in der Bundesrepublik, das durchweg von dem Leiden im NS-Strafvollzug geprägt ist. Der 8. Mai 1945 war für den jungen Baumann nicht die Stunde null, sondern der Beginn eines Lebens im Abseits. Die Konventionen der NS-Zeit hatten den Untergang des „Dritten Reiches“ überlebt: „Ehrverlust“ und „Wehrunwürdigkeit“ waren nicht nur Begriffe des Urteilstenors, sie waren Stigmata, die den Verurteilten anhingen; als „Zuchthäusler“ waren sie regelrecht abgestempelt. Diese Diskreditierungen hingen an Baumann als gesellschaftliches Etikett, und ebenso blieben die Zerrüttungen von Psyche und Seele.
Der Alkohol wurde ein langer Begleiter – und ließ auch das Familienleben kaputtgehen. Erst nach weiteren Schicksalsschlägen fand Baumann langsam in eine geordnete Existenz. In der Friedensbewegung und später in dem Kampf um Aufhebung der Kriegsgerichtsurteile fanden sich Ideen, die dem Leben des Gestrandeten wieder Sinn gaben. Die Täter von einst wiederum, die nach dem Krieg ihre juristischen Karrieren fortsetzten, suchten noch in den 1990er-Jahren ihre Position zu rechtfertigen. Baumann, der sich selbst nie als Widerstandskämpfer sah, war eines der letzten lebenden Opfer, die noch die Genugtuung erfahren durften, dass sich das Verständnis der Bevölkerung wandelte – Ablehnung schlug um in Sympathie.
Das Plädoyer des letzten Überlebenden der NS-Militärjustiz ist eine Schrift, die überfällig war. Sie holt ein gesellschaftliches Versäumnis nach, das in die Anfangstage der Bundesrepublik gehört hätte. Die Tiefgründigkeit dieses schonungslosen Selbstbildes lässt nicht nur die Mahnungen der Vergangenheit leben: Als Erinnerung an Gewalt, Rechtlosigkeit und Willkür ist es zeitlos.
PETER KALMBACH
Ludwig Baumann : Niemals gegen das Gewissen, Plädoyer des letzten Wehrmachtsdeserteurs. Herder, 2014. 126 Seiten, 12,99 Euro.
Peter Kalmbach ist Lehrbeauftragter für Rechtsgeschichte an der Universität Bremen.
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