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Trackliste
CD
1The Lover Of Beirut00:07:44
2Dance With Waves00:03:58
3Stopover At Djibouti00:06:34
4The Astounding Eyes Of Rita00:08:42
5Al Birwa00:04:52
6Galilée Mon Amour00:07:17
7Waking State00:07:48
8For No Apparent Reason00:06:35
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2010

Wie mit Schnee gefüllte Pralinen

Wie und mit welchen Mitteln hat das kleine Münchner Label ECM die Jazzgeschichte beeinflussen können? Ein paar Antworten und ein Blick auf sechs sehr verschiedene neue Aufnahmen.

Imitation kam zuerst, dann kam die Emanzipation. Aber wann sich die europäischen Jazzmusiker stilistisch von ihren amerikanischen Übervätern gelöst haben, das bleibt im historischen Dunkel. Vielleicht war es Mitte der sechziger Jahre, als der Free Jazz das Kind mit dem Bade ausschüttete und etwas entstand, was nichts mehr mit traditionellem Jazz zu tun hatte, auch wenn es sich noch Jazz nannte. So verschwanden mit den Jazzkriterien auch die Jazzimitationen.

Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Ekkehard Jost hat die andere Hälfte formuliert: Amerika besaß die Musiker und Europa die Ohren, um sie zu hören. Auch die Stars von New York bis Los Angeles waren überrascht, als sie nach 1947 bei ihren "Jazz-at-the-Philharmonic"-Tourneen feststellten, dass sie in Europa nicht in gewöhnlichen Hallen auftraten, sondern in Kathedralen der Kunst, in denen man ihnen andächtig zuhörte wie Priestern bei ihren Sonntagspredigten.

Was aber sind Jazzmusiker ohne Produktionsmittel in ihren Händen? Darauf sind zuerst die Free-Jazzer gekommen, die ihre eigenen Labels gründeten, um mit ihrer Musik nicht abhängig vom kommerziellen Geschmack größerer Firmen zu sein. Es war auch die Zeit, in der ECM entstand, das bis heute zu den herausragenden Plattenlabels weltweit gehört. Aber Manfred Eicher, der die Firma 1969 in München mit der erstaunlichen Summe von sechzehntausend geliehenen Mark gründete, war nicht nur an ökonomischer Unabhängigkeit interessiert. Sein Ziel war es schlicht, Kunst zu verbreiten. Als ausgebildeter Musiker besaß er dazu den nötigen Vertrauensbonus bei den Künstlern, die ihn als ihresgleichen akzeptieren konnten. Das eigentliche Erfolgsgeheimnis von ECM aber, das in vierzig Jahren mehr als tausend Aufnahmen mit Jazz (und seit den Achtzigern auch mit klassischer und zeitgenössischer Musik) herausgebracht hat, bestand im Widerstand Eichers gegen alle Praktiken, die in dieser als Haifischbranche charakterisierten Szene herrschten.

Viele Beobachter haben sich seinerzeit gefragt, warum Keith Jarrett, der aufgehende Stern am Jazzhimmel, seine Einspielungen nicht renommierten amerikanischen Jazzlabels wie Blue Note, Prestige oder Columbia anvertraute, sondern einer kleinen deutschen Firma, die gerade einmal ein Dutzend Veröffentlichungen vorweisen konnte. Es war der hohe Qualitätsanspruch, der Jarrett überzeugte. Seit 1971 sind fast alle seine Aufnahmen - mittlerweile, von den Bach-Einspielungen zu den Soloimprovisationen, mehr als siebzig - bei ECM herausgekommen. Es lag aber auch an der mittlerweile legendären Handschlagspolitik Eichers, der stets hielt, was er seinen Künstlern versprach. So sehr sind mittlerweile ECM und Keith Jarrett miteinander verbunden, dass man sich schon die Frage stellen kann, ob Eicher Jarrett groß gemacht hat oder umgekehrt. Über John Coltrane erschien ein Buch mit dem Titel "The House That Trane Built", in dem die komplexen Beziehungen des bedeutendsten Saxophonisten der letzten fünfzig Jahre zu seinem Plattenlabel Impulse dargestellt werden. Dieser Titel ließe sich auf Jarrett und ECM übertragen: "Das Haus, das Keith Jarrett erschuf" - wobei eben offen bliebe, wer da wen erschaffen hat.

Man übertreibt sicher nicht, wenn man behauptet, dass ECM in den vier zurückliegenden Jahrzehnten Jazzgeschichte geschrieben hat - nicht nur in Europa, auch in Amerika. Keith Jarrett ist nur die Spitze dieser 1000-Platten-Pyramide. Wer als Jazzmusiker nicht nur Wert legt auf eine Veröffentlichung, sondern auf eine bis zur ästhetischen Covergestaltung mustergültige Edition, der fühlt sich seither bei ECM gut aufgehoben - im Grunde alle Musiker also aus dem Künstlerpool der Miles-Davis-Bands, so unterschiedliche Gitarristen wie Pat Metheny, Ralph Towner, John Abercrombie, Egberto Gismonti und Bill Frisell, die Trompeter Kenny Wheeler und Tomasz Stanko, der wunderbare Baritonsaxophonist John Surman und das ruppige Art Ensemble of Chicago, nicht zu vergessen die mittlerweile unüberhörbare Phalanx skandinavischer Musiker um Jan Garbarek, Terje Rypdal oder Trygve Seim.

Manfred Eicher hat mit seinem Label gezeigt, dass Schallplatten kein kulturelles Fastfood darstellen, dass vielmehr eine CD einem Buch, ein Jazzimprovisator einem Autor und ein Produzent einem Verleger gleichzusetzen sind. Sein Ruf hat sich mittlerweile nicht nur bei den Musikern weltweit herumgesprochen. Die Auszeichnungen, einschließlich eines Ehrendoktors der Universität Brighton, kann er kaum mehr zählen. Ende vorigen Jahres hat die "New York Times" ECM drei ganze Seiten ihres Kulturteils gewidmet. Und im nächsten Monat wird "Downbeat", das Zentralorgan der internationalen Jazzszene, den seit 1981 unregelmäßig verliehenen "Lifetime Achievement Award" Manfred Eicher für "sein Lebenswerk" zusprechen. Als bisher einziger Deutscher befindet er sich da in bester Gesellschaft mit Lawrence Berk, dem Gründer der Berklee School of Music in Boston, mit den Produzenten John Hammond und Rudy Van Gelder, dem Komponisten Gunther Schuller oder Claude Nobs, dem Begründer des Montreux Jazz Festivals.

Und wie vital Eichers Label nach wie vor ist, das lässt sich an einigen jüngeren Aufnahmen ablesen. Schon in ihrer stilistischen Vielfalt widerlegen sie das bisweilen artikulierte Urteil, es gebe eine bestimmende, um nicht zu sagen: doktrinäre ECM-Ästhetik. Ohnehin scheint es so, als verwechselten manche Kritiker die Sorgfalt der Aufnahmetechnik, die penible klangliche Wiedergabe und die Durchhörbarkeit des strukturellen Formablaufs, also die handwerkliche Solidität der Produktion, mit ästhetischer Beschaffenheit und künstlerischer Konzeption der Werke. Unter diesem Aspekt kann man vor allem die Aufnahmen des Pianisten Stefano Bollani im eigenen Trio und mit dem faszinierenden Quintett des Trompeters Enrico Rava, sodann die Einspielung des tunesischen Oud-Spielers Anouar Brahem sowie die neue Aufnahme des Baritonsaxophonisten John Surman nebeneinanderstellen.

Bollani ist ein mit Jarrett vergleichbarer, vor skurrilen Ideen nur so sprudelnder Berserker am Klavier. Die Trio-Aufnahme zeigt ihn allerdings von einer ganz anderen Seite: als einen introvertiert-klangsinnlichen Pianisten, der mit seinem fast ausschließlich melodisch spielenden Bassisten Jesper Bodilsen inspirierte Zwiesprache hält. Überzeugend dabei vor allem die "Improvisation 13 en la mineur" von Francis Poulenc mit linear-klanglichem Wechselspiel zwischen Bass, Klavier und Schlagzeug. Im Quintett des Trompeters Enrico Rava auf "New York Days" kommt es bisweilen zu improvisatorischen Kulminationspunkten von schier kettensprengender Spannkraft, wobei auch hier wiederum die Fähigkeiten frappieren, ad hoc aufeinander zu reagieren. Und Stücke wie "Luna Urbana" wären, dank der hintergründigen Leichtigkeit dieses Quintetts, das Mark Turner, Larry Grenadier und Paul Motian komplettieren, eine ideale Musik für sommerliche Schlafwandler.

Gegen die Finesse und kontrollierte Sinnlichkeit von "New York Days", dem aufbrausend und zugleich harmonisch Versteck spielenden Enrico Rava, wirkt das Quintett des polnischen Trompeters Tomasz Stanko mit seinem offenen, klaren Ton in den hohen Registern geradezu diesseitig direkt. Man täusche sich freilich nicht. Auch im Pathos der melodischen Parallelführungen von Bass, Gitarre, Klavier und Trompete steckt viel atmosphärischer Hintersinn. Stücke wie "So Nice" erinnern in ihrem bittersüßen Klanggestus an das Wort Claude Debussys zu den Klavierwerken von Edvard Grieg: Es sind "mit Schnee gefüllte Pralinen". Treibende Vitalität steckt dagegen in der neuen Aufnahme des britischen Baritonsaxophonisten John Surman, der sich hier auch als grandioser Balladenspieler zeigt. Manche Stücke rasen vorüber wie ein Hochgeschwindigkeitszug, vorangetrieben von Jack DeJohnette am Schlagzeug und dem atemraubenden Bassisten Drew Gress, die selbst den unterkühlten John Abercrombie mitzureißen vermögen. Stücke wie "Hilltop Dancer" oder "Kickback" wirken wie Apotheosen des Swing. Wer da nicht mitwippt, sollte über seine fehlenden Reflexe nachdenken.

Eine andere Klangfacette, überhaupt eine ganz andere musikalische Kultur bietet dagegen der Tunesier Anouar Brahem mit seinem melismatisch-überirdischen Oud-Spiel. Erstaunlich dabei ist immer wieder, wie es gelingt, die zwei Improvisationswelten von Jazz und arabischem Maqam auf einen musikalischen Nenner zu bringen, als gäbe es nichts Natürlicheres als die Kombination von sonor in sich hineinhörender Bassklarinette und orientalischen Fiorituren der Knickhalslaute.

Ähnlich unvermutete Klangwunder birgt auch die Duo-Aufnahme von Ralph Towners akustischer Gitarre mit der Trompete und dem Flügelhorn von Paolo Fresu. Wie beide Musiker sich hier über einem spürbaren, aber nie hörbaren rhythmischen Puls wechselseitig mit Motiven und Klanganspielungen motivieren, das ist die hohe Kunst der Jazzimprovisation - zugleich aber auch eine Hommage an eine Aufnahme, die seinerzeit die Initialzündung für Manfred Eichers ECM-Labelgründung gewesen war: "Kind of Blue" von Miles Davis, das apollinische Gesicht des Jazz.

WOLFGANG SANDNER

Anouar Brahem, The Astounding Eyes of Rita. ECM 2075; John Surman, Brewster's Rooster. ECM 2046; Stefano Bollani Trio, Stone In The Water. ECM 2080; Enrico Rava, New York Days. ECM 2064; Tomasz Stanko Quintet, Dark Eyes. ECM 2115; Ralph Towner, Paolo Fresu. Chiaroscuo. ECM 2085 (Universal).

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