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Sommer 1932: Der Romanist Ernst Robert Curtius korrigiert die Fahnen seines neuen Buches "Elemente der Bildung", das im Herbst erscheinen soll. Doch dazu kommt es nicht, und - noch seltsamer - Curtius selbst hat das Werk nie mehr erwähnt. Erst 2008 wurde es zufällig entdeckt und erscheint hier zum ersten Mal. Das mit Leidenschaft geschriebene Buch zeigt den großen Gelehrten von einer neuen Seite, von der dieser selbst später nichts mehr wissen wollte. Anfang 1932 veröffentlichte Ernst Robert Curtius (1886 - 1956) seine polemische Schrift Deutscher Geist in Gefahr. Danach, so schien es, schrieb…mehr

Produktbeschreibung
Sommer 1932: Der Romanist Ernst Robert Curtius korrigiert die Fahnen seines neuen Buches "Elemente der Bildung", das im Herbst erscheinen soll. Doch dazu kommt es nicht, und - noch seltsamer - Curtius selbst hat das Werk nie mehr erwähnt. Erst 2008 wurde es zufällig entdeckt und erscheint hier zum ersten Mal. Das mit Leidenschaft geschriebene Buch zeigt den großen Gelehrten von einer neuen Seite, von der dieser selbst später nichts mehr wissen wollte.
Anfang 1932 veröffentlichte Ernst Robert Curtius (1886 - 1956) seine polemische Schrift Deutscher Geist in Gefahr. Danach, so schien es, schrieb er nur noch Aufsätze und publizierte erst 1948 wieder ein großes Werk: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Niemand wusste, dass er 1932 ein weiteres Buch verfasst hat: Elemente der Bildung. Seiner Warnung vor der Zerstörung der abendländischen Bildungstraditionen sollte damit ein positives Bildungskonzept folgen - doch es kam anders. Die sorgfältige Edition macht Curtius' Buch erstmals der Öffentlichkeit zugänglich. In einem Nachwort geht Ernst-Peter Wieckenberg der Frage nach, welche persönlichen und politischen Umstände das Erscheinen verhindert haben. Er verortet das Buch in Curtius' Denken und den Debatten der Zeit und zeigt eindrucksvoll, wie sich ein deutscher Geisteswissenschaftler gegen die ideologische Vereinnahmung der Bildung stemmte und dabei selbst im Strom der Ideologien mitschwamm.
Autorenporträt
Barbara Picht, Dr. phil., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina. Von ihr erschien zuletzt "Geschichte intellektuell. Theoriegeschichtliche Perspektiven" (als Hg. mit F. W. Graf und E. Hanke, 2015).

Ernst-Peter Wieckenberg, Dr. phil., Dr. h.c., war nahezu vier Jahrzehnte lang Verlagslektor. Von ihm erschienen u. a. "Johann Heinrich Voß und 'Tausend und eine Nacht'" (2002) sowie "Johan Melchior Goeze" (2007).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Gleich aus mehreren Gründen ist Rezensent Gustav Seibt dankbar für die Edition dieses 1932 entstandenen, bisher unbekannten Werks des Philologen und Kulturkritikers Ernst Robert Curtius. Zum einen liest der Kritiker das Buch als "positive" Fortsetzung von Curtius' Werk "Deutscher Geist in Gefahr": Hier werde nicht nur eine Art deutscher Kulturidentität, die den Begriff "Bildung" als Pendant zur französischen "Zivilisation" verstehe, entworfen, klärt Seibt auf, sondern auch Bildung als "Weltwissen" definiert: Jenes schreite Curtius großzügig -  mitunter allerdings auch "gnadenlos" veraltet ab, so der Rezensent. Aktuell erscheint ihm jedoch Curtius' Blick auf den Sektengeist der bündisch inspirierten Jugend, der den Kritiker an heutige Filterblasen erinnert. Insbesondere aber lobt Seibt das "hochgelehrte" und spannende Nachwort von Ernst-Peter Wieckenberg, das wie eine eigene Monografie das geistige und biografische Beziehungsgeflecht der "Elemente der Bildung" skizziert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.02.2017

Europa in Gefahr
Die deutsche Krise von 1932 und der Begriff der Bildung: Ein unbekanntes Hauptwerk des großen
Philologen Ernst Robert Curtius ist nun in meisterhafter Edition erschienen
VON GUSTAV SEIBT
Am 18. Januar 1932, dem Reichsgründungstag, schrieb der Philologe und Kulturkritiker Ernst Robert Curtius das Vorwort zu einer Brandschrift mit dem Titel „Deutscher Geist in Gefahr“. „Alle Menschen in Deutschland spüren“, hieß es da, „dass das Jahr 1932, in das wir soeben eingetreten sind, ein Jahr der großen Entscheidungen sein wird.“ Die Nachkriegszeit seit dem Ende des Weltkriegs, eine Epoche des „Provisorismus“, der modernistischen Moden und der politischen „Scheinlösungen“ sei zu Ende. Auf einem „Trümmerfeld“ müsse neu gebaut werden: „Es muss besser werden, weil es nicht mehr schlechter werden kann.“ Dass es anders kam, wissen wir.
Curtius stand damals schon auf einer ersten Höhe des Ruhmes, als Gelehrter und als Kritiker. Er hatte den Deutschen das alte und neue Frankreich erklärt, in der Hoffnung auf Überbrückung des Grabens von Hass und Feindschaft, den Krieg und Friedensschluss aufgerissen hatten; er hatte zugleich in Frankreich für Deutschland geworben, auch in weitausgreifenden Briefwechseln mit Kollegen und Schriftstellern wie André Gide und Marcel Proust.
Aber noch größer wirkt von heute aus seine literaturkritische Leistung: Mit divinatorischer Sicherheit hatte er die entscheidenden Leistungen der literarischen Moderne erkannt und nach Deutschland vermittelt: Prousts Romanwerk, den „Ulysses“ von James Joyce, die Lyrik von T.S. Eliot. Dass Curtius nebenbei als Leser von Max Weber, Ernst Troeltsch, Karl Jaspers, Carl Schmitt und Max Scheler, sogar Heideggers, auf der Höhe der intellektuellen Debatten der Zeit stand, gehört in ein Bild von Gelehrsamkeit und zeitgenössischer Wachheit, das seinesgleichen sucht.
Heute gilt Curtius als Kulturkonservativer, der elitär und defensiv auf die nationalsozialistische Barbarei reagiert habe. Immerhin entstand in den Jahren des Dritten Reichs, als Curtius publizistisch mundtot war, mit seinem Großwerk zur europäischen Literatur und dem lateinischen Mittelalter ein Zitatenschatzhaus der Tradition, das den Bogen über alle Zeiten und Nationalkulturen hinweg spannte. Darin realisierte Curtius eine Forderung, die er in seiner „Gefahr“-Schrift von 1932 begründet hatte: das umfassende Bild eines lateinisch zentrierten, christlich-mittelalterlichen Humanismus, in dem die drei Grundkräfte Europas, Antike, Christentum und germanisch-romanische Nationalkulturen zum Ausgleich kommen sollten.
1932 war das ein provokantes Programm, das Curtius gegen zwei Gegner in Stellung brachte: die moderne wissenssoziologische Skepsis, die alle Überlieferungen relativierte, aber vor allem gegen einen völkischen Nationalismus, der damals mit „Stoßtrupps und Sprechchören“ – so die Formulierung von Curtius – die Szene okkupierte und eine von „westlichen Ideen“ bereinigte Version des Deutschtums propagierte. Sie endigte, so Curtius, „bei der verschwommenen Vorstellung eines um sich selbst rotierenden X“ – ein klarer Hinweis auf jenes „Kreuz mit Haken“, das ein Jahr später die Macht im Lande signalisierte.
Wer von heute aus bei Curtius elitären Dünkel gegenüber der Massenuniversität und den Ermäßigungen der Bildungsansprüche tadelt, sollte einen sozialen Tatbestand vor Augen haben, der damals allgemein bewusst war: Die nationalsozialistische Bewegung war vor allem eine Jugendbewegung, und nirgendwo in der deutschen Gesellschaft war die nationalsozialistische Durchdringung schon vor der Machtergreifung so hoch wie in der deutschen Studentenschaft.
„Deutscher Geist in Gefahr“: Die Diagnose stimmt auch sozialgeschichtlich und bildungssoziologisch, das wird von heutigen Curtius-kritischen Philologen schlicht übersehen. Die Verwirrung der Geister über Rassen- und Volksbegriffe, der von Curtius gebrandmarkte Antisemitismus, die Verabschiedung der humanistischen Tradition, der Hass auf die anderen Nationen und ihre Kulturen: Das war eine Bildungskatastrophe, die der politischen unmittelbar vorarbeitete.
Das ist der Kontext der überraschenden Edition eines bisher unbekannten Hauptwerks von Curtius, das im Krisenjahr 1932 unmittelbar im Anschluss an „Deutscher Geist in Gefahr“ entstand und im Frühjahr 1933 nicht mehr veröffentlicht werden konnte – ein scharfer Angriff des Völkischen Beobachters auf die „Gefahr“-Schrift aus der Feder eines jungen romanistischen Kollegen, den die jetzt erscheinende Edition abdruckt, verdeutlicht den Gewaltkontext.
„Elemente der Bildung“ heißt das Buch, das bereits in den Fahnen fertig vorlag und sich im Nachlass von Curtius und seiner Frau Ilse, geborener Picht, erhalten hat. Die nicht völlig unverwickelte Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte wird in dem weitausgreifenden, hochgelehrten, aufregend geschriebenen Nachwort von Ernst-Peter Wieckenberg zu einem eigenen kleinen Roman, neben dem weitgespannten, filigran nachgezeichneten geistigen und biografischen Beziehungsgeflecht, in dem die „Elemente der Bildung“ stehen. Dieses Nachwort ist eine eigene, gleich umfangreiche Monografie, und wer zunächst skeptisch ist, ob der Aufwand nötig ist, wird beim Studium eines Besseren belehrt. Hier ist keine Seite, keine Fußnote überflüssig; hier wird ein abgestorbener Text, dem die Chance der Wirkung versagt blieb, ins Wasserbad des historischen Wissens gelegt, um dort wundersam zu erblühen.
Die „Elemente der Bildung“ sind die positive Fortsetzung von „Deutscher Geist als Gefahr“, das „Rettende“, das dort ein Hölderlin-Motto beschwor. Zugleich entwerfen sie eine Art deutscher Kulturidentität, die den Begriff der „Bildung“ (und eben nicht der „Kultur“) als deutsches Pendant zur französischen „Zivilisation“ modelliert. Das ist nicht polemisch gemeint, sondern im Sinne jener „polyphonen Harmonie“ von Nationalindividualitäten, aus der für Curtius Europa und sein Reichtum bestehen. „Bildung“ ist unpolitischer, weniger bürgerlich, mehr auf den Einzelnen bezogen als die „Zivilisation“ – das spiegelt eine andere Geschichte, nicht einen höheren Wert.
Was ist Bildung? Curtius definiert sie mit Max Scheler als Wissensform zwischen dem „Leistungswissen“, das der praktischen Weltbeherrschung dient und dem „Heilswissen“ oder „Erlösungswissen“, das dem Menschen aus Religion und Metaphysik zuwächst. Bildung ist ein Weltwissen zwischen Technik und Metaphysik, so kann man vereinfachen, und zwar eines, das die Person affiziert: „Bildung besteht in einer lebendigen Wechselwirkung zwischen Mensch und Welt. Alles, was in der Welt wesentlich und wesenhaft ist, soll sich spiegeln im Menschen.“ Der Mensch soll sich „emporbilden zur Welt“. Zugleich ist Bildung der Erinnerungsspeicher früherer Weltverhältnisse, wie sie sich in Kunst, Sprache, Literaturen ausgeprägt haben.
Diesen großen Kreis schreitet das Buch ab, von „Bildung und Zahlenwelt“ über die Naturwissenschaften, Mensch und Tier, Trieb, Seele und Geist, Sprache und Schrift, Gesellung bis zu Literatur und Klassik. Bildung soll „anagogisch“ sein, den Menschen immer höher führen. Von Ermäßigungen und Vermittlungen hielt Curtius bekanntlich wenig – die Anekdoten aus seinen Seminaren sind sprichwörtlich. Kein Autor wird öfter zitiert als Goethe, der Goethe der weltanschaulichen Gedichte, des „Faust“ und, damals noch ungewöhnlich, der Naturwissenschaft.
Natürlich ist hier vieles zeitgebunden und gnadenlos veraltet, gerade weil Curtius sich als aktuell informierter Intellektueller erweist, dem die moderne Anthropologie ebenso vertraut ist wie die Psychoanalyse und sogar damals entlegene Spezialitäten wie der „Österreicher Kafka“, dessen „Verwandlung“ im Kapitel über „Mensch und Tier“ erwähnt wird. Darum muss man den Text zusammen mit dem Nachwort lesen, das auch die zeitgenössischen Diskussionen zu Bildungsreformen und Volksbildung nachzeichnet, an denen Curtius nicht nur aus familiärer Vernetzung mit einigen der Hauptprotagonisten, sondern auch mit Blick auf die skeptisch beäugte neue Demokratie teilnahm.
Curtius nämlich war einer jener Altliberalen, die noch einen klaren Begriff von dem heute verdrängten Gegensatz von Liberalismus als Freiheit des Einzelnen und Demokratie als dem Regime der Mehrheiten hatte. Da wir ihn soeben in der populistischen Welle, die um die Welt geht, wiederentdecken, kommt diese Edition zum fast beunruhigend passenden Moment. Wieckenberg nennt diesen Liberalismus im Einklang mit der Curtius-Forschung „defensiv“.
Warum eigentlich nicht kämpferisch, ja offensiv? Wenn Curtius wie viele konservative Demokraten seit 1920 der Meinung war, man müsse die „Masse“ erst zum „Volk“ „bilden“, wenn er darauf beharrt, dass es Wahrheiten und Überlieferungen gibt, über die Mehrheiten nicht abstimmen sollten, dann sind das Einsprüche gegen totale Machtansprüche des Politischen, die wir heute wieder in Lügenpropaganda und „alternativen Fakten“ erleben. Und schon in der „Gefahr“-Schrift gab es genügend Hinweise auf das soziale Elend gerade der Studenten, das Curtius so selbstverständlich vor Augen stand wie jedem Zeitbeobachter. Auch sein scharfer Blick auf den Sektengeist der bündisch inspirierten Jugend, ihre parteiliche, oft esoterische Zersplitterung wirkt gespenstlich aktuell: Wir nennen es Filterblasen und gruseln uns vor der Unerreichbarkeit ganzer sozialer Milieus.
So verlangt dieses Buch das, wovon es spricht, einen gebildeten Leser, der Nutzen aus Parallelen ziehen kann. Denn es handelt auf eine untergründige Weise auch vom Zusammenhalt in der Gesellschaft, den geteiltes Wissen und gemeinsame Traditionen zu sichern helfen. Da Curtius dabei den Umkreis des Nationalen immer entschlossen überschreitet, ist dieser ergreifende Fund auch ein Beitrag zu unserem heutigen Thema: Europa in Gefahr.
„Alles, was in der Welt wesentlich
und wesenhaft ist, soll
sich spiegeln im Menschen.“
Curtius unterschied noch
genau zwischen Liberalismus
und Demokratie
Ernst Robert Curtius: Elemente der Bildung. Herausgegeben von Ernst-Peter Wieckenberg und Barbara Picht. Verlag C. H. Beck, München 2017.
517 Seiten, 48 Euro.
Gartenszene im Geist der deutsch-französischen Verständigung in den Zwanzigerjahren: Ernst Robert Curtius (links außen) mit seiner Gattin (zweite von links) zu Gast auf Schloss Colpach bei Aline Mayrisch de Saint-Hubert (mit Hut). Rechts Karl Hansen sowie der Jurist und Diplomat Pierre Viénot.
Foto: Collection Marcel Schroeder/Photothèque Ville de Luxembourg
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.05.2017

Bildung als deutsche Universaldisziplin
Ein erstmals gedruckter Text zeigt den großen Romanisten Ernst Robert Curtius in neuem Licht

Ernst Robert Curtius (1886-1956) ist nicht nur ein großer Romanist des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern auch Gegenstand intensiver Debatten zur Fach- und Geistesgeschichte. Gerechtfertigt ist das allemal, Curtius hat in der Zwischenkriegszeit in Universität und Öffentlichkeit, ja international eine herausragende Rolle gespielt, wie der Briefwechsel zeigt, aus dem Frank-Rutger Hausmann kürzlich eine Auswahl edierte (F.A.Z. vom 18. August 2015). Curtius kannte Gott und die Welt, publizierte ohne Unterlass Bücher, Aufsätze, Artikel.

Mysteriös bleiben die Jahre 1932 bis 1948. Vorher bemühte Curtius sich um die deutsch-französische Versöhnung und sorgte sich um die deutsche Kultur; Letzteres brachte die 1932 erschienene Schrift "Deutscher Geist in Gefahr" zum Ausdruck, die in einem Arbeitsrausch entstand. Es folgten Erschöpfung sowie eine lange Phase des Schweigens, in der Curtius nur Aufsätze verfasste, bis er 1948 die Monumentalstudie "Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter" vorlegte. Der Abwendung von Frankreich, von Literatur und Politik der Gegenwart folgte die Hinwendung zu Rom und zum mittelalterlichen Nachleben der Antike, mit dem Ziel humanistischer Erneuerung - so die Selbstdarstellung.

Nun aber ist ein unveröffentlichtes Buch aufgetaucht, das die Situation in ein neues Licht rückt: "Elemente der Bildung", offenbar 1932 im Anschluss an "Deutscher Geist in Gefahr" geschrieben. Der Text war bis zu einer Fahnenkorrektur gediehen, welche die Herausgeber auf den März des Jahres 1933 datieren. Aus unbekanntem Grund blieb er unveröffentlicht, es lassen sich nur eine knappe Ankündigung und zwei Briefstellen finden, die auf ihn hindeuten.

Der C.H. Beck Verlag feiert diesen Fund mit einer umfangreichen Ausgabe, in welcher der Curtius-Text mit knapp zweihundert Seiten weniger als die Hälfte ausmacht. Den Rest nehmen der Apparat sowie das sorgfältig abwägende Nachwort von Ernst-Peter Wieckenberg ein, das die Etappen von Curtius' Werk und Kontext und Gehalt der "Elemente" resümiert; auch werden mögliche Gründe für den Publikationsverzicht erörtert.

Der aus dem damals deutschen Elsass stammende Curtius übernahm nach 1918 eine zentrale Rolle für die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich; Deutschland wollte Curtius dabei als gleichberechtigten Partner anerkannt wissen. Dazu musste das Land sich zunächst über seine Identität und seine Stimme im europäischen Völkerkonzert klarwerden. Dieser Beitrag war, so Curtius, in der deutschen Bildungsidee zu suchen. Deren Absicherung schien ihm angesichts einer konstatierten Bildungskrise - auch in den zwanziger und dreißiger Jahren wurden Kulturverfall und Massenuniversität beklagt, und die Wirtschaftskrise sorgte für äußerst handfeste Schwierigkeiten - dringlich. Daher rührt die Relevanz von "Elemente der Bildung".

Der Band ist kein Resümee von Bildungsgut, sondern der Versuch, "einen Wiederaufbau unseres Bildungsbewußtseins" zu befördern, also zu erläutern, "was Bildung sein kann und sein soll" (von Curtius durch Kursivierung hervorgehoben). Die neunzehn Kapitel lassen sich grob in drei Abschnitte untergliedern: Curtius beginnt mit dem Fundament der Bildung. Er unterscheidet im Anschluss an Max Scheler zwischen drei Wissensformen: dem Leistungswissen der Naturwissenschaften, dem Bildungswissen und dem Erlösungswissen der Religion. Bildungswissen entstehe auf der Suche nach Sinn - eine Dimension, welche für die Naturwissenschaften irrelevant sei - und meint "all das Wissen, das den Menschen anleitet, der Ganzheit und der Wesensstufung der Welt innezuwerden". Funktion des Bildungswissens sei es, "dem Werden und der Entfaltung der Person" zu dienen.

Im zweiten Abschnitt nähert Curtius sich der Bildung "von der geschichtlichen Seite her" und versucht, "die einzelnen Momente des bisher erworbenen Wissens zu entfalten". Er meint damit Gegenstandsbereiche wie "Naturwissenschaften und Naturdeutung", "Mensch und Tier", "Trieb, Seele, Geist", "Stimme und Sprache", "Sprache und Schrift", "Gesellung", "Literatur" und "Klassik". Im dritten Abschnitt kommt er schließlich auf "Tugenden" und "Technik" der Bildung zu sprechen, bevor er zu den "Naturgrenzen der Bildung" und schließlich zu den "letzten Dingen" übergeht.

Man sieht: Curtius legt es nicht auf einen Bildungskanon an. Es geht ihm vielmehr um eine Grundlegung - die Verwendung von Metaphern der Baukunst sowie der einleitende Verweis auf das Straßburger Münster sind symptomatisch. Das hat nicht nur biographische Gründe: Neben Scheler ist Goethe ein Gewährsmann, dessen "Faust" Curtius oft zitiert, um sein Bildungskonzept zu verteidigen. An welches Publikum Curtius wohl dachte? Die Herausgeber merken zu Recht an, dass der Stil über weitere Strecken überraschend einfach gehalten ist, sich aber zugleich voraussetzungsreiche Passagen finden, die Eingeweihten vorbehalten sind. Dieser Unterschied verweist auf Curtius' Elitedenken: Das deutsche Volk insgesamt soll gebildet, seine Leitung freilich einer kleinen Gruppe herausragender Geister vorbehalten werden.

Der Band schließt eine Lücke in Curtius' Werk: Der Bildungsgedanke, ein Basso continuo seines Schaffens, wird präzisiert; auf diese Weise zeigt sich sein Bemühen um Deutschlands Platz in Europa. Auch bekräftigt Curtius hier seine Vorbehalte gegen politische Einmischung und kritisiert den russischen und den italienischen Totalitarismus: "Das bedeutet aber nichts anderes, als daß der Staat sich selbst zum Götzen macht." Im Munde eines Christen ein vernichtendes Urteil. Auch sonst wird klar, dass Curtius ein Liberaler ohne Sympathie für völkisches oder gar faschistisches Gedankengut war. Allerdings hält sich der Eindruck, dass er die Demokratie kaum gnädiger bewertet. Oberstes Ziel ist die Trennung von Geist und Politik, und zwar zugunsten des Geistes: "Der geistliche Mensch ist der oberste, also muß er der herrschende sein". Zu Recht hat Joseph Jurt Curtius "politische Ahnungslosigkeit" bescheinigt. Wie dem auch sei, das Porträt des Intellektuellen wird um wertvolle Nuancen ergänzt.

Befragt man freilich Curtius' Projekt auf seine Überzeugungskraft, so muss das Urteil negativ ausfallen. Der Ansatz, durch Rückgriff auf christlich-antike Grundlagen - die für ihn in idealer Weise im Mittelalter vereint waren - einen ewigen Sinn zu vermitteln und so die Identität des deutschen Volkes zu festigen, wirkt hoffnungslos antiquiert. Erstens entspricht die Vorstellung, ein überzeitlicher Gehalt enthülle sich in einer Offenbarung und die Bildung werde damit zur Wegbereiterin der "Gottesschau", einer Privatreligion, nicht aber einer zeitgemäßen Bildungstheorie - schon gar nicht einer wertneutralen. Zweitens ist der Anspruch, damit einer gebeutelten Gesellschaft wie jener der Weimarer Republik einen Ausweg aufzuzeigen, so vermessen wie abstrus.

Zumal die gewählte Perspektive massive Folgen für die konkreten Erörterungen hat. Die Wahl der nationalen Sicht führt dazu, dass die Aufklärung verschmäht und die französische Romantik abgefertigt wird; von einem Romanisten wäre ein feineres Urteil, ein weiterer Blick zu erwarten gewesen. Auch Curtius' Stellungnahme zugunsten der Gattungspoetik - "Diese Grenzverwischungen bedeuten keinen Gewinn, keine Befreiung, sondern Zugeständnisse an die Schwäche des Willens und der Begabung" - ist historisch verspätet und befremdet angesichts der Hellsicht, mit der Curtius die große Moderne würdigte.

Curtius zeigt in "Elemente der Bildung" warum konservative Intellektuelle keine Antwort auf die Krise der Weimarer Republik hatten: Ein Vertrauen in Demokratie und Politik fehlt von Grund auf, die Krisen der Moderne werden in universalhistorischer Perspektive als periodische, transitorische Übel des Weltlaufes angesehen. Auch der Grund dafür wird deutlich: Weil bei aller intellektuellen Schärfe die Bedeutung von 1789 nicht verarbeitet wurde. Antimoderne können, das hat Antoine Compagnon gezeigt, die besseren Modernen sein: Dazu jedoch müssen sie die Eigenart dessen begriffen haben, was sie verachten; Flaubert, Baudelaire und Proust haben es auf dem Gebiet der Literatur vorgemacht. Curtius, so der Eindruck, hat 1932 die Moderne vielleicht ästhetisch, sicher aber nicht intellektuell begriffen - nicht begreifen wollen.

NIKLAS BENDER

Ernst Robert Curtius: "Elemente der Bildung".

Hrsg. von Ernst-Peter Wieckenberg und Barbara Picht. Verlag C. H. Beck, München 2017. 517 S., geb., 48,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Das Nachwort Ernst-Peter Wieckenbergs (...) stellt (...) eine wissenschaftliche Leistung eigenen Ranges dar."
Wolfgang Asholt, Arbitrium, 1/2018

"Große, detektivische und lobenswerte Arbeit."
Nico Schulte-Ebbert, literaturkritik.de, 12. Juni 2017

"Ein erstmals gedruckter Text zeigt den großen Romanisten Ernst Robert Curtius in neuem Licht."
Niklas Bender, FAZ, 12. Mai 2017

"Selten hat man klügere Aussagen über das Wesen und die Stellung von Bildung in einer Gesellschaft gelesen."
Mittelbayerische Sonntagszeitung, 9. April 2017

"Hier ist keine Seite, keine Fußnote überflüssig; hier wird ein abgestorbener Text, dem die Chance der Wirkung versagt blieb, ins Wasserbad des historischen Wissens gelegt, um dort wundersam zu erblühen."
Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 28. Februar 2017