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Feinden der Freiheit
Alexander Graf Lambsdorff sorgt sich um die EU
Die Kombination auf dem Buchcover macht neugierig. Der Autor blickt die potenziellen Leser nachdenklich an, zugleich mit einem Hauch von Zuversicht. Und der Name ist berühmt. Der Autor stammt aus einer Familie, die bereits in früheren Zeiten politisch sehr verdienstreich war. Der Autor hat ebenfalls eine beachtliche politische Karriere vorzuweisen. Aber was hat der FDP-Politiker mit Elefanten zu tun?
Alexander Graf Lambsdorff war etliche Jahre Mitglied des Europäischen Parlaments, von 2014 bis 2017 sogar dessen Vizepräsident. Jetzt gehört der Liberale dem Bundestag an und meldet sich vor allem zur Außenpolitik zu Wort. Aus diesem Erfahrungshorizont ist nun ein Buch entstanden, das sich offenbar um die Schlüsselfrage seines Lebens dreht: die Freiheit – und die „kalten Kriege des 21. Jahrhunderts“.
Und gleich auf den ersten Seiten wird der große Rahmen abgesteckt: Da wird die griechische Antike zitiert, die Gefallenenrede des Perikles. Der Titel des Buches wird dann verständlich gemacht mit dem Hinweis auf ein afrikanisches Sprichwort: „Wenn Elefanten kämpfen, leidet das Gras.“ Aber dann stolpert man über einen Begriff, der nicht so recht zur freiheitlichen Geschichte passt: „endgültig“. Was ist in einer freiheitlichen Ordnung wirklich „endgültig“?
Bei den vielen Verweisen in dem Buch auf andere bekannte Autoren als Erkenntnisweg hilft vor allem ein Bestsellerautor, der ihn bei aller Nachdenklichkeit zum Erbe der Freiheit nach Kalten Kriegen unterstützt: Francis Fukuyama hat in seinem Buch mit dem irreführenden Titel „Das Ende der Geschichte“ auf ein großes Problem der freiheitlichen Ordnung des Westens hingewiesen: Mit Ende des Kalten Krieges, mit Ende des Ost-West-Konflikts konnte der Westen seine Ordnung nicht mehr mit dem Hinweis auf das Gegenbild des Ostens erklären und begründen. Die Gefahr bestand und besteht, dass der Westen überfordert ist, nun aus sich selbst heraus alle Elemente der Freiheit zu erläutern, zu begründen, zu erklären. Die Lektüre der Texte des Francis Fukuyama hat offenbar Graf Lambsdorff veranlasst, noch tiefer die Möglichkeiten und Gefährdungen der Freiheit zu ergründen.
Viele Beispiele für „die ethischen Debatten im Innenraum der Freiheit“ führt Graf Lambsdorff an und folgert daraus: „Aus dem Wissen, das wir über uns selbst haben, und aus den Werten, die wir daraus entwickeln, leitet sich politisches Handeln ab.“ Diese Erkenntnis zeigt aber auch den immensen Erläuterungs- und Erklärungsbedarf, dem die Politik eher selten nachkommt. Wir erleben mehr situatives Krisenmanagement als die Erfüllung der Deutungsnotwendigkeit in einem Zeitalter der Komplexität. So rutscht man eher in ein Zeitalter der Konfusion. Schuld daran ist die strategische Sprachlosigkeit der Politik. Nach dieser intellektuell schmerzhaften Erfahrung hofft man nun, durch die Lektüre dieses Buches über die kalten Kriege des 21. Jahrhunderts aus dieser Not befreit zu werden.
Manch ein historisches Ereignis, das in diesem Buch erwähnt wird, verdient allerdings ergänzende Hinweise, Korrekturen und Interpretationen. So wird der Deutsch-Französische Freundschaftsvertrag von 1963 als die fugenlose Fortsetzung der Erfolgsgeschichte der Integration nach Ende des Zweiten Weltkriegs dargestellt. In Wirklichkeit war er eine Antwort auf ein partielles Scheitern. Adenauers und de Gaulles atemberaubender Entwurf hatte keine Chance zu einer parlamentarischen Ratifizierung. So legten sie dann eine viel weniger ehrgeizige Version vor – den Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrag. Anspruchsvolle Bücher sollten bei solchen Ereignissen auf historische Präzision achten.
Akteure neuer Kalter Kriege werden genannt: China, Russland, Türkei. Eine vielfältige Rückkehr der Diktaturen wird befürchtet. Und so kommt Graf Lambsdorff zur Erkenntnis: „Nur als EU haben wir die Chance, nicht zum Gras zu werden, über das die kämpfenden Elefanten hinwegtrampeln.“
Die aufziehenden Krisen und Konflikte, ja sogar Kalten Kriege lassen die Sehnsucht nach konstruktiven, machtvollen europäischen Antworten wachsen. Dazu zitiert Graf Lambsdorff über viele Seiten immer wieder den britischen Diplomaten Robert Cooper. Als Leser denkt man: So qualifiziert Cooper auch ist, ab und an wäre auch manch ein anderer Autor als gedankliche Hilfe heranzuziehen. Man atmet auf, als das wirklich geschieht und George F. Kennan zitiert wird. Der Schlussfolgerung, die Graf Lambsdorff aus alledem zieht, ist nicht zu widersprechen: „Wir leben in einer Zeitenwende.“
Es gab Zeiten, da boten große Herausforderungen feste, zuverlässige Orientierungen. Solche Filter für eingehende Informationen benötigt jede komplexe, moderne Gesellschaft, um Halt zu finden und Halt zu bieten. In der Geschichte der Europäischen Integration ist es nicht das erste Mal, dass in einer Krise die Frage nach der Sinnhaftigkeit gestellt wird. Bisher gab es jedoch immer eine Antwort, die dem Projekt neue Vitalität verlieh. Aber das kennzeichnet die neue Epoche – die Abwesenheit einer identitätsstiftenden Zielprojektion. Für Graf Lambsdorff bedeutet das: „Die EU muss einen Ausweg aus der Sackgasse finden, in die sie sich manövriert hat.“
Und so kommt zum Schluss des Buches eine ganz elementare Erkenntnis zur Geltung, die schon einen Immanuel Kant erfasst hatte: Alles ist Perzeption. Und dann geht es auch um die Reziprozität der Perspektiven. Man muss die anderen gut verstehen, ihre Wahrnehmungshorizonte, ihre Kultur, ihre Geschichte erfassen. Aus dieser Grundlage kann man zukünftige Konstellationen erkennen – und Kalte Kriege vermeiden.
WERNER WEIDENFELD
Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München und Rektor der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg).
Die Europäische Union hat
sich in eine Sackgasse manövriert.
Aber wo sind die Auswege?
Alexander Graf
Lambsdorff:
Wenn Elefanten kämpfen. Deutschlands Rolle in den kalten Kriegen des
21. Jahrhunderts. Propyläen Verlag, Berlin 2021.
304 Seiten, 24 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein realistisches Bild der Gegenwart nebst Empfehlungen für eine gedeihliche Zukunft
Es ist nicht übermäßig originell, das afrikanische Sprichwort von den Elefanten, unter deren Kämpfen das Gras leidet, als Titel eines Buches zu wählen, das sich mit den Veränderungen der Machtverhältnisse in der Welt und den Bedrohungen beschäftigt, denen sich freiheitliche Demokratien im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gegenübersehen. Und doch beschreibt es ziemlich genau, welche Konsequenzen etwa der Aufstieg Chinas und die zurückgekehrte Konkurrenz großer und halbgroßer Mächte haben - für den Westen, die Europäische Union und besonders für Deutschland, dessen Stellung in der Welt der Gegenwart ungemütlich geworden ist. Dabei ist genau das die Absicht des Autors: aufzuzeigen, was die EU und eben und vor allem Deutschland tun müssen, um nicht unter die Räder zu kommen, wenn die "Großen" ihre Händel austragen, wenn autoritär-diktatorische Regime auf aggressive Weise ihre Interessen durchzusetzen suchen und im Falle Chinas gar nach globaler Dominanz streben.
Lambsdorff beschreibt den Zustand der Welt und zeichnet die politischen, wirtschaftlichen, geographischen und ideengeschichtlichen Entwicklungslinien nach. Er ist ein guter, kenntnisreicher und sensibler Beobachter der internationalen Politik und ein ebenso besorgt-kritischer wie energischer Verteidiger der europäischen Einigung. Das nimmt auch nicht unbedingt Wunder, schließlich gehörte Lambsdorff viele Jahre dem Europäischen Parlament an. Aber seine immer wieder variierte Feststellung, dass nur eine starke und geeinte Europäische Union das politische und wirtschaftliche Gewicht aufbringen kann, um der aufsteigenden asiatischen Supermacht China etwas entgegensetzen zu können, ist nicht von Sentimentalität getränkt, sondern das logische Resultat einer nachvollziehbaren, ja zwingenden Analyse.
Einem aufmerksamen Leser dieser Zeitung wird vieles bekannt vorkommen, was Lambsdorff darstellt und analysiert: das Gebaren autoritärer Regime; die zersetzende Wirkung der Verdrehung von Fakten und Lügen für die Demokratie; die geopolitischen Verschiebungen; die Bedeutung von technologischer Innovation und Digitalisierung für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik; der wachsende Nationalismus in einigen Ländern der EU und die wachsende Tendenz, das Heil - in der Sicht des Autors fälschlicherweise - in nationalen Alleingängen zu suchen. Doch das schmälert in keiner Weise den Wert dieses Buches. Denn der Autor webt die einzelnen Stränge so zusammen, dass ein großes Bild dabei entsteht - ein realistisches, kein heimeliges Bild am Anfang neuer "kalter Kriege". Man könnte auch neudeutsch sagen: Es ist die Zeit, in der die Resilienz der Demokratien - unserer Demokratie - einem großen Belastungstest unterzogen wird. Die vielen Hinweise auf die Krisenphänomene in den Vereinigten Staaten - Stichwort Trumpismus, Stichwort Sturm auf das Kapitol - dienen als Beleg dafür, wie verletzlich Demokratien geworden sind, selbst die westliche Führungsmacht. Dass er das Bündnis mit den Vereinigten Staaten trotz allem für eine Frage des Überlebens Europas hält, also für im Wortsinne existentiell, zeugt von einer realistischen Sicht auf die Begrenztheit der eigenen Mittel in einem weltpolitischen Großkonflikt.
Lambsdorff lässt immer wieder Autobiographisches einfließen - ob aus der Kind-, Schul- und Jugendzeit, ob von Stationen als junger Diplomat und Europapolitiker. Das verleiht der historischen Darstellung einen Schuss persönlicher Authentizität und wirkt nicht gestelzt, sondern erhellend. Es macht die Sache anschaulich.
Dass ein Mitglied einer freiheitlich-liberalen Partei ein Plädoyer für die Freiheit hält und dazu aufruft, deren Gegnern entgegenzutreten, einerlei, ob es sich um Rechtspopulisten im Inneren oder um eine staatskapitalistische Diktatur handelt, liegt nahe. Aber die freiheitliche Demokratie und die freiheitliche Lebensweise, der Autor nennt sie "unseren European way of life", können Verteidiger wie Alexander Graf Lambsdorff gut gebrauchen, die wissen, das es ernst wird: "Mit den heraufziehenden kalten Kriegen (...) stehen Menschenrechte, Freiheit und Demokratie ebenso auf dem Spiel wie Völkerrecht, Multilateralismus und Freihandel." Es liegt auch und nicht zuletzt an Deutschland, dass Europa und der Westen sich behaupten können. Dessen Aufgabe formuliert der Autor so: "Deutschland muss dafür sorgen, dass Europa als wichtiger Teil des globalen Westens ein Kontinent der Demokratie, des Rechtsstaats und der Menschenrechte bleibt." Wer würde dem widersprechen? Die Probleme kommen dann, wenn eine hehre Aufgabe in konkrete Politik übersetzt wird - und die dann gegen Partikularinteressen und Einwände durchgesetzt werden soll. Ein starkes Europa - das ist Lambsdorffs Mantra. Es ist die Konsequenz aus der realpolitischen Beschränktheit von Souveränität heutzutage. Auch Großbritannien werde das noch schneller spüren, als es glaubt - die kleine Spitze kann sich der Autor nicht verkneifen. Oder anders ausgedrückt: "size matters", besonders im Reich der Elefanten.
KLAUS-DIETER FRANKENBERGER
Alexander Graf Lambsdorff: Wenn Elefanten kämpfen. Deutschlands -Rolle in den kalten Kriegen des 21. Jahrhunderts.
Propyläen Verlag, Berlin 2021. 304 S., 24,- [Euro].
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