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Los Angeles, die Stadt der Engel: Dort verbringt die Erzählerin Anfang der Neunziger einige Monate auf Einladung des Getty Center. Sie spürt dem Schicksal einer gewissen L. nach, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA emigrierte. Ein ums andere Mal wird sie über die Lage im wiedervereinigten Deutschland verhört: Wird der »Virus der Menschenverachtung« in den neuen, ungewissen deutschen Zuständen wiederbelebt? In der täglichen Lektüre, in Gesprächen, in Träumen stellt sich die Erzählerin einem Ereignis aus ihrer Vergangenheit, das sie in eine existentielle Krise bringt und…mehr

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Produktbeschreibung
Los Angeles, die Stadt der Engel: Dort verbringt die Erzählerin Anfang der Neunziger einige Monate auf Einladung des Getty Center. Sie spürt dem Schicksal einer gewissen L. nach, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA emigrierte. Ein ums andere Mal wird sie über die Lage im wiedervereinigten Deutschland verhört: Wird der »Virus der Menschenverachtung« in den neuen, ungewissen deutschen Zuständen wiederbelebt? In der täglichen Lektüre, in Gesprächen, in Träumen stellt sich die Erzählerin einem Ereignis aus ihrer Vergangenheit, das sie in eine existentielle Krise bringt und zu einem Ringen um die Wahrhaftigkeit der eigenen Erinnerung führt. Der neue große Roman von Christa Wolf ist auch autobiographische Prosa: Sie erzählt von einem Menschenleben, das drei deutschen Staats- und Gesellschaftsformen standhält, von einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, von der Kunst, sich zu erinnern. »Du bist dabei gewesen. Du hast es überlebt. Du kannst davon berichten.«

Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, D, I ausgeliefert werden.

Autorenporträt
Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski), lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-Büchner-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb am 1. Dezember 2011 in Berlin.

Rezensionen
»Ein äußerst spannendes Buch, das Gegenwart und Vergangenheit wie selbstverständlich verwebt und das als gelungener Gesellschaftsroman wie Autobiografie zu lesen ist.«

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2010

Mein Schutzengel nimmt es mit jedem Raumschiff auf

Gerichtet? Gerettet! Christa Wolf erinnert sich in ihrem autobiographischen Buch an eine tiefe Krise. Aber dann entdeckt sie am Rand der westlichen Welt überraschend eine Hoffnung auf Erlösung.

Von Richard Kämmerlings

In Los Angeles schaute Christa Wolf gerne "Star Trek". In der Anfang der neunziger Jahre in Amerika ausgestrahlten Star-Trek-Serie "The Next Generation" gibt es eine Doppelfolge mit dem Titel "Wiedervereinigung". Darin geht es um komplizierte diplomatische Verhandlungen zwischen den Vulkaniern (Mister Spock!) und den verfeindeten Romulanern über die friedliche Vereinigung der beiden Planeten - offenbar sind die kulturellen Bande zwischen den Völkern stärker als vermutet. Captain Picard, der Kommandant der "Enterprise", entdeckt aber, dass es sich bei der ganzen Sache nur um ein Ablenkungsmanöver der Romulaner handelt, die eine Invasion planen und den Planeten unterwerfen wollen. Was als Wiedervereinigung daherkommt, soll in Wahrheit eine Eroberung sein.

"Abend für Abend", so erinnert sich Christa Wolf an ihren Aufenthalt in Los Angeles in den Jahren 1992 und 1993, "saß ich vor dem Fernseher, wenn die Star-Trek-Serie lief, und erlaubte mir die Ausrede, ich müsse mein Englisch vervollkommnen, wusste aber insgeheim, es war mein Bedürfnis nach Märchen, nach glücklichen Ausgängen, das mich festhielt, denn ich konnte sicher sein, dass die Star-Trek-Besatzung die edlen Werte der Erdenbewohner in die fernsten Galaxien tragen, sie gegen jeden noch so infamen Feind durchsetzen und dabei selbst nicht zu schaden kommen würde." Die sogenannte "Wiedervereinigung" zwischen Vulkan und Romulus fällt aus. Es geht glücklich aus, Vulkan wird nicht erobert.

Wenige Seiten zuvor erinnert sich Christa Wolf an den 4. November 1989, an die Veranstaltung auf dem Alexanderplatz, an ihre Rede, an einen Moment, in dem für sie blitzartig die Utopie eines wahren Sozialismus zum Greifen nah war. Der historische Augenblick, in dem die Geschichte märchenhaft, glücklich ausgeht: "Ihn miterlebt zu haben, dachtest du, dafür hatte alles sich gelohnt." Nun, knapp drei Jahre später, hat Christa Wolf eine doppelte Kränkung erlebt. Die Bevölkerung der DDR hatte mehrheitlich ganz andere Sehnsüchte als jene, den wahren Sozialismus endlich verwirklichen zu dürfen. Und Christa Wolf selbst wurde, als Autorin und als Intellektuelle, Gegenstand des sogenannten deutsch-deutschen Literaturstreits. Mit dem Ende des Staats, an den sie bei aller inneren Distanz bis zuletzt festgehalten hatte, verlor sie auch die stets als selbstverständlich hingenommene Rolle als repräsentative Figur - die sie freilich für viele ihrer ostdeutschen Leser bis heute blieb, gerade wegen dieser nur allzu leicht nachvollziehbaren Erfahrung eines Statusverlusts im wiedervereinigten Deutschland.

1992 nun sitzt Christa Wolf in einem schrulligen Hotel mit dem zufällig passenden oder gut ausgedachten Namen "Ms. Victoria", macht sich ziemlich ess- und trinkfreudig mit der Konsumkultur des siegreichen Kapitalismus vertraut, schließt Freundschaften mit ihren Ko-Stipendiaten sowie einer Reihe deutsch-jüdischer Emigranten und beschäftigt sich auf Einladung der Getty Stiftung mit einem neuen erzählerischen Projekt: Ihre verstorbene Freundin Emma hatte ihr ein Konvolut von Briefen einer gewissen L. vermacht, einer in den dreißiger Jahren nach Kalifornien emigrierten Psychoanalytikerin. Christa Wolf begibt sich auf eine biographische Spurensuche, die an die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen erinnert: Nicht einmal den vollen Namen jener L. kennt sie.

Wie in ihren kanonischen Werken wie "Nachdenken über Christa T." oder "Kindheitsmuster" entzieht sich auch dieses Buch eindeutigen Kategorisierungen. Dass der Verlag es auf der Buchrückseite (und nur da) "Roman" nennt, ist wohl eine Panne. Christa Wolf mischt Reisebericht, Tagebuch, Erinnerungspassagen, Traumerzählungen und auch eindeutig fiktive Passagen. Auch die Rätselgeschichte der L. rundet sich nicht wirklich, die Gestalt bleibt seltsam unkonturiert (obwohl es eine überraschende Lösung gibt).

Für den Leser ist das zunächst ziemlich mühsam, zumal man sich neben manchen sehr banalen Alltagsbeobachtungen (die übertriebenen Freundlichkeit der Amerikaner, ihre merkwürdigen Frühstücksgewohnheiten etc.) und der erwartbaren (aber deswegen nicht falschen) Kritik an sozialen Missständen und am exzessiven Konsumfetischismus des Westens auch durch wirklich Ärgerliches beißen muss: wenn etwa die jungen Amerikaner am Getty-Center erklären, sie müssten das Land verlassen, falls Clinton nicht die Wahl gewinne, die Atmosphäre sei "denunziatorisch" und man wisse selbst in den Universitäten nicht mehr, mit wem man noch offen sprechen könne: "Davon höre man im Ausland wohl wenig? - In der Tat, sagte ich." Es ist schon ein starkes Stück, so eine Parallele zu totalitären Verhältnissen zu suggerieren. So gibt es einige Stellen, bei denen man nicht mehr viel Kredit gewähren will. Und doch, man sollte es tun.

Denn so nach etwa hundert, hundertfünfzig Seiten nimmt diese Prosa langsam Fahrt auf, werden die motivischen Verknüpfungen dichter, der Ton dringlicher und direkter. Die Erzählerin wird nach und nach per Fax über die heftigen und größtenteils vernichtenden Reaktionen auf das Bekanntwerden ihrer "Täterakte" informiert, die sie bereits vorher eingesehen hatte. Als "IM Margarete" war sie von 1959 bis 1962 bei der Staatssicherheit geführt worden. Obwohl sie sich angesichts der (verglichen mit dem Umfang ihrer "Opferakte") kaum ins Gewicht fallenden Fakten einer fortgesetzten Medienkampagne ausgesetzt sieht, stürzt sie fern von Deutschland, "am Rand der Welt" in eine tiefe Krise, die immer tiefer um eine Frage kreist: "Wie hatte ich das vergessen können? Ich wusste ja, dass man mir das nicht glauben konnte, man warf es mir sogar als mein eigentliches Vergehen vor - Vergehen, was für ein schönes deutsches Wort."

Dieser für die Erzählerin selbst rätselhafte Lapsus der Erinnerung ist der heiße, magmaförmige Kern des Buchs. Immer wieder ist von der gastgebenden Institution, unter anderen ja einem großen Archiv, als dem "CENTER" (in Versalien) die Rede, und unaufhörlich wird das Tun und Treiben der Gegenwart von der Arbeit an der Vergangenheit überlagert, ein Film im Kopf, ein Monolog in Endlosschleife. Christa Wolf ruft sich die Aufbaujahre, ihre Jugend als überzeugte, ja fanatisierte Genossin ins Gedächtnis, eine illegale Tätigkeit als Agitatorin in West-Berlin, die Begegnung mit großen Vorbildern wie Louis Fürnberg, aber auch spätere Zäsuren, allen voran die Tage nach der Biermann-Ausbürgerung, als sie trotz des gewaltigen Drucks an ihrer Unterschrift unter den Protestbrief festhielt.

Der titelgebende Mantel Sigmund Freuds wird zum paradoxen Bild dieser bohrenden Selbstbefragung: Sein Schutz ist nur zu haben um den Preis völliger Entäußerung. Die Krise kulminiert in einer ekstatischen Nacht, in der Christa Wolf nach ein paar Whisky das Klingeln des Telefons ignoriert ("Berlin" steht hier stets für familiäre Bindungen), Freuds Mantel zu sich sprechen hört und dann - singt: "alle Lieder, die ich kannte, und ich kenne viele Lieder mit vielen Strophen". Die nun folgende Aufzählung aller Volks-, Kinder-, Kampf- und Kirchenlieder ist der Höhepunkt des Buchs, eine Krisis als Wendepunkt und zugleich die im Unterbewussten abgelegte Summe eines ganzen Lebens.

"Stadt der Engel" folgt, und so kann man es leicht unterschätzen, einer psychoanalytischen Ästhetik: Gerade das Beiläufige, der Witz, der Versprecher, der Traum legen die verschüttete Wahrheit frei. Das Buch enthält auch eine nie ausgesprochene Liebesgeschichte. Der verkrachte Kollege Peter Gutman, der selbst unglücklich in eine Dritte verliebt zu sein behauptet, wird für die Erzählerin zu einem Seelenverwandten, dessen eigenes Scheitern - er verzweifelt über der Biographie eines Philosophen - die Selbstzweifel Christa Wolfs spiegelt und zugleich ins Existentielle aufhebt. Nebenbei ist dieses Umeinanderkreisen und intellektuelle Turteln auch ein leichtfüßiger Ausgleich für die Schwermut und drohende Resignation.

Gutman ist es auch, der das entscheidende Stichwort liefert, den Verweis auf Walter Benjamins Engel der Geschichte, der unaufhaltsam vorwärtsgetrieben wird, auf die Katastrophen der Menschheit zurückblicken muss und nichts heilen kann. (Ein anderes Benjamin-Zitat ist dem Buch als Motto vorangestellt.) Doch tritt neben diesen Geschichtspessimismus eine christliche Erlösungshoffnung. Bei einem touristischen Besuch in der "First African Methodist Episcopal Church" wird die Erzählerin mitgerissen und empfängt sogar die Kommunion. In der Predigt geht es um das Wunder der Sündenvergebung. Nach diesem Ereignis begleitet sie eine Schwarze namens Angelina, ein "Schutzengel" auf Schritt und Tritt, es gibt sogar eine gemeinsame Flugstunde, als wäre das Raumschiff Enterprise plötzlich in Malibu am Start.

Dieser Umschlag ins Phantastische kommt überraschend, doch ebenso plötzlich müsste auch nach Benjamin der Eintritt des Erlösers in die Geschichte sein. Ein merkwürdiges, ein bemerkenswertes Buch, eine Rettung.

Christa Wolf: "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud". Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 416 S., geb., 24,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.06.2010

Ich habe Margarete vergessen
In ihrem Roman „Stadt der Engel“ unterwirft Christa Wolf ihre literarische Phantasie der Kontrolle durch Politik und Moral
Am 29. Januar 1993 schrieb Christa Wolf in Santa Monica, wo sie für mehrere Monate Gast der Getty-Stiftung war, einen Brief an den Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Joachim Gauck. Es ging darin um „den Umgang Ihrer Behörde mit den ihr anvertrauten Materialien“, speziell mit der Stasi-Akte über die Anwerbung Christa Wolfs als „IM“ (Inoffizieller Mitarbeiter) im März 1959 und die konspirativen Treffen sowie die wenigen Berichte, die sie bis 1962 geliefert hatte. Diese Akte hatte sie selbst im Mai 1992 einsehen können, und sie hatte nun, von Kalifornien aus, der deutschen Öffentlichkeit über die Existenz dieser Akte in einem Artikel Auskunft gegeben, der am 21. Januar 1993 in der Berliner Zeitung erschienen war.
Wie aber, so fragte sie nun Gauck, waren die Medien in Deutschland pünktlich zum Erscheinen ihres Artikels an Kopien dieser Akte gekommen, die sie doch selbst vollständig nicht hatte einsehen dürfen, warum hatte er sie, die Betroffene, nicht darüber informiert, und warum hatte er die Journalisten nicht auf das erheblich umfangreichere Konvolut von Akten verwiesen, in denen nachzulesen war, wie sie selbst und ihr Mann jahrelang umfassend bespitzelt worden waren? Die Fragen ließen keinen Zweifel an dem Verdacht, dem sie Ausdruck gaben: „daß diese Handhabung der Aktenausgabe an die Presse stark dazu beigetragen hat, meinen Ruf zu vernichten.“
Joachim Gauck ließ diesen Brief lange unbeantwortet, ehe er Anfang April 1993 unter ausführlicher Zitierung der einschlägigen Paragraphen erläuterte, dass seine Behörde der Gesetzeslage entsprechend gehandelt habe. Sie müsse den Medien im Prozess der Aufarbeitung der Stasi-Tätigkeit Akteneinsicht gewähren, „selbst wenn das Niveau der Berichterstattung sehr unterschiedlich und oftmals auch einseitig und verzerrt ist“.
In diese Zeit, in der sie im Spiegel als „überaus angepaßte, ängstliche Opportunistin“ porträtiert wurde und ihre Autorenexistenz wie ihre politische Biographie zeitweilig hinter der Chiffre „IM“ zu verschwinden schien, kehrt Christa Wolf in ihrem neuen Buch „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ zurück. Sie unternimmt darin, was sie damals gegen Teile der Presseöffentlichkeit einklagte: die Einfügung ihrer schütteren, schmalen IM-Akte in den Gesamtzusammenhang ihres Lebens und Schreibens in der DDR.
Die Form aber, die sie dafür gewählt hat, gibt Rätsel auf. Sie nennt dieses Buch, dem doch offenkundig ihr Aufenthalt in Los Angeles von September 1992 bis Juli 1993 das erzählerische Gerüst setzt und der vor autobiographischem Stoff geradezu birst, einen Roman und gibt ihm überdies folgende Vorbemerkung mit auf den Weg: „Alle Figuren in diesem Buch, mit Ausnahme der namentlich angeführten historischen Persönlichkeiten, sind Erfindungen der Erzählerin. Keine ist identisch mit einer lebenden oder toten Person. Ebensowenig decken sich beschriebene Episoden mit tatsächlichen Vorgängen.“
Unmissverständlich ist die demonstrative Geste dieser Sätze. Sie besagt: Dieses Buch sucht die größtmögliche Distanz zur Form der Akte, es herrscht darin nicht die Norm des Dokumentarisch- Faktischen, sondern der lebendigen Erinnerung und erzählerischen Freiheit. Aber je weiter er in diesen vorgeblichen Roman hineingerät, desto unmöglicher wird es dem Leser, das Ich in seinem Zentrum nicht mit der Autorin Christa Wolf zu identifizieren. Denn dieses Ich beschwört, während es sich die Monate im äußersten Westen, in Los Angeles, in Erinnerung ruft, hier seine Kindheit in Landsberg an der Warthe herauf, berichtet dort vom 17. Juni 1953, und kommt wieder und wieder auf den Gang in die Gauck-Behörde zurück, wo es sich in 42 Ordnern der Jahre 1968 bis 1980 – die restlichen fehlen – als Objekt umfassender Observierung durch die Stasi begegnet und zugleich, schockhaft, selbst als zeitweilige Zuträgerin der Stasi aus der Vergessenheit auftaucht.
Die Gegenwart, in der dieses Ich schreibt, das Jahr 2009, in dem in Kalifornien die Wälder brennen, und in der weltweiten Finanzkrise, wie das Ich nicht ohne Genugtuung vermerkt, der Kapitalismus wieder Kapitalismus heißen darf, erhält kaum Konturen, außer dass sie als Zeit nach der Zäsur des 11. September erscheint. Diese Gegenwart ist kaum mehr als ein Echoraum für die Begegnung der drei Zeitschichten, die im Zentrum des Buches stehen: die Monate Anfang 1993, in der für die prominente Stipendiatin im Getty Center die Faxe mit Zeitungsartikeln über ihre Stasi-Akte eingehen, die Lebensjahre, die sie in der untergegangenen DDR verbracht hat, und die Jahre ihrer Kindheit und Jugend, des Nationalsozialismus und des Holocaust.
In dem Motto aus Walter Benjamins Essay „Ausgraben und Erinnern“, das Christa Wolf ihrem Buch vorangestellt hat, ist der Anspruch formuliert, den sie darin einzulösen versucht: „So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde.“
Als ein solcher Erinnerungsort erscheint hier Los Angeles, die Stadt der Engel. Sie kann dem vorgeblichen Roman seinen Titel geben, weil sie hier nur ganz am Rande auch Hollywood beherbergt. Sie ist hier die Stadt der Bedrohung durch das stets mögliche Erdbeben, der noch frischen Erinnerung an die Rassenunruhen und des Rodney-King-Prozesses und des Pazifik, an den das Ich sich flüchten kann, wenn aus dem Faxgerät wieder die Artikel aus Deutschland quellen.
Vor allem aber ist Los Angeles in diesem Buch der Ort der vom Nationalsozialismus vertriebenen deutschen Schriftsteller und Künstler, von Thomas und Heinrich Mann und Berthold Viertel, von Bertolt Brecht und Lion Feuchtwanger. Dieser dichten Topographie des Exils geht das Ich nach, es erkundet sie im Gespräch mit den Mitstipendiaten im Getty Center, und es begegnet auf den Partys im Umkreis den Nachfahren der Vertriebenen und Entkommenen. Es ist unerheblich, ob die Eingangsanekdote des Buches, in der das Ich mit einem noch nicht abgelaufenen DDR-Pass, dem der ausstellende Staat abhanden gekommen ist, in die USA einreisen will, erfunden ist oder erlebt. Denn sie erhellt das ganz und gar nicht fiktive Grundanliegen in diesem Buch der autobiographischen Reflexion: die Geschichte der DDR-Bürgerin, der DDR-Befürworterin und auch des „IM“ Christa Wolf aus der Perspektive des Nationalsozialismus und seiner Opfer ins Auge zu fassen.
Aus dieser Perspektive stechen zwei Grundmotive hervor: die Überlagerung von Antifaschismus, Exilerfahrung und Stalinismus in der noch jungen DDR, und das Zusammenfallen der inneren Konsolidierung und Verhärtung dieser jungen DDR mit dem Erwachsenwerden der 1929 geborenen Autorin Christa Wolf. Hier, so spürt man rasch, liegt der Schlüssel für ihren Hang, nicht nur dem „kleinen Land“, das 1990 unterging, innerlich die Treue zu halten, sondern auch die Staatsangehörigkeit nicht abzulegen, obwohl doch dieser Staat mit dem in der Gauck-Behörde dokumentierten Monstrum verschmolzen war: in der nicht auflösbaren Verknüpfung der eigenen politischen Biographie mit den in Krieg und Exil verhärteten deutschen Kommunisten.
Das Forschungsprojekt – ob erfunden oder nicht, ist auch hier unerheblich –, um dessentwillen das Ich mit dem DDR-Pass nach Los Angeles einreist, ist aus dieser Konstellation hervorgegangen: „L.“ ausfindig zu machen, die im kalifornischen Exil gelandete Briefpartnerin einer verstorbenen Freundin, einer, schon in der Weimarer Republik aktiven, in der DDR zunehmend desillusionierten Alt-Kommunistin. Um sie kreisen die Gespräche mit einem Mitstipendiaten, einem Engländer und Emigrantenkind, der sein Buch über einen unverkennbar mit den Zügen Walter Benjamins ausgestatteten Philosophen nie zu Ende bringen wird.
Wie kam ich dazu, wenn auch nur sporadisch, mit der Stasi zusammenzuarbeiten? Und wie konnte ich das vergessen? Auf den Trichter dieser Fragen laufen alle historisch-politischen Reflexionen in diesem Buch zu. Sie sind in das Wechselspiel von erinnerndem Ich und dem zum „Du“ gewordenen ehemaligen Ich gefasst. Wie stets bei Christa Wolf ist dabei der Begriff „Diktatur“ für den Nationalsozialismus reserviert. Aber auch wenn Christa Wolf es erst kürzlich wieder in einem Interview abgelehnt hat, die DDR als „Unrechtsstaat“ oder „Diktatur“ zu bezeichnen, so war ja dieser Staat selber weniger zimperlich und begriff sich selbst ausdrücklich als „Diktatur des Proletariats“.
Es ist wohl kaum ein Zufall, dass dieser Begriff in der „Stadt der Engel“ an entscheidender Stelle auftaucht, dort nämlich, wo das Ich seine eigene Antwort auf die Frage gibt, warum es sich mit „denen“ eingelassen habe: „Weil ich sie noch nicht als ,die‘ gesehen habe, glaube ich.“ Und dann folgt ein Satz, dessen Härte in atemberaubendem Kontrast zum Humanismus und moralischen Rigorismus steht, mit dem das Ich ansonsten die Welt betrachtet: „Revolutionäre Maßnahmen können für die von ihnen Betroffenen hart sein, die Jakobiner waren nicht zimperlich, die Bolschewiki auch nicht. Wir hätten ja gar nicht bestritten, daß wir in einer Diktatur lebten, der Diktatur des Proletariats. Eine Übergangszeit, eine Inkubationszeit für den neuen Menschen, versteht ihr?“
Dies ist der vorgeschobenste Posten der historisch-politischen Selbstreflexion des Ich: es konnte die „IM“-Episode vergessen, weil sein Vorläufer-Ich die Differenz von „Ich“ und „die“ noch nicht kannte, weil es keine Hemmschwellen zu überschreiten, keine Gewissenskämpfe auszufechten hatte, ehe es sich dem Wohlfahrtsausschuss zur Verfügung stellte. Die Laufbahn der Autorin Christa Wolf, das ist die Kehrseite dieser beklemmenden Einsicht, begann erst mit dem Zerfall dieser Einheit, mit dem Unbehagen an dem Staat, der mit gutem gewissen Diktatur war.
War es, um zu dieser Einsicht vorzudringen, notwendig, die autobiographische Reflexion der Form des Romans zu überantworten und sie dadurch gewissermaßen in Anführungsstriche zu setzen? Wohl kaum. Aber so stark war diese Sehnsucht nach dem Roman, dass sie dem Buch zum Titel „Stadt der Engel“ noch einen nicht minder literarischen, zudem englisch formulierten Untertitel bescherte: „The Overcoat of Dr. Freud“. Diesen Mantel Sigmund Freuds, der aus dem Nachlass des in Los Angeles gelandeten, in Wien geborenen Architekten Richard Neutra stammen soll, gibt es nicht. Er ist seinem Nachbesitzer abhanden gekommen, dafür aber zu einer Schlüsselmetapher in Christa Wolfs Buch geworden. Er taucht immer dann verlässlich auf, wenn das erzählende Ich des Trostes bedarf. Er ist, was immer sein Unterfutter an schmerzhaften Geheimnissen enthalten mag, ein Schutzmantel des Ich. Er ist das Gegenbild zur Akte, verkörpert die Utopie der befreienden Erinnerung. Aber eines ist er gewiss nicht: ein Mantel, der denjenigen, der sich in ihn einhüllt, mit dem Geist der Psychoanalyse imprägniert. Denn so viele und bisweilen wirklich rätselhafte Träume das Ich in der Stadt der Engel auch produziert, fast immer steuert es rasch auf die politische oder auf die moralische Entschlüsselung. Und so unübersehbar es den preußischen Protestantismus und die Angst vor dem Verlust der Mutterliebe als Urerfahrung der Kindheit andeutet, so wenig geht es dieser Spur nach.
Es gibt dafür einen Grund: die Kontrolle des in diesem Buch dokumentierten Erinnerungsprojektes durch die Koordinatensysteme der Moral und Politik, in die sie eingetragen werden. Sie hat, um es pointiert zu formulieren, den Roman nicht entstehen lassen, als den Christa Wolf dieses Buch dem Publikum überantwortet hat. Denn dieser Roman hätte auf jene Figur nicht verzichten dürfen, die im Deutsch der Stasi-Akten so ihren ersten Auftritt hat: „In der Diskussion zu dem Prinzip der Konspiration wurde über die Notwendigkeit eines Decknamens gesprochen und ausführlich erläutert. Sie wählte sich selbst auf kurze Hinweise unsererseits den Decknamen ,Margarete‘.“
Unter dem Titel „Die ängstliche Margarete“ erschien am 25. Januar 1993 der Spiegel -Artikel, der Christa Wolf so in Rage brachte, dass sie schon am Tag darauf Joachim Gauck telefonisch die Fragen stellte, die sie ihm drei Tage später in schriftlicher Fassung zukommen ließ. Dass nun in der „Stadt der Engel“ Margarete keine Rolle spielt, ist nicht aus historisch-politischen Gründen enttäuschend. Sondern aus literarischen. „Wir sind aus solchem Stoff, wie Akten sind“, hat Volker Braun, Shakespeare variierend, im Februar 1993 in einem Trostbrief an Christa Wolf geschrieben. Wenn in Christa Wolfs „IM“-Aktenstoff ein Traumstoff enthalten war, den sich die literarische Phantasie nicht hätte entgehen lassen dürfen, dann hier, in diesem Namen Margarete, der nicht nur der zweite Vorname Christa Wolfs ist, sondern zugleich der vielleicht prominenteste Frauenname der deutschen Literatur. War er wirklich selbstgewählt, und was daran war zugeflüstert?
Man würde in „Stadt der Engel“ gern auf manche Seiten über die Besuche bei den (guten) Hopi-Indianern, auf dem (dekadenten) Anwesen des William Randolph Hearst, die beglückende Teilnahme an einem schwarzen (guten) Gottesdienst oder den Blick in die (böse) Spielhölle Las Vegas verzichten, wäre dadurch Raum gewonnen für die Verwandlung dieser aus den Akten aufsteigenden Margarete in eine Romanfigur. Eine Margarete, die sich in Freuds Overcoat und das Prinzip der hemmungslosen Assoziation hüllen würde wie Faust und Mephisto in den Mantel, der sie durch die Lüfte trägt, eine Margarete, die sich nicht zu schade dafür wäre, aus dem Lieblingscocktail „Margarita“ aufzutauchen, den in diesem vorgeblichen Roman die Ich-Erzählerin in ihrem Appartement MS. Victoria zu sich nimmt, während sie ihrem Laster, im Fernsehen „Star Trek“ zu schauen, folgt. Eine Margarete, die als Expertin für das Verführtwerden auftritt und dabei – wie Mephisto den Zettel mit der Wette – die Verpflichtungserklärung zückt, die Christa Wolf nicht unterschrieben hat, eine Margarete, aus dem Geist Bulgakows, die es mit Hollywood und dem Spiegel zugleich aufnehmen könnte. Dass sich das erzählende Ich stattdessen die schwarze Raumpflegerin „Angelina“ als (politisch korrekten) schwarzen Schutzengel ihrer Tagträume erwählt, ist dafür durchaus kein Ersatz.
Dem politisch-moralischen Räsonnement in diesem Buch mag man, auch wenn es vor der Verklammerung von Antifaschismus und „Diktatur des Proletariats“ haltmacht, seinen Respekt nicht versagen. Und in der Schilderung der Pazifik-Erfahrung der hartnäckigen DDR- Bürgerin gibt es eindringliche Szenen. Den Margarete-Roman aber, der sich im Schutzmantel des Doktor Freud verbirgt, hat sich Christa Wolf entgehen lassen. Darin ist „Stadt der Engel“ eine literarische Enttäuschung.
LOTHAR MÜLLER
CHRISTA WOLF: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 416 Seiten, 24,80 Euro.
Die Konsolidierung der DDR
fällt mit dem Erwachsenwerden
der Autorin zusammen
„Revolutionäre Maßnahmen
können für die von ihnen
Betroffenen hart sein . . . “ 
Eine Frau, die es mit Hollywood
und dem Spiegel zugleich
aufnehmen könnte . . .
In Los Angeles, etwas entfernt von Hollywood, findet Christa Wolf den Freiraum für autobiographische Reflexion: ihrer Kindheit und Jugend, des Nationalsozialismus und des Holocaust, der Lebensjahre als Befürwortern und als Kritikerin der DDR. Foto: Privatbesitz Christa Wolf / Suhrkamp Verlag
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