Der ungarische Dichter István Kemény zieht in diesem Gedichtband Bilanz und verschränkt dabei die Situation des individuellen Älterwerdens mit der in seinem Heimatland. In der Lebensmitte angekommen, hält er sich den Spiegel vor und fixiert schonungslos, was er darin wie in einer Kristallkugel sieht: Enttäuschte Menschen, die die Zukunftsträume von einst, da der Eiserne Vorhang fiel, längst begraben haben. Ein Land, "bösartig, verblendet, stur und altbacken", verloren zwischen Lüge, Vergessen und dem Alb der Vergangenheit. Erschütterte Gewissheiten, Figuren aus dem Arsenal der ungarischen Geschichte, zugelaufene Totemtiere, Gespenster, eigene wie fremde. Und einen Mann, der um die diffizile Dialektik weiß, die ihn an die schwierige Heimat bindet. István Kemény hat die poetische Summe seines bisherigen Lebens gezogen - und mit seinem ganz spezifischen lakonischen, subversiven Witz einen Gegenzauber gegen den Kleinmut gefunden.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.11.2015KURZKRITIK
Nervöse Minute
Gedankenlyrik des ungarischen
Dichters István Kemény
Einmal ein offenes Fenster sein. Für den ungarischen Dichter István Kemény gibt es keinen größeren Traum. Sich im Durchzug bewegen, den Aufprall vor sich haben – bis die Sonne aufwacht und durch die Wolken des Sturms ihren Strahl schickt: „dass sie mich die schattige Wand streicheln ließe, / bevor ich in tausend Stücke zersplitterte.“ Feste Zuordnungen sind dem 1961 geborenen István Kemény von jeher verdächtig, in seinen Versen liebt er es, im Ungewissen zu streunen, hier auf ein Zauberwort zu warten, dort ein „Zeichen zu setzen, / mit Pisse oder / mit Phantasie“. Kemény ist ein Dichter des Gedankens, noch dem unscheinbarsten Vers ist eine Reflexionsbewegung eingeschrieben, die Sprechweisen gegeneinander stellt, Bedeutungen verschiebt oder Sätze in ihr Gegenteil überführt. Diese Technik nutzt Kemény auch, um die Geschichte und die politische Situation in Ungarn zu reflektieren. Ohne je in platte Aussagen zu verfallen, zeigt er die Verschattungen des Denkens und der Biografien und legt ein „interessantes Paradox“ nach dem anderen frei.
Nicht alle Verse allerdings haben diesen interessanten Zug. Vielleicht muss man aus der „Midlife-Crisis“ nicht gleich ein Gedicht machen. Auch verlieren die vielen Diminutive, die Kemény verwendet, irgendwann ihre ironische Kraft. Denn sie verkleinern nicht nur die Dinge, sie vergrößern auch den Sprecher – nicht immer zu dessen Vorteil. Am stärksten ist István Kemény dort, wenn er sich der Imagination anvertraut: „Vor dir liegt die Minute, / die eine Minute vor dem Wunder. / Schau, sie reicht von hier bis zum Wunder / und vom Wunder zurück genau bis hierhin!“ Dank den beiden Übersetzerinnen kann man dieser nervösen Minute nun auch im Deutschen nachspüren.
NICO BLEUTGE
István Kemény: ein guter traum mit tieren. Aus dem Ungarischen und mit einem Nachwort von Orsolya Kalász und Monika Rinck. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2015. 144 Seiten, 19,90 Euro.
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Nervöse Minute
Gedankenlyrik des ungarischen
Dichters István Kemény
Einmal ein offenes Fenster sein. Für den ungarischen Dichter István Kemény gibt es keinen größeren Traum. Sich im Durchzug bewegen, den Aufprall vor sich haben – bis die Sonne aufwacht und durch die Wolken des Sturms ihren Strahl schickt: „dass sie mich die schattige Wand streicheln ließe, / bevor ich in tausend Stücke zersplitterte.“ Feste Zuordnungen sind dem 1961 geborenen István Kemény von jeher verdächtig, in seinen Versen liebt er es, im Ungewissen zu streunen, hier auf ein Zauberwort zu warten, dort ein „Zeichen zu setzen, / mit Pisse oder / mit Phantasie“. Kemény ist ein Dichter des Gedankens, noch dem unscheinbarsten Vers ist eine Reflexionsbewegung eingeschrieben, die Sprechweisen gegeneinander stellt, Bedeutungen verschiebt oder Sätze in ihr Gegenteil überführt. Diese Technik nutzt Kemény auch, um die Geschichte und die politische Situation in Ungarn zu reflektieren. Ohne je in platte Aussagen zu verfallen, zeigt er die Verschattungen des Denkens und der Biografien und legt ein „interessantes Paradox“ nach dem anderen frei.
Nicht alle Verse allerdings haben diesen interessanten Zug. Vielleicht muss man aus der „Midlife-Crisis“ nicht gleich ein Gedicht machen. Auch verlieren die vielen Diminutive, die Kemény verwendet, irgendwann ihre ironische Kraft. Denn sie verkleinern nicht nur die Dinge, sie vergrößern auch den Sprecher – nicht immer zu dessen Vorteil. Am stärksten ist István Kemény dort, wenn er sich der Imagination anvertraut: „Vor dir liegt die Minute, / die eine Minute vor dem Wunder. / Schau, sie reicht von hier bis zum Wunder / und vom Wunder zurück genau bis hierhin!“ Dank den beiden Übersetzerinnen kann man dieser nervösen Minute nun auch im Deutschen nachspüren.
NICO BLEUTGE
István Kemény: ein guter traum mit tieren. Aus dem Ungarischen und mit einem Nachwort von Orsolya Kalász und Monika Rinck. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2015. 144 Seiten, 19,90 Euro.
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