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"Aramis ist eine automatische Metro, die fast im Süden von Paris gebaut worden wäre. Ich habe daraus den Helden eines Dossiers in Szientifiktion gemacht. Alle Abenteuer dieses nicht-menschlichen Helden werden wahrheitsgetreu berichtet. Aber sie erscheinen nie wahrscheinlich, weil wir es nicht gewohnt sind, die Liebe und den Hass einer Spitzentechnologie im Detail zu erforschen. Zum ersten Mal, glaube ich, entfaltet sich vor unseren Augen die Geschichte einer soziologischen Untersuchung und die Liebesgeschichte einer Maschine. Zum ersten Mal sprechen auch die Ingenieure direkt, und ihre Stimmen…mehr

Produktbeschreibung
"Aramis ist eine automatische Metro, die fast im Süden von Paris gebaut worden wäre. Ich habe daraus den Helden eines Dossiers in Szientifiktion gemacht. Alle Abenteuer dieses nicht-menschlichen Helden werden wahrheitsgetreu berichtet. Aber sie erscheinen nie wahrscheinlich, weil wir es nicht gewohnt sind, die Liebe und den Hass einer Spitzentechnologie im Detail zu erforschen. Zum ersten Mal, glaube ich, entfaltet sich vor unseren Augen die Geschichte einer soziologischen Untersuchung und die Liebesgeschichte einer Maschine. Zum ersten Mal sprechen auch die Ingenieure direkt, und ihre Stimmen wie ihre Dokumente gleichen kaum dem furchterregenden Mythos von der seelenlosen Technik." Basierend auf zahlreichen Interviews, technischen Berichten und Dokumentationen spürt Bruno Latour dem gescheiterten Großprojekt eines modularen Nahverkehrssystems nach. Latour analysiert dieses Scheitern in Form eines literarisch anspruchsvollen Hybrids aus Kriminalroman und Wissenschafts- bzw. Technikforschung. Die verschiedenen Akteure dieser Geschichte eines hochkomplexen Mensch-Ding-Systems - Menschen, Schaltpläne, Motoren, Prototypen, Schienensysteme etc. - kommen dabei in einer Weise gleichberechtigt zu Wort, die für das Verständnis der Akteur-Netzwerk-Analyse von exemplarischem Wert ist. Die Schriftenreihe Historische Wissensforschung eröffnet mit der ersten deutschen Übersetzung dieses Klassikers ihre Rubrik "Unter dem Radar", in deren Rahmen vergessene oder schwer zugängliche Arbeiten der Wissenssoziologie und -geschichte vorgelegt und historisch kontextualisiert werden.
Autorenporträt
Geboren 1947; Studium der Philosophie und Anthropologie; 1982-2006 Professor am Centre de l'Innovation an der Ecole nationale superieure de mine in Paris; Gastprofessuren an der University of California San Diego, der London School of Economics und am historischen Seminar der Harvard University; seit 2007 Professor am Sciences Politiques Paris und dem Centre de Sociologie des Organisations (CSO).

Studium der Psychologie, Philosophie und Linguistik; 1996 Promotion in Psychologie, 2011 Habilitation für Medienwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte; Gastprofessuren an der Harvard University und der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris; seit 2014 Professor für die Theorie medialer Welten an der Bauhaus Universität Weimar.

Studium der Philosophie, Soziologie und Psychologie; 2014 Promotion; freier Übersetzer (u.a. von Paul Virilio, Gilles Deleuze, Andrew Pickering) sowie Publizist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.2018

Kabinen reisen übers Land

Der französische Transrapid: Bruno Latours Studie über das Scheitern eines verkehrspolitischen Großprojekts.

Zu den unvergesslichen Momenten in der Geschichte des Transrapid gehört Edmund Stoibers Rede vor dem Bayerischen Landtag, in der er den Bau einer Transrapid-Bahn zwischen dem Münchner Hauptbahnhof und dem Flughafen im Erdinger Moos in technopoetischer Verklärung besang: zehn Minuten, so lautete der Refrain, sollte es dauern, die der Passagier vom Einchecken im Münchener Hauptbahnhof bis zu seinem Abfluggate benötigte. Mehr Kundenfreundlichkeit ging nicht.

Doch es half alles nichts. Der bayerische Transrapid landete ebenso auf dem Friedhof gescheiterter technischer Großprojekte wie die anderen Transrapid-Vorhaben in Deutschland. Der Transrapid war eine verkehrsplanerische Idee der sechziger Jahre, die aus der Einsicht erwuchs, dass der öffentliche Verkehr gegenüber dem krebsartig wuchernden Autoverkehr gestärkt werden müsse. Als einige Jahre später die Ölkrise hinzukam, wurde die Transrapid-Idee fast zwingend.

Während man in Westdeutschland auf Hochgeschwindigkeitszüge setzte, die die Fahrzeit zwischen zwei Orten maximal verkürzen sollten, ging es in Frankreich um eine Revolution des Nahverkehrssystems. Es sollte ein modulares Transrapid-System entwickelt werden, das sich vom Zentrum einer Stadt aus rhizomartig ins Umland verzweigte. Man stellte sich einen aus einzelnen Kabinen zusammengesetzten Zug vor, der an einem zentralen Ort losfuhr. Je nach Zielwunsch der Fahrgäste sollten sich während der Fahrt in die Peripherie einzelne Kabinen vom Ganzen ablösen, so dass an einem Ort vielleicht nur noch ein kleiner Kabinenwagen mit zwei Passagieren ankam. Auf dem Rückweg in die Stadt verband sich die Kabine nach und nach wieder mit anderen zu einem Zug. Aramis hieß das Projekt, was nicht nur der schöne Name eines der drei Musketiere ist, sondern auch die Abkürzung für Agencement en Rames Automatisées de Modules Indépendants en Stations.

Dem französischen Projekt war ebenso wenig Glück beschieden wie dem deutschen. Nach Jahren der Planungen und Vorarbeiten, Investitionen von Hunderten Millionen Francs, Willensbekundungen und Verzögerungen sowie einer geplanten und wieder abgesagten Pariser Weltausstellung für 1989 wurde Aramis im Herbst 1987 still beerdigt. Man muss nicht umständlich begründen, warum es von Interesse ist, die Ursachen für das Scheitern eines solchen Großprojekts zu verstehen: Zu gravierend sind die Erfahrungen mit Projekten - Stichwort: Flughafen BER -, die in finanzieller und organisatorischer Hinsicht völlig aus dem Ruder laufen.

Wie soll man die Geschichte des Scheiterns eines solchen technologischen Großprojekts schreiben? Diese Frage hat Bruno Latour mit seinem vielleicht ungewöhnlichsten Buch, das nun mit fünfundzwanzig Jahren Verspätung auf Deutsch erschienen ist, zu beantworten versucht. "Aramis oder Die Liebe zur Technik" ist eine romanartige Collage, in der Dokumente und theoretische Reflexion, Auszüge aus Interviews mit den beteiligten Akteuren und fiktive Gespräche zwischen dem soziologischen Leiter der Studie und seinem Assistenten, welcher der Erzähler dieser Geschichte ist, zusammengenäht werden. Die Entscheidung für ein solches unwissenschaftliches Genre ist kein Spleen, sondern folgt der epistemologischen Not, die Komplexität der Geschichte in den Griff zu bekommen.

Für die Wissenschaftsforschung ist es ebenso interessant, gescheiterte Projekte zu untersuchen wie erfolgreiche. Das Hauptproblem ist dabei, dass häufig Erklärungsmuster am Werk sind, bei denen die Antwort schon vor der Untersuchung feststeht. Erfolg: Eine geniale Idee wird durch Mut, Visionen, Tatkraft und organisatorisches Zusammenfügen vieler Komponenten realisiert. Misserfolg: Die Idee ist vornherein zum Scheitern verurteilt und kann trotz aller Anstrengungen gar nicht zum gewünschten Ziel führen.

Gegen diese teleologische Sichtweise wendet Latour ein, dass Erfolg oder Misserfolg keinem technologischen Projekt von Anfang an eingeschrieben sind. Vielmehr geht es für die Wissenschaftsforschung in beiden Fällen stets darum, Schritt für Schritt zu zeigen, wie bestimmte Theorien, Ideen, Pläne und Perspektiven sich zu konkreten Objekten entwickeln oder eben auch nicht.

Aramis war für Latour in den späten achtziger Jahren der willkommene Anlass, um aus seinem theoretischen Baukasten die berühmte Actor-Network Theory (ANT) zu fabrizieren, die von der Überlegung ausgeht, dass jedes Netzwerk aus unterschiedlichen menschlichen und nichtmenschlichen, technischen und sozialen Akteuren besteht. Tatsächlich lassen sich aus dieser Perspektive eine Reihe von einseitigen Erklärungen ausschalten. Die politischen Veränderungen in Frankreich zwischen 1969 und 1987 waren natürlich bedeutend, aber nicht entscheidend für das Ende von Aramis. Die ökonomische Situation war immer wieder prekär, aber alle Wirtschaftsberichte, bis auf den letzten, waren positiv.

Die technischen Probleme waren enorm, insbesondere im Hinblick auf die sogenannte immaterielle Kopplung beziehungsweise den variablen Abstand zwischen den einzelnen Kabinen, aber laut Aussagen der Ingenieure waren die Probleme nicht unüberwindlich. Das für den Bau des Aramis verantwortliche Unternehmen Matra legte seine Priorität auf sein anderes technologisches Großprojekt VAL (Véhicule automatique léger), das international ein großer Erfolg wurde, hätte aber am Aramis festgehalten, wenn das staatliche Verkehrsunternehmen RATP flexibler gewesen wäre. Dieses wiederum warf Matra vor, irgendwann kein Interesse mehr an dem Projekt gehabt zu haben.

Latour kann also mit großer Souveränität zeigen, dass nicht ein einziger Akteur für das Scheitern von Aramis verantwortlich zu machen ist. Die Frage ist nur, ob er mit all seinen Bällen, die er virtuos im Spiel hält, eine stärkere Antwort anzubieten hat. Der metaphysische Kniff, den Latour in seinen Texten von "Aramis" bis zu den jüngsten Anthropozän-Studien anwendet, besteht ja darin, dass er die ihn interessierenden Untersuchungsgegenstände - sei es ein wissenschaftliches oder technologisches System oder gleich die ganze Erde - als ein anthropomorphes Lebewesen ansieht, das seine eigenen, bisweilen einander widersprechenden Interessen hat und sich seine eigenen Kontexte schafft.

Diese Sichtweise ist ziemlich hilfreich, um allzu triviale und einseitige Erklärungen zu vermeiden, aber Latour macht zumindest in diesem Buch auch keinen Hehl daraus, dass er selbst bisweilen den Überblick angesichts der Komplexität zahlloser Netzwerkverästelungen verliert. Am Ende gibt es einundzwanzig Gründe für das Scheitern von Aramis. Deswegen das Spiel mit fiktionalen Elementen und bisweilen etwas mutwilligen erzählerischen Einwürfen, die sich an Mary Shelleys "Frankenstein" und Samuel Butlers "Erewhon" abarbeiten.

Vielleicht gegen die Intention von Latours Netzwerktheorie schälen sich bei der Lektüre dieses wegen seines Ideenreichtums sehr lesenswerten Buches dann aber doch einige Faktoren heraus, die das Schicksal von Aramis bestimmten. Zwar schien das Projekt in jeder technischen Einzelheit machbar zu sein, aber es gab keine strategische Leitvorstellung darüber, wie ein derart variables Beförderungssystem, das aus mindestens sechshundert Einzelkabinen bestehen sollte, funktionieren konnte. Und dazu fehlten sicherlich nicht nur die entsprechenden Rechnerkapazitäten.

Ein weiterer Punkt war die Latour nur wenig interessierende mangelnde Kundenorientierung, denn abgesehen von den engen Kabinen, in die sich vier Menschen zwängen sollten, stand immer wieder die beunruhigende Frage im Raum, was alles passieren könnte, wenn zwei einander völlig fremde Menschen allein in einer kleinen Kabine in eine verlassene Vorstadtgegend kutschiert werden. Und schließlich widersprach niemand der Einschätzung, dass das System störanfällig und unrentabel war.

Die abschließende Erklärung Latours, dass Aramis nicht gescheitert wäre, wenn die beteiligten Akteure es als ein Forschungsprojekt betrachtet hätten, ist auf romantische Weise sympathisch, kann aber schon deshalb nicht überzeugen, weil Forschungsprojekte ebenso scheitern können wie technische. Dafür entschädigt das Ende des Buches mit einer wunderbaren Pointe: Der junge Assistent, der Erzähler, der uns durch den verwirrenden Parcours des Aramis-Labyrinths geleitet hat, verlässt seinen Professor, um in einem Softwareunternehmen an einem intelligenten Auto zu arbeiten. Wenn nicht alles täuscht, ist die individuelle automatische Fahrgastbeförderung von Haustür zu Haustür von der Schiene auf die Straße zurückgekehrt, oder: Aramis wurde vom Kopf auf die Füße gestellt.

MICHAEL HAGNER

Bruno Latour: "Aramis oder Die Liebe zur Technik".

Mit neuem Vorwort des Autors und einem Nachwort von Henning Schmidgen. Aus dem Französischen von Gustav Roßler. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2018. 319 S., geb., 59,- [Euro].

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