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Die spezifischen Bedingungen religiös-weltanschaulicher Pluralität zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellen die Strafrechtswissenschaft vor neue Herausforderungen. In seiner grundlagenorientierten Neubestimmung des Verhältnisses von Strafrecht und Religion entwickelt Bijan Fateh-Moghadam die religiös-weltanschauliche Neutralität als einen Grundlagenbegriff des Strafrechts. Im Wege einer am Neutralitätsgrundsatz ausgerichteten Rekonstruktion der Diskussionen über den materiellen Verbrechensbegriff, den Zweck der Strafe und die Anerkennung von religiösen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen…mehr

Produktbeschreibung
Die spezifischen Bedingungen religiös-weltanschaulicher Pluralität zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellen die Strafrechtswissenschaft vor neue Herausforderungen. In seiner grundlagenorientierten Neubestimmung des Verhältnisses von Strafrecht und Religion entwickelt Bijan Fateh-Moghadam die religiös-weltanschauliche Neutralität als einen Grundlagenbegriff des Strafrechts. Im Wege einer am Neutralitätsgrundsatz ausgerichteten Rekonstruktion der Diskussionen über den materiellen Verbrechensbegriff, den Zweck der Strafe und die Anerkennung von religiösen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen werden dabei die Konturen eines allgemeinen Teils des Religionsstrafrechts sichtbar. Darauf aufbauend kann das Strafrecht konkrete Folgeprobleme religiöser Pluralisierung wie die strafrechtliche Bewertung der Knabenbeschneidung, die Legitimität von "Burka-Verboten" oder die Reichweite von Geistlichenprivilegien im Strafverfahren theoretisch kontrolliert lösen, ohne sich selbst religiös-weltanschaulich zu positionieren.
Autorenporträt
Geboren 1970; Studium der Rechtswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München; 2007 Promotion in München; ab 2009 Akademischer Rat a.Z. im Exzellenzcluster "Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne" der Universität Münster; 2015 Habilitation in Münster; seit 2016 Professor für Grundlagen des Rechts und Life Sciences-Recht an der Universität Basel.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2020

Über Lebensformen ist nicht zu urteilen
Der Basler Strafrechtler Bijan Fateh-Moghadam sondiert Grundsätze des juristischen Umgangs mit religiöser Pluralität

Selten wurde in Deutschland so heftig über Religion diskutiert wie heutzutage. Der Gesprächston hat sich allerdings merklich verändert. Die religiös-weltanschauliche Pluralisierung sowie die Entfremdung eines wachsenden Teils der deutschen Bevölkerung von jeglicher gelebten Religiosität führt dazu, dass Religion kaum mehr als Medium sozialer Integration, sondern hauptsächlich als Störfaktor mit erheblichem Konfliktpotential wahrgenommen wird. Die historisch gewachsenen Verflechtungen zwischen dem Staat und den christlichen Kirchen, von der Kirchensteuer bis zu den Kreuzen in Schul- und Gerichtsräumen, geraten infolgedessen zunehmend unter Druck.

Noch weitaus größeren Sprengstoff birgt allerdings der Umgang mit dem Islam, von der Knabenbeschneidung über Kopftuch und Burka bis zu den sogenannten Ehrenmorden. Das französische Beispiel lehrt, dass eine radikal laizistische Position, die auf die Verdrängung der Religion aus der Öffentlichkeit abzielt, keine taugliche Lösungsstrategie darstellt, weil sie das religionsimmanente Gewaltpotential lediglich in den Bereich der Polizeiberichte und Kriminalstatistiken verschiebt, statt es als ein genuin politisches Problem ernst zu nehmen. Aber auch eine ostentative Bevorzugung der christlichen Religion, wie sie zuletzt in Gestalt des bayerischen Kreuzerlasses praktiziert wurde, wirkt eher wie ein Akt trotziger Wirklichkeitsleugnung, aber nicht als ein durchdachtes Identifikationsangebot des Staates an seine Bürger.

Wie soll der Staat stattdessen mit dem Faktum des religiösen Pluralismus umgehen? Der Vorschlag, den der Baseler Strafrechtswissenschaftler Bijan Fateh-Moghadam unterbreitet, hat seine Wurzeln im politischen Liberalismus und seine wichtigsten philosophischen Gewährsmänner in John Rawls und Jürgen Habermas. Im Zentrum dieses Vorschlags steht der Begriff der Begründungsneutralität. Danach dürfen die Bürger zwar ihre private Lebensführung an beliebigen ethischen oder religiösen Überzeugungen ausrichten. Normen, die mit gesellschaftsweiter Verbindlichkeit ausgestattet werden sollen, also insbesondere Rechtsbestimmungen, müssten hingegen unabhängig von derartigen Überzeugungen begründet werden. Legitim seien sie nur, wenn sie sich auch in einer säkularen Sprache rechtfertigen ließen, die allen Bürgern gleichermaßen zugänglich sei.

Der bekannteste Einwand gegen diese Konzeption lautet, dass sie ethisch keineswegs so neutral sei, wie sie sich gebe, sondern in ihrem antiseptischen Formalismus das Lebensgefühl einer kleinen gesellschaftlichen Elite, jener "Anywheres", die sich überall und nirgends zu Hause fühlten und keinen Sinn für gewachsene Zugehörigkeiten hätten, zum Maß aller Dinge erkläre. Fateh-Moghadam kennt dieses Bedenken, nimmt es aber nicht sonderlich ernst, denn es genügt ihm, dass er die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf seiner Seite sieht. Für die Bereitwilligkeit, mit der er an die Stelle einer sorgfältigen Analyse der Voraussetzungen und Grenzen seiner eigenen Position einen methodisch vergleichsweise schlichten Verfassungsgerichtspositivismus setzt, zahlt Fateh-Moghadam allerdings einen beträchtlichen Preis. Eingemauert in seine dogmatische Formelwelt, legt er an einer Reihe von Punkten ein erstaunlich geringes Maß an Sensibilität gegenüber den von ihm untersuchten Phänomenen an den Tag.

So glaubt er den zugunsten eines Burkaverbots im öffentlichen Raum ins Feld geführten Hinweis, dass es mit der Autonomie der vollverschleiert auftretenden Frauen häufig nicht weit her sei, mit dem rechtspolitischen Standardargument entkräften zu können, darin liege ein unzulässiger Paternalismus. Natürlich kann man mit Fug und Recht die Frage aufwerfen, ob es der Autonomie der betroffenen Frauen wirklich dient, wenn sie infolge eines Verschleierungsverbots ihre Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen können. Die Selbstbestimmtheit ihres Verhaltens aus lauter Neutralitätsbestreben aber einfach zu dekretieren heißt, ihre schwierige Situation mit einem überschießenden juristischen Abstraktionsdenken zu übergehen. Angesichts einer Vielzahl einschlägiger Fallschilderungen hat diese Strategie geradezu etwas Zynisches.

Auch in der Frage der Zulässigkeit einer Knabenbeschneidung aus religiösen Gründen argumentiert Fateh-Moghadam losgelöst vom sozialen und kulturellen Kontext. Ihm genügt es, dass die Zustimmung zu einem solchen Eingriff aufgrund der mit ihm verbundenen Hygiene- und Präventionsvorteile jedenfalls keinen evidenten Missbrauch des elterlichen Sorgerechts darstellt. Die religiösen Motive der Eltern will er hingegen bei der rechtlichen Beurteilung gänzlich außer Acht lassen; eben darin äußere sich die "Lebensformneutralität" eines wahrhaft liberalen Rechtsverständnisses.

Aber lässt sich eine solche Position wirklich durchhalten? Man stelle sich eine Gruppe rechtsradikaler Esoteriker vor, die ihre Kinder beschneiden lassen, um sie frühzeitig an das Ertragen von Schmerzen zu gewöhnen oder um ihrem Gott das von ihm geforderte Opfer darzubringen. Wäre es für Fateh-Moghadam sozial vermittelbar, im Namen der von ihm hochgehaltenen "Eigensinnigkeit rechtlicher Entscheidungs- und Begründungszusammenhänge" auch derart motivierte Eingriffe für rechtlich unbedenklich zu erklären? Und wenn ja, was würden wohl ernsthaft religiöse Eltern dazu sagen, mit rechten Fanatikern in ein und dieselbe juristische Schublade gesteckt zu werden?

Als religiös allzu unmusikalisch erweist Fateh-Moghadam sich schließlich auch in seiner erwartungsgemäß zu einem verneinenden Ergebnis führenden Diskussion der Frage, ob der Straftatbestand der Bekenntnisbeschimpfung noch eine Berechtigung habe. Dem Vorschlag, diese Strafnorm mit dem Achtungsanspruch der Gläubigen zu rechtfertigen, die durch die Beschimpfung dessen, was ihnen heilig ist, angegriffen werden, hält er entgegen, dies privilegiere die religiösen Überzeugungen über Gebühr gegenüber anderweitigen Persönlichkeitsprägungen. Aber stehen "Kunst, Wissenschaft oder Leistungssport" wirklich auf derselben Ebene mit jenen umfassenden Selbst- und Weltdeutungen, denen sich viele Menschen, ob religiös oder nicht und wie schwankend und inkonsequent auch immer, in ihrem Gewissen verpflichtet fühlen? Zwar macht es einen erheblichen Unterschied, ob ich gesetzlich zu einer gewissenswidrigen Handlung genötigt werde oder ob ich lediglich dabei zusehen muss, wie ein anderer das mir Heilige beschimpft. Daher kann man durchaus zu dem Ergebnis gelangen, die letztgenannte Zumutung sei nicht so schwerwiegend, dass sie mit den Mitteln des Strafrechts unterbunden werden müsse. Aber mit Fateh-Moghadam so zu tun, als sei die wichtigste Eigenschaft eines aufgeklärten Menschen die Fähigkeit zur umfassenden und jederzeitigen Selbstdistanzierung, namentlich von dem, was ihm etwa noch an religiösen Überzeugungen geblieben ist, greift für den Rezensenten entschieden zu kurz.

Diese Bedenken sollen nicht einem einseitig Partei ergreifenden Staat das Wort reden. Damit der Staat, um eine von Fateh-Moghadam häufig zitierte Formel des Bundesverfassungsgerichts aufzugreifen, "Heimstatt aller Bürger" sein kann, muss er sie diskriminierungsfrei behandeln. Von ihm kann hingegen nicht verlangt werden, sich hinsichtlich der sozialen, kulturellen und anthropologischen Rahmenbedingungen des Rechts blind zu stellen, nur um einem rein formal verstandenen Neutralitätsgebot Genüge zu tun. Das von Fateh-Moghadam zugrunde gelegte Legitimationsmodell ist daher in seiner Klarheit und Geschlossenheit zwar eindrucksvoll, aber letztlich zu simpel.

MICHAEL PAWLIK.

Bijan Fateh-Moghadam: "Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Strafrechts". Zur strafrechtlichen Beobachtung religiöser Pluralität.

Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2019. 438 S., geb., 89,- [Euro].

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