Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
- Produktdetails
- Verlag: Herder Verlag GmbH
- Seitenzahl: 416
- Erscheinungstermin: 12.07.2016
- Deutsch
- ISBN-13: 9783495861028
- Artikelnr.: 45365709
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Chinesisch zu lernen mag mühsam sein, aber es lohnt sich: Rolf Elberfeld untersucht die Sprachen der Welt als Schatzkammer philosophischer Einsichten
Wer sich in einer fremden Sprache ausdrücken und bewegen kann, der entwickelt einen Sinn für den Charakter dieser Sprache. Und er spürt, dass die Vertrautheit mit ihr weit mehr bedeutet als die perfekte Beherrschung von Vokabeln und Grammatik. Andererseits erlebt er, dass es möglich ist, etwas aus der Welt der fremden Sprache in die eigene zu übertragen. Selbst unbeholfene Erzählungen, Übersetzungen und Interpretationen können Facetten einer fremden Welt sichtbar werden lassen und ungeahnte Impulse geben. Diese Erfahrungen verweisen auf zwei Qualitäten der Sprache, die scheinbar in einem Widerspruch stehen: Die erste Qualität ist die Eigenart, aus der sich eine spezifische Weltsicht ergibt, die typisch ist für die Sprache einer Kultur. Die zweite ist die lebendige Prozesshaftigkeit, aufgrund deren Sprachen sich in der Begegnung mit neuen Inhalten und Denkformen weiten und verändern können.
Es ist diese Spannung, die unmittelbar in den Blick kommt, wenn man über die philosophische Bedeutung der Vielfalt der Sprachen nachzudenken beginnt: Den Sinn für die Eigenart einer philosophischen Tradition zu entwickeln bedeutet auch, zu verstehen, dass deren Zeugnisse niemals vollkommen in eine andere Sprache übersetzt werden können. Und trotzdem waren und sind es Übersetzungen, die die Entwicklung einer Sprache und ihrer Kultur in vielfältiger Weise bereichern.
Die umfassende Rezeption griechischen Denkens im alten Rom, die lateinischen und griechischen Fassungen der hebräischen Bibel zur Zeit des Frühchristentums, die über tausend Jahre hinweg geleistete Übersetzungsarbeit der buddhistischen Sutren ins Chinesische oder auch die Übertragung der konfuzianischen Klassiker ins Lateinische zu Beginn der Aufklärung sind nur einige Beispiele von solchen Übertragungsprozessen, die das Gesicht einer Kultur tiefgreifend verändert haben.
Die Vielfalt der Sprachen und ihrer Wechselwirkungen ist somit ein Kennzeichen der philosophischen Entwicklungen der vergangenen 2500 Jahre, doch was bedeutet dies aus philosophischer Sicht? Als Antwort auf diese Frage hat nun Rolf Elberfeld mit seinem Buch "Sprache und Sprachen - eine philosophische Grundorientierung" ein Grundlagenwerk geschaffen, das erstmalig einen Überblick über die Geschichte, die Eigenart und die philosophische Bedeutung der Sprachen der Philosophie gibt.
Elberfeld beginnt seine Ausführungen mit einer kurzen Darstellung der Geschichte der Reflexion über die Vielfalt der Sprachen in Europa: Hierbei wird deutlich, dass dieses Nachdenken besonders im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert infolge der vielfältigen Begegnungen mit außereuropäischen Kulturen wichtige Anstöße erhielt. So war es vor allem Wilhelm von Humboldt, der in seinen Reflexionen über Denken und Sprache, über die philosophische Bedeutung der Vielfalt der Sprachen zu Ergebnissen gekommen ist, die bis heute als Orientierung für dieses Thema dienen können.
Aus diesem Grund macht der Autor Humboldts sprachphilosophische Reflexionen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. So kann er einen weiten Blick auf das Thema gewinnen, ohne einem Sprachrelativismus (eines Sapir oder Whorf) oder einem Sprachuniversalismus à la Chomsky das Wort zu reden. Weiterhin ergibt sich aus diesem Ansatz die Notwendigkeit, alle Sprachen, in denen philosophiert wurde und wird, miteinzubeziehen. In den Worten Elberfelds: "Philosophie kann zu Beginn des 21. Jahrhunderts weniger denn je auf die Diskurse in Europa und in Nordamerika beschränkt werden."
Elberfeld widmet sich den klassischen Sprachen, in denen - meist schon in der Antike - eine umfangreiche philosophische Literatur entstanden ist: Altgriechisch, Latein, Hebräisch, Sanskrit, Chinesisch und Japanisch. An ihnen lässt sich zeigen, auf welche Weise sie bestimmte Denkformen nahegelegt haben und wie sie sich durch die großen Begegnungen mit anderen Kulturen gewandelt haben.
Rolf Elberfeld macht im Verlauf seiner Untersuchungen deutlich, dass es gerade der Vergleich mit den asiatischen Traditionen ist, der erhellende Aufschlüsse ermöglicht. Am Chinesischen und Japanischen lässt sich zeigen, wie diese jeweils auf das philosophische Denken gewirkt haben. So hat etwa das Altchinesische die Tendenz, das Subjekt in einem Satz auszulassen. Hierdurch kommen in der sprachlichen Darstellung von Vollzügen und Kontexten andere Qualitäten in den Vordergrund, wie sie in der modernen Philosophie (vor allem bei Heidegger) neue sprachliche Entwicklungen angeregt haben.
Ein anderes Beispiel ist der verbale Charakter des Altchinesischen. Anders als in Sprachen, in denen der häufige Gebrauch von Nomina oder von substantivierten Ausdrücken die Betonung feststehender Qualitäten der Dinge nahelegt, werden im Altchinesischen viel eher Vollzüge und Prozesse zum Ausdruck gebracht. So sind die Grenzen zwischen Adjektiven und Verben fließend: Der Satz "Himmel - blau" (tianqing) kann als "der Himmel ist blau" oder der "Himmel blaut" verstanden werden. Es sind solche Eigenarten, die laut Elberfeld die Sprachen der Welt zu einem unermesslichen Schatz philosophischer Einsichten machen.
Als Resümee seiner Untersuchungen postuliert Elberfeld eine Erweiterung der Ausbildung an philosophischen Instituten um mindestens eine außereuropäische Sprache. Eine weitere Konsequenz, die sich aus den Überlegungen dieses Buches ergibt, ist die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Anerkennung und Förderung von Übersetzungen philosophischer Werke: Gerade weil der Mensch nicht alle Sprachen der Philosophie erlernen kann, werden gediegene Übersetzungen auch in Zukunft das wichtigste Medium der Begegnung mit fremden Traditionen sein. Dieser mühsamen Aufgabe kann man nicht dadurch aus dem Weg gehen, dass man die philosophische Arbeit auf das Englische reduziert: Wenn man die Veden und Kant, Konfuzius und Voltaire nur in Englisch lesen würde, so würde man weder die Eigenart ihrer Sprache noch die ihres Denkens je verstehen.
Als zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts Berichte, Briefe, philosophische und theologische Schriften aus China nach Europa gelangten, wurde ein großes Interesse an der Sprache geweckt: Die Entdeckung, dass sich eine philosophische Tradition in einer so grundlegend verschiedenen Sprache hatte entwickeln können, regte die besten Geister der Frühaufklärung zu Studien und Reflexionen über das Chinesische an. Eine Erfahrung, die auch heute jedem offensteht: Chinesisch zu lernen ist in vielfacher Hinsicht eine "Fremderfahrung". Es kostet Mühe, einen Sinn für die Eigenart des Chinesischen zu entwickeln. Hat man ihn erworben, so stellt man fest, wie schwer es ist, über diese Entwicklung Auskunft zu geben. Doch gleichzeitig eröffnen sich ungeahnte Perspektiven auf die Schönheit und den Reichtum der chinesischen Welt.
HENRIK JÄGER.
Rolf Elberfeld: "Sprache und Sprachen". Eine philosophische Grundorientierung.
Verlag Karl Alber, Freiburg 2012. 416 S., br., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main