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Stuart Halls Vermächtnis: Lebensgeschichte als Politik des Kulturellen Stuart Halls Autobiografie ist eine unverzichtbare Lektüre für alle, die sich mit den Themen Race, Identität, (Post-)Kolonialismus und Diaspora befassen. Hall schuf Denkwerkzeug aus Widersprüchen. Er gründete die Cultural Studies, um das Alltagsleben als umkämpften Ort sichtbar zu machen, an dem um die Köpfe und Herzen der Menschen gerungen wird. Er wurde einer der einflussreichsten Denker zu den Themen Ideologie, Identität und Repräsentation, Hegemonie, Medien- und Massenkultur. Halls Jugend in Jamaika, der Wechsel nach…mehr

Produktbeschreibung
Stuart Halls Vermächtnis: Lebensgeschichte als Politik des Kulturellen Stuart Halls Autobiografie ist eine unverzichtbare Lektüre für alle, die sich mit den Themen Race, Identität, (Post-)Kolonialismus und Diaspora befassen. Hall schuf Denkwerkzeug aus Widersprüchen. Er gründete die Cultural Studies, um das Alltagsleben als umkämpften Ort sichtbar zu machen, an dem um die Köpfe und Herzen der Menschen gerungen wird. Er wurde einer der einflussreichsten Denker zu den Themen Ideologie, Identität und Repräsentation, Hegemonie, Medien- und Massenkultur. Halls Jugend in Jamaika, der Wechsel nach England, das Studium in Oxford, die Aneignung von Literatur und Jazz, die Wurzeln seiner politischen Existenz, die politischen und kulturellen Entwicklungen im postkolonialen England: »Vertrauter Fremder« zeigt sein Leben zwischen zwei Inseln.
Autorenporträt
Stuart Hall, 1932 in Kingston (Jamaika) geboren, ab 1951 in England, war Cultural Studies-Mitbegründer und einer der führenden Kulturtheoretiker Großbritanniens. Bis 1997 Professor für Soziologie an der »Open University«, arbeitete er bis zu seinem Tod 2014 unermüdlich an aktuellen politischen Analysen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2020

Keine Identität ist garantiert

Von Empfindlichkeiten absehen können, ohne seine Empfindlichkeit zu leugnen: Die Autobiographie Stuart Halls, des Mitbegründers der "Cultural Studies", ist ein Wegweiser in den aktuellen Debatten über Rassismus.

Als Stuart Hall 1992 seinen Essay "The West and the Rest" veröffentlichte, hatte die Globalisierung die Welt noch nicht eng werden lassen. Südafrika war noch weit weg und hatte zudem gerade das Apartheidsregime überwunden, war also auf dem Weg in den Westen. New York war noch nicht zum Terrorkriegsschauplatz geworden, und afroamerikanische Basketballspielerinnen verließen noch nicht die Halle, wenn die amerikanische Nationalhymne gespielt wurde, wie sie es gerade bei der Eröffnung der neuen Saison der amerikanischen Profiliga getan haben. Sich bei der Hymne einfach nur hinzuknien würde nicht mehr ausreichen, um klarzumachen, dass der gängige Rassismus der amerikanischen Gesellschaft nicht mit ihrer Zustimmung rechnen könne, lautete der allgemeine Tenor der Basketballerinnen.

Mit Halls Worten hatte man es hier mit einer performativen Äußerung von Vertreterinnen des Rests der Welt in einem Zentrum des Westens, den Vereinigten Staaten von Amerika, zu tun. Hall wollte in seinem Aufsatz über den Westen und den Rest, dessen Titel schnell zum Slogan in den postkolonialen Diskursen wurde, aber nicht in den Kategorien von Herrschaft und Unterdrückung bleiben. Hall wollte auch dem Westen zeigen, dass er sich keinen Gefallen tut, wenn er seine eigene Heterogenität unter einem simplifizierenden Stereotyp vergräbt - auch wenn dieses Stereotyp aus Elementen besteht, die für sein Selbstverständnis und seine Hegemonie so wichtig sind wie der hohe Industrialisierungsgrad, die Marktwirtschaft, die säkularen Rechts- und Verwaltungssysteme und die städtische Kultur. Hall lässt den "Westen" mit Kolumbus beginnen, und er versteht darunter die von Europa ausgehende erfolgreiche Vereinnahmung und Angleichung der Welt, die zugleich eine Vereinfachung ist: Die verschiedenen Kulturen des Rests würden dadurch vereint, dass "sie alle vom Westen verschieden sind", so wie die Verschiedenheiten innerhalb des Westens dadurch normiert würden, dass "sie sich alle vom Rest unterscheiden". Und das sei es, was den Diskurs des "Westens und des Rests" so zerstörerisch mache - er treffe grobe und vereinfachte Unterscheidungen und konstruiere eine absolut vereinfachte Konzeption von "Differenz". Die auf Polarisierung und Spaltung abzielenden Vereinfachungen verschleierten nicht nur, wie tief unsere Historien und Kulturen stets miteinander verflochten waren und sich gegenseitig durchdrungen haben, sie leugneten auch, wie absolut nötig der Andere für unser eigenes Identitätsbewusstsein ist.

Was hier so abstrakt klingt, entstammt dem erfahrungsgesättigten Denken eines Kolonisierten, der von Jamaika aus nach Oxford zog, um in der Auseinandersetzung mit der klassischen englischen Literatur festzustellen, dass darin vieles Platz hatte, nur eine Erfahrung wie seine eigene nicht. Wobei der 1932 in Kingston geborene und 2014 in London gestorbene Stuart Hall erst in England zum Jamaikaner wurde. Nachlesen kann man die psycho-physische wie intellektuelle Entwicklung Halls in seiner dieses Jahr im Argument Verlag auf Deutsch erschienenen Autobiographie. Das Buch ist eine äußerst angenehm zu lesende Zusammenfassung von Halls Leben und Denken sowie seiner lebenslangen politischen Aktivitäten. Denn Hall, der als der wirkmächtigste Mitbegründer der "Cultural Studies" gelten kann, war nicht nur ein unermüdlicher akademischer und außerakademischer Hochschullehrer, sondern auch ein politischer Aktivist, der von der britischen Anti-Atom-Bewegung der 1950er Jahre bis zu den kleinsten karibischen Stadtteilfesten kein Engagement scheute.

Es ist famos, wie dieser Band es schafft, die immense, um nicht zu sagen: legendäre Freundlichkeit Halls in jedem Satz zu transportieren. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass das Buch aus sich über Jahre hinziehenden Gesprächen mit Halls Freund Bill Schwarz entstanden ist. Schwarz hat die Manuskripte der Gespräche dann in einen fließenden Text gebracht, der im ersten Teil Halls Jugend auf Jamaika zum Thema und im zweiten Teil Halls britisches Leben in seinen theoretischen wie praktischen Aspekten erörtert. In den Erzählungen wird dieses Leben in all seinen Facetten zu einem grundlegenden Wegweiser in die aktuellen Debatten um Kolonialismus, Rassismus und populistischen Nationalismus. Und wenn man will, kann man aus Halls Leben und Denken auch einen Ausweg aus den aktuellen Verhärtungen lesen. Hall selbst ist als Linker, der ständig an der Öffnung Marx'scher Theoreme zur Gegenwart hin arbeitete, von der ersten Denkanstrengung an vor allem von Linken angegriffen worden, und zwar selten höflich. Das begann schon während seiner Studienzeit in Oxford, wo er 1951 als Stipendiat begonnen hatte, englische Literatur zu studieren.

Die politische Praxis war für Hall und seine Mitstreiter immer auch ein Feld der Kultur, von kulturellen, literarischen und intellektuellen Fragen - im Unterschied zum klassischen Marxismus, der solche Themen allenfalls eine untergeordnete und abhängige Rolle spielen ließ. Wie richtig Hall lag, konnte er in einem seiner analytischen Glanzmomente zeigen. Vier Monate vor Margaret Thatchers Amtsantritt 1979 als Premierministerin hatte Hall in der Zeitschrift "Marxism Today" Thatchers Wahlkampf als eine von scheinbar unpolitischen Themen wie Kultur und Moral durchzogene Kampagne beschrieben, die gerade deshalb die Enttäuschungen großer Teile der Arbeiterklasse über die Bürokratie des Staats und die mangelnden alternativen Gesellschaftsentwürfe der Gewerkschaften aufgreifen konnte. Thatcher wurde dadurch für Hall zur historischen Persönlichkeit, und ihrem Politikstil gab er den Namen Thatcherismus. Von den Folgen dieser Niederlage hat sich die britische Linke nie mehr erholt, und auch die Episode New Labours unter Tony Blair analysierte Hall als eine Abteilung aus Thatchers Themenpark. Bezeichnend für Hall bleibt, dass er sich dennoch öffentlich nie von der Labour Party abwandte und damit seinem Credo treu blieb, dass man, wenn man politisch handlungsfähig bleiben wolle, von Idiosynkrasien absehen können müsse.

Von Überempfindlichkeiten absehen zu können heißt aber nie, seine Empfindlichkeit zu leugnen. Und mit der Empfindlichkeit ist man an dem Punkt angelangt, der Hall so aktuell macht: nämlich seiner Forderung nach einem differenzierten Begriff von Differenz. Differenzerfahrungen sind in Halls Denken die Voraussetzung für ihre Überschreitung zu einer wirklichen Universalität. Hall kannte sich damit auf allen Ebenen möglicher Erfahrung aus.

Er wurde 1932 in Kingston auf Jamaika in eine mittelständische Familie hineingeboren, in der sich britische, jamaikanische und portugiesisch-jüdische Wurzeln verbanden. Wie es der Zufall so wollte, war er in seiner Familie einer der schwärzesten. Seine Großmutter mütterlicherseits, selbst zum auffallend hellhäutigen Teil der Familie zählend, war eine Expertin in der Klassifizierung von "Races", die sich stets rühmte, die komplexe Genealogie der hellsten Jamaikanerinnen zu durchschauen, besonders wenn diese als Weiße durchzugehen versuchten. Wichtig ist hier, dass der Begriff der "Races" nur wenig mit unserem Rassebegriff zu tun hat und zum Beispiel von Jamaikanern auch zur Selbstbestimmung gebraucht wird. Was bei Hall aber so spielerisch klingt, hat einen grausamen Grund. Die hellere oder dunklere Tönung der Haut entschied in der Sklavenhaltergesellschaft darüber, ob man zum Hausdienst bestellt wurde oder sich auf den Feldern in sengender Hitze zu Tode schuften musste. Diese Vorgeschichte bestimmt die extreme Sensibilität für die Hautschattierungen vieler Sklavennachkommen bis in die heutige Zeit. Hall jedenfalls entwickelt eine äußerst differenzierte Wahrnehmung für die unterschiedlichen Blicke, die unterschiedliche Hauttypen ernten. Auch wenn ihm das intellektuelle Instrumentarium noch fehlte, seine Beobachtungen einzuordnen und zu analysieren, wurde er selbst "schwarz im Kopf". Regelmäßig wird er von Erstickungsanfällen heimgesucht. Diese Attacken lassen die Betroffenen nach Luft ringen und dabei in Panik verfallen. Ohne dass man eine physische Ursache dafür angeben könnte, bleiben sie doch real und können auch kurze Ohnmachten zur Folge haben. Hall hat sie später mit dem ewigen Kreisen der Familiengespräche um Hautfarbe, Races und Genealogien in Verbindung gebracht. Und obwohl er die Schule und die koloniale Erziehung als Weg aus der Enge der Familie empfindet, wird er seine Erstickungsangst nicht los.

Die Anfälle und seine stetige Angst vor der Erstickung lassen ihn in Jamaika nie ankommen und den Erwerb eines Rhodes-Stipendiums für ein Studium in Oxford als Befreiung empfinden. Es gehört zu seinen eindringlichsten Beschreibungen, wie er von seiner Ankunft in England nach der Überfahrt mit dem Schiff erzählt. In diesem Moment merkt er, dass er einer Gesellschaft entkommen ist, in die er sich nicht einfügen wollte, und am Eingangstor einer anderen Gesellschaft steht, in die er sich nicht einfügen können wird. Es ist ein Moment, in dem Halls Begriffe von Differenz und Identität zu keimen beginnen.

Hall gehört zu einer Generation von jungen gebildeten Mittelstandskindern, die in den vierziger und fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in Massen die Karibik verlassen, um in den Metropolen Englands und Frankreichs buchstäblich in die Moderne einzutreten. Was Hall hier realisiert, ist, dass die Marginalisierten sich nur bemerkbar machen können, wenn sie sich auf "etwas gründen". Und dieser Grund ist eine wie auch immer formulierte Identität. Zugleich aber wird ihm bewusst, dass Identität immer "etwas mit dem Wunsch nach Garantien zu tun hat" - und eben die gibt es nicht. Es gebe "keine politische Garantie, die bereits in einer Identität enthalten wäre", schreibt Hall in seinem Text "Alte und neue Identitäten". Was es aber gibt, sind Differenzen, die auf rutschig-gleitenden Ähnlichkeits- und Differenzsystemen hin und her geschoben werden, ohne dass sie jemals auf den Grund einer essenziellen Differenz zwischen Weiß und Schwarz oder zwischen dem Westen und dem Rest führen würden. Komplex bleibt die Erkenntnis einer verflochtenen, jeweils nur geschichtlich beschreibbaren differenzierten Differenz aber auch noch aus einem anderen Grund: Man kann das oder den Anderen auf diese Weise nicht ans Ende der Welt verbannen, sondern muss die gewordenen Unterschiede aushalten.

Auf den Migrantenschiffen gibt es neben denen, die in eine neue Welt eintreten wollen, viele, die "nur" deswegen nach England fahren, um Arbeit zu suchen. Für sie zu sprechen, will sich der Stipendiat nicht anmaßen, ihre Wünsche müssen sie selbst artikulieren. Dabei kann aber der Lehrer helfen, indem er den Zugang zur je eigenen Sprache öffnet.

Der Filmemacher John Akomfrah hat Hall einen 3-Kanal-Film gewidmet, in dem er die Landschaften des scheinbar idyllischen Strandjamaikas mit den grauen und tristen Industrielandschaften Englands kontrastiert. "The Unfinished Conversation" heißt der 2012, zwei Jahre vor Halls Tod erschienene Film. Der Titel spielt auf Halls Definition von Identität als einer endlosen, "stets unbeendeten Unterhaltung" an. Das ist mehr als ein Hinweis auf das immer dialogische Werden eines jeden Menschen. Unterhaltung kann im deutschen Doppelsinn eben auch die populäre Massenkultur sein, für deren Verstehen es aber laut Hall immer "einer Menge an theoretischer Arbeit" bedürfe. Einer solchen Arbeit bedarf es auch, um zu verstehen, dass Erstickungsanfälle auf Jamaika in den allgemeinen Erfahrungshaushalt eingehen können, wenn sie als solche von einem Jamaikaner beschrieben werden und nicht von einem Arzt oder Ethnologen aus Paris, London oder Wanne-Eickel - als Tropenkrankheit.

CORD RIECHELMANN

Stuart Hall: "Vertrauter Fremder. Ein Leben zwischen zwei Inseln". Übersetzt von Ronald Gutberlet. Argument Verlag, 302 Seiten, 36 Euro.

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