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Woher kommt der Zorn auf die "Eliten" in so vielen europäischen Ländern? Der preisgekrönte Fotograf Vincent Jarousseau hat in einer französischen Kleinstadt den Alltag von acht Paaren und Familien begleitet, die am unteren Rand der Gesellschaft zu überleben versuchen.

Produktbeschreibung
Woher kommt der Zorn auf die "Eliten" in so vielen europäischen Ländern? Der preisgekrönte Fotograf Vincent Jarousseau hat in einer französischen Kleinstadt den Alltag von acht Paaren und Familien begleitet, die am unteren Rand der Gesellschaft zu überleben versuchen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.05.2019

Jenseits von Macron
Vincent Jarousseau fotografiert die Wut der Provinz
Im Frühjahr 2016 hat Emmanuel Macron „En marche!“ gegründet, diese Bewegung, die eben nicht mehr Partei, sondern etwas viel Dynamischeres sein wollte, Aufbruch, los geht’s, wir alle zusammen auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Der Pariser Fotograf Vincent Jarousseau hat Macron beim Wort genommen und ist selbst aufgebrochen. Sozusagen in die Gegenrichtung, nach Denain, im Norden Frankreichs. Dort, wo seit 30 Jahren der totale Stillstand herrscht. Und wo die Menschen zugleich seit Jahren schon en marche sind, gezwungenermaßen, denn wenn die Arbeit verschwindet, dann muss man ihr eben hinterherfahren...
Denain war mal ein prosperierendes Städtchen, ein Stahlwerk garantierte in den „Trentes Glorieuses“ Aufschwung, Wohlstand, Vollbeschäftigung. Seit 1985, seit der Schließung der Fabrik, ist Denain mit den umliegenden Dörfern zu einer der ärmsten Gegenden Frankreichs verkommen. Jarousseau hat sich hier eingenistet, zwei Jahre lang, und eine Art Langzeitbelichtung unternommen: Er hat mit den Leuten, die geblieben sind (knapp ein Drittel ist seit 1985 weggezogen), den Alltag geteilt, sie zu den Behörden und zum Einkaufen begleitet, ihren Arbeitsweg oder bei einer Familie sogar den Jahresurlaub dokumentiert (sechs Tage Camping, eine Stunde von Denain entfernt).
Mit „Les Racines de la colère“ hat Jarousseau ein neues Genre erfunden, den dokumentarischen Fotoroman, der an die Bravo-Lovestorys aus den Achtzigerjahren erinnert. Was dem Buch von Anfang an eine bittere Note gibt, denn statt hormonseliger Liebespaare werden hier Familien porträtiert, die vom 15. des Monats an nicht mehr wissen, wie sie die Kinder sattkriegen sollen. Außerdem ist hier, anders als in Fotoromanen, nichts erfunden, im Gegenteil, alles wurde genau so gesagt. Jarousseau hat alle Gespräche aufgenommen und den Protagonisten ihre Sätze am Ende zur Autorisierung vorgelegt.
Das Buch sollte jeder lesen, der sich noch darüber wundert, dass Marine le Pen und ihr Rassemblement National bei den Europawahlen ihre Erfolge der letzten Jahre haben konsolidieren können. Denn es zeigt anhand der Lebensgeschichten seiner acht Protagonisten, dass das Gefühl des Vergessenseins in Denain mittlerweile längst transgenerational ist und bei jedem Familientreffen so selbstverständlich miterzählt wird, als sei dieser Mix aus Frustration, Hilflosigkeit und echter Not ohnehin die gemeinsame tristgraue Gefühlstapete.
Da ist Auréline, die Tochter von Manu, die keine Freundinnen zu sich einladen darf, weil sich die Mutter so für die enge Wohnung schämt und die eigentlich noch nie außerhalb des Départements war. Michaël, der mit seinem Lkw jede Nacht 700 Kilometer fährt. Oder Adrien, der 31-jährige Bauarbeiter, den man hier sieht. Er hat eine Tochter und arbeitet, genau wie sein Vater, auf Großbaustellen. Früher waren die in der Gegend von Denain. Heute folgt der Fotograf Jarousseau dem Bauarbeiter Adrien bis nach Paris, in Pendlerzügen, dann Tram und Bus. Natürlich ist er en marche, vier Stunden einfache Fahrt jedes Wochenende, unter der Woche zwei Stunden, man muss agil und flexibel sein im Frankreich von Macron.
Die Texte der hier abgebildeten Seite lauten: 1) Adrien kehrt nach Vitry-sur-Seine im Département Val-de-Marne zurück, wo er ein Zimmer in einem Arbeiterheim mietet. 2) Von der Baustelle zur Pension braucht er rund eine Stunde. 3) „Ich teile mir dieses Zimmer zu 40 Euro mit einem Kollegen unserer Firma Eiffage. Momentan passt das gut, er arbeitet nachts.“
4) „Ich bin so kaputt von meinem Tag, dass ich abends schnell einschlafe. Morgen steh ich um 5.30 Uhr auf.“
Alle schuften sie einsam vor sich hin, Gewerkschaften scheint es längst nicht mehr zu geben, nur Beton, Leerstand und Ausfallstraßen, abends die X-Box und 1500 Euro im Monat. „Ich wähl’ Marine“, sagt einer von ihnen, während er nachts Brot ausfährt, 25 Dörfer, zehn Euro die Stunde, „Macron ist gegen uns.“ Es wird verdammt schwer werden für die bürgerlichen Parteien, in diesen soziologischen Waste Lands wieder Fuß zu fassen.
Am Ende des Buches stehen Adrien und Michaël beide mit gelben Westen an einem zugigen Roundabout und scheinen das erste Mal in ihrem Leben so etwas wie Selbstermächtigung zu spüren. Man kann nur hoffen, dass irgendein deutscher Verlag den Mut und Scharfblick hat, dieses kleine Dokument einer großen europäischen Krise ins Deutsche zu übersetzen.
ALEX RÜHLE
Vincent Jarousseau: Les Racines de la colère. Les Arènes, Paris 2019. 170 Seiten, 22 Euro.
Es gibt nur Beton, Leerstand und
Ausfallstraßen, abends die
X-Box und 1500 Euro im Monat
Fotos: Jarousseau / Les Arenes 
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